Kitabı oku: «Deine Zeit läuft ab», sayfa 2

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Aber ohne Kaffee ging bei Palmer gar nichts. Wenn er auch keinen Kater vertrieb, immerhin weckte Kaffee den Geist. So behalf sie sich heute mit einem Schwarzteebeutel, den sie vorhin in einer Schublade aufgestöbert hatte. Sie warf ihn in eine Henkeltasse, füllte kaltes Wasser ein, stellte die Tasse in die Mikrowelle und wartete mit wippendem Fuß. Wie üblich stoppte sie das Gerät bei zwei, kurz bevor der Timer ganz runtergezählt hatte, und fühlte sich, als wäre es ihr gelungen, gerade eben noch eine Bombe zu entschärfen. Vorsichtig hob sie die dampfende Tasse heraus und an die Nase. Sie schnaubte angewidert, das Getränk roch nach vier Jahren Küchenschrank, also kippte sie es dem guten alten Johnny hinterher in den Ausguss. Sie warf einen Blick auf die Uhr und dann Richtung Wohnzimmer, aber die Entscheidung war bereits gefallen. Ein Frühstück und vor allem Kaffee am Bahnhofplatz waren es wert, sich aus der Wohnung zu quälen. Danach konnte sie noch das Nötigste einkaufen, was ihr sicher helfen würde, die üblen Gedanken an das gestrige Einstellungsgespräch zu vergessen.

Der Fußmarsch dem Seeufer entlang zum Bahnhofplatz tat ihr gut. Der Geruch von algenbedeckten Steinen und Wasser, vermischt mit der leicht feuchten, herrlich frischen Luft klärte ihren Geist, und die Bewegung baute spürbar die Stresshormone in ihrem Körper ab. Einfach mal eine Weile Abstand von der Tristesse ihrer Wohnung, in der leere Flaschen davon zeugten, dass sie nichts auf die Reihe bekam – ja, das würde ihr guttun. Vielleicht würden ihr so ganz neue Ideen kommen.

Ihre Laune hatte sich deutlich gebessert, als sie sich kurz darauf in der Morgensonne an einen der Bistrotische setzte, die alle schön an der Fassade entlang aufgereiht standen, zur Straße hin ausgerichtet wie zu einer Bühne.

Sie kannte die Bedienung seit Jahren, erhielt deshalb den Espresso bereits serviert, kaum hatte sie sich hingesetzt, unerwarteterweise jedoch begleitet von der Bemerkung, die Haselnussschnecke gehe heute aufs Haus. Palmer nickte zum Dank und lächelte zum ersten Mal an diesem Morgen.

Sie lehnte sich zurück und zog den geliebten Duft frisch gebrühten Kaffees ein. Anschließend gab sie sich mit geschlossenen Lidern den Sonnenstrahlen hin und gönnte sich bereits mit dem zweiten Bissen das saftige Herz der Haselnussspirale. In diesem Boulevardcafé liebte sie das hektische Treiben vor ihrer Nase. Menschen, die in Wellen aus dem Bahnhof schwappten oder in ihren Wagen über den Platz schossen. Welch ein augenfälliger Kontrast zum gemächlichen Umfeld ihrer Wohnung im Bootshaus des Ruderklubs.

Ein Schatten schob sich vor sie und nahm ihr die Sonne. Palmer hob den Kopf in der Annahme, die Bedienung wäre zurückgekommen, aber dem war nicht so. Sie blinzelte.

»Sie müssen mir helfen«, flehte die unbekannte Frau, die Palmer im Gegenlicht nur schemenhaft erkennen konnte.

»Hallo, die Lady. Danke gut, und Ihnen?« Palmer gönnte sich einen Schluck Espresso und stellte die Tasse auf den Teller zurück.

»Dieser Schweinehund will meine Schwester umbringen.«

Auf dem Weg zum Mund verharrte Palmers Schnecke in der Luft.

»Bedaure, dies zu vernehmen. Aber für Probleme dieser Art ist die Polizei zuständig.« Palmer schob sich den Rest des Gebäcks in den Mund, leckte sich die klebrige Glasur von den Fingern und wischte sich diese an der Innenseite des Hosenbeins trocken, da die Serviette vorher bei einem Windstoß davongeflattert war.

»Das interessiert die Polizei doch gar nicht. Gestern hat mir der Einsatzleiter auf der Hauptwache kurz zugehört und versichert, sie würden in alle Richtungen ermitteln. Heute aber hat er mich nur abgewimmelt. Die sind mit ihren Nachforschungen noch keinen Millimeter weiter.«

»Gute Dame. Will jemand Ihre Schwester umbringen, sind Sie bei mir sicher an der falschen Adresse. Ich bin Warenhausdetektivin.«

Gut, sie wäre eine Warenhausdetektivin gewesen, hätte der Depp mit Anzug und Superman-Haarlocke sie gestern nicht um den fast sicheren neuen Job gebracht. Palmer unterdrückte den Impuls, ihre nun leicht schwitzigen Handflächen nochmals an der Hose abzuwischen.

»Jeder kennt Sie hier. Sie sind Palmer, Sie unterstützen Frauen in Not, wenn ihnen sonst niemand hilft. Die Zeitungen waren voll davon. Mehr als einmal. Durch Rumfragen weiß ich, Sie trinken fast jeden Morgen Ihren Espresso hier.«

»Genau das ist der Punkt. Wiederholt habe ich mich eingemischt und bin dabei fast draufgegangen.« Sie sah der Frau in die Augen. »Nein. Bei allem Verständnis für Ihre Notlage. Ich lasse mich nicht nochmals in irgendeinen traurigen Mist reinziehen, der mich eigentlich nichts angeht. Sie entschuldigen.«

»Sie sind vorsichtig, das verstehe ich.«

Palmer schwieg.

»Aber Sie werden mich nicht los. Ich weiß, Sie werden mir helfen.«

»Sorry, habe leider keine Zeit. Ich muss mir dringend eine neue Arbeitsstelle suchen.«

»Kein Job? Dann haben Sie erst recht Zeit, mir zu helfen. Aus Zeitungsinterviews kenne ich Ihren Ehrenkodex. Sie können einer Frau in Not Ihre Hilfe nicht abschlagen.«

»Sie wissen gar nichts. Ich stecke selber in der Scheiße.« Sie rückte mit dem Stuhl etwas zur Seite und streckte mit geschlossenen Augen das Gesicht in die wärmende Sonne. Als Palmer nach einer Weile die Augen wieder öffnete, stand die Frau noch immer da.

»Sie werden mich nicht los. Das sagte ich doch.«

»Sie stehen da und wollen was von mir, ich weiß nicht mal, was. Aber zwei Dinge weiß ich: Mir dröhnt der Kopf, und seit Sie mich angesprochen haben, wird es schlimmer.«

»Ich heisse Hannah. Hannah Bischof. Ich benötige Ihre Hilfe. Bitte.«

Palmer neigte sich auf ihrem Stuhl nach vorne, um die Frau besser im Blick zu haben. Sie ging auf die 40 zu, wies einen verbitterten Zug um die Mundwinkel auf und Ringe unter den grünen Augen, die aber leuchteten vor Entschlossenheit. Palmer wusste, jede Enttäuschung hinterließ ihre Spuren, und diese Frau sah aus, als hätte sie zahlreiche davon durchlebt. Sie musste etwas kleiner sein als Palmer und halbwegs schlank. Alle Rundungen saßen an den richtigen Stellen, soweit Palmer dies erkennen konnte, denn Hannah trug ein weites, knöchellanges graues Kleid mit roten Blumen drauf, dazu Ledersandalen, von Make-up keine Spur. Der Pagenschnitt ihres dunklen Haars wirkte etwas aus der Mode gekommen, darin zeigte sich das erste Grau.

Hannah machte einen Schritt zur Seite und trat Palmer wieder in die Sonne.

»Gestern haben Kriminelle die Party des Uhrenhändlers Diethelm überfallen. Dabei ist eine Kellnerin niedergeschossen worden. Susa, meine Schwester. Sie liegt im Koma. Die Polizei ist der Ansicht, der Schuss hätte Susa nur versehentlich getroffen. Aber Diethelm, dieser Schweinehund …«, sie lachte abschätzig, »… ich sage Ihnen, das war Absicht.« Ohne ein Wort der Zustimmung oder Aufforderung von Palmer abzuwarten, schob sie sich auf den zweiten Stuhl an Palmers Tisch. »Der ist kein Lämmchen. Fragen Sie mal seine zweite Ex-Frau.«

Palmer hätte gerne wissen wollen, ob es Hannah gewesen war, die heute Morgen bei ihr geklingelt und sie geweckt hatte. Aber sie ließ es bleiben. Ändern konnte sie es eh nicht mehr.

»Hören Sie, das mit Ihrer Schwester tut mir leid. Trotzdem muss ich auf die Polizei verweisen. Eine Frage trotzdem: Wie kommen Sie darauf, Diethelm hätte Ihre Schwester mit Absicht niedergestreckt? Die Medien haben das anders dargestellt. Der Schuss habe sich im Kampf um die Waffe gelöst.« Sogleich hätte sich Palmer ohrfeigen können. Mit dieser simplen Frage hatte sie sich aktiv ins Gespräch eingeklinkt. Nun, sie würde der Frau einige Momente lang ihr Ohr schenken und dann die Unterhaltung anständig beenden.

»Erst hat er meine Schwester geschwängert, dann hat er sie versetzt. Seither ist sie nicht mehr an ihn herangekommen. Er hat jedes Treffen verweigert. Auch will dieser reiche Schweinehund für seinen Sohn keinen Rappen zahlen. Genügend Geld hätte er ja. Und die besten Anwälte. Er sitzt am längeren Hebel, Susa ist zu unbedeutend. Ein Kampf von David gegen Goliath.«

»Um sie tatsächlich mit Absicht abzuknallen, wie hatte er wissen können, auf dieser Party Susa anzutreffen? Eben noch haben Sie gesagt, er wäre ihr strikt aus dem Weg gegangen. Für mich nicht stichhaltig. Und weshalb hätte er sie umnieten sollen? Wenn er für den Sohn nicht zahlen will, müsste er nicht die Mutter, sondern den Sohn umbringen. Aber dann vor all seinen Gästen als Zeugen? Und ins Gefängnis marschieren, nur um keine Alimente zu zahlen? Nein. Glaube ich nicht.«

»Helfen Sie mir, Susa zu beschützen. Diethelm wird den Mordversuch wiederholen. Vorausgesetzt, sie überlebt die Schussverletzung.« Sie biss sich auf die Unterlippe und kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Weshalb glaubt mir keiner? Ich bin heute wieder zum Krankenhaus gefahren. Man hat mich nicht zu ihr vorgelassen, sie ist noch immer nicht aufgewacht.« Ein Schluchzen kam aus ihrer Kehle, und Palmer wusste, dass ihre Mauer gleich massiv bröckeln würde. »Und vor der Tür steht nicht mal ein Wachmann. Dabei gibt es doch sicher eine Videoüberwachung, die meine Darstellung bestätigt. Ich sage Ihnen, der wollte sie töten.«

Palmer schloss kurz die Augen.

Großartig.

»Nenn mich Palmer, ich sag’ Hannah.« Sachte legte sie ihre Hand auf Hannahs Unterarm und tätschelte ihn. »Reden tut gut. Aber Hilfe musst du bei der Polizei anfordern.«

Hannah atmete kurz und stoßweise.

»Solange die Polizei keine Indizien für deine Anschuldigungen findet, kannst du von ihr nicht erwarten dazwischenzufahren.«

Mit Daumen und Zeigefinger kniff Hannah die Nasenwurzel zusammen. »Nein, nein, nein«, sagte sie flehend vor sich hin. »Susa hat damals auf Diethelm gesetzt, einen Mann. Was ist dabei herausgekommen? Er hat sie verarscht. Du bist Palmer, du bist eine Frau, die Frauen hilft. Wenn ich auf der Wache aussage, sehe ich schon ihre Gesichter vor mir. Wieder so eine Hysterische, die sich was einbildet. Ja, ich kann hören, was sie denken. Die Männer. Ich werde alles tun, damit Susa überlebt. Und auch Lenny. Er ist 17 und leidet unter einem Vitium Cordis.«

»Was ist das denn?«

»Das ist einer der vielen Wege Gottes, uns zu zeigen, wie sehr er die Menschen liebt.« Sie lachte kurz, es klang fast wie ein Husten. »Lenny leidet an einem angeborenen Herzfehler. Sein Herz-Kreislauf-System ist in seiner Funktion eigeschränkt, versorgt den Körper nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff. Seit Geburt schwächelt er. Ständig ist er müde, jede Tätigkeit ist ihm zu anstrengend. In den letzten Jahren hat sich sein Zustand stetig verschlechtert. Jetzt ist er sogar ans Bett gefesselt. An den meisten Tagen schafft er es nicht mal bis zur Toilette. Und dann hat er überdies noch diese seltene Blutgruppe. Kriegt er nicht bald ein Spenderherz, stirbt er.« Sie krallte die Finger in ihr Kleid und ließ den Kopf sinken.

Eine Sache begriff Palmer nicht, aber gerade als sie Hannah fragen wollte, brüllte ein Motorrad so ohrenbetäubend vorbei, dass sie erst einige Augenblicke warten musste.

»Wieso hat sie Diethelm auf der Party besucht? Der widmet doch seine Zeit dort erst recht nicht Susa, wenn er mit ihr auf Kriegsfuß steht.«

»Susa hat über Jahre erfolglos seine Hilfe erfleht. Er ist seit Lennys Geburt jeglichem Kontakt ausgewichen, Susa ist einfach nicht an ihn herangekommen.« Sie rieb sich die Augen, aber Palmer konnte die Tränen sehen, die sofort nachströmten. »Lenny benötigt dringend diese Herzoperation. Dafür hat sie ihn inständig um Geld bitten wollen.« Hannah schüttelte energisch den Kopf und rang sichtlich um Fassung. »Nein. Zufall war das nicht. Nach Jahren trifft sie das erste Mal auf Diethelm, und er schießt sie gleich über den Haufen. Susa war so verzweifelt und am Rande ihrer Kräfte, dass sie keinen anderen Weg mehr gesehen hat, als sich Geld von ihm zu beschaffen, auf Biegen und Brechen. Ihr als Alleinerziehender fehlen jegliche Mittel. Susa hat Diethelm schließlich nicht gebeten, eine Niere oder so zu spenden.«

»Wenn Susa im Krankenhaus liegt, wer sorgt denn jetzt für Lenny?«

»Die beiden sind schon vor Längerem bei mir eingezogen. Wir haben ein Bett für Lenny in mein Arbeitszimmer gestellt, Susa nimmt das Sofa. Früher hat Susa in einem Restaurant bedient, heute arbeitet sie nur noch Teilzeit in einer Kita, um sich intensiver um Lenny kümmern zu können. Ihr Geld reicht schon lange nicht mehr für eine eigene Wohnung. Wohl oder übel sorge ich jetzt vermehrt für meinen Neffen.«

»Selber hast du keine Kinder?«, fragte Palmer, um sich etwas vom Thema zu lösen.

»Das fehlte gerade noch. Kinder sind bloß ein Mittel der Männer, Frauen in die Abhängigkeit zu drängen. Nein, Lenny reicht mir.«

Palmer schob das Geld für den Kaffee neben die Tasse, und während sie sich die Sonnenbrille auf der Nase zurechtrückte, erhob sie sich.

»Hannah, hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Ich hoffe, das kommt zu einem guten Ende mit deiner Schwester. Leider muss ich jetzt los, einige Einkäufe erledigen.«

»Wir haben denselben Weg.«

Palmer wunderte sich, da Hannah gar nicht wissen konnte, welche Richtung sie einschlagen würde. Als sie aufbrach, trippelte Hannah wie selbstverständlich neben Palmer her.

Ein heftiger Windstoß zerzauste Hannahs Frisur, während laut vernehmbar die Titelmelodie von Star Wars ertönte. Hannah riss die Augen auf und blieb schlagartig stehen.

»Warte«, meinte sie zu Palmer, die jedoch unbeirrt weitermarschierte. Im Hinterherstolpern kramte Hannah umständlich das Handy aus ihrer Strohtasche. »Lenny?« Geschockt starrte sie zu Palmer. »Scheiße, nein, Lenny!« Hannah rannte los. »Komm mit«, schrie sie Palmer zu.

3

»Was ist passiert?« Als Palmer Hannah fragte, blickte sie bloß in ein panisch verzerrtes Gesicht.

Die beiden hetzten die stark befahrene Straße hoch und überquerten den Pilatusplatz bei Rot. Palmer stockte der Atem, als eines der Fahrzeuge mit quietschenden Reifen knapp vor ihnen zum Stillstand kam.

Sie bogen rechts in die Zähringerstraße ein und eilten zwischen den Wohnhäusern und den geparkten Fahrzeugen vorwärts, während Hannah es schaffte, im Spurt die Schlüssel aus ihrer Tasche zu fischen.

Als sie das Treppenhaus betraten, schlug ihnen eine angenehme Kühle entgegen, und das Licht ging automatisch an. Ein starker Geruch nach Kernseife kitzelte Palmers Nase, als sie hinter Hannah in den zweiten Stock hoch hastete. Die Wohnungstür schlug scheppernd an die Wand, dann stürmte Hannah in Lennys Zimmer. Hier lag der Junge, drückte sich mit weit aufgerissenen Augen die Sauerstoffmaske auf Mund und Nase und füllte seine Lungen so hastig und tief er konnte.

»Ich rufe den Notarzt!« Hannah fingerte nach ihrem Handy und ließ es dabei fallen.

»Ich mache das.« Palmer hatte ihr Telefon schon in der Hand und entsperrte es, als sie sah, wie der Junge schwach die Hand hob und ein Zeichen gab. Nach einigen Atemzügen sank Lennys Arm ermattet auf die Decke, und die Gummimaske rutschte aufs Kissen. Völlig entkräftet bewegten sich einzig seine Augen in Richtung von Hannah, die sich bleich an der Wand abstützte.

»Hast du Schokoladeeis mitgebracht?« Lennys Lippen formten sich zu einem erschöpften Lächeln.

Hannah schluchzte auf und ließ sich auf die Bettkante sinken. Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihr Brustkorb bebte. Jetzt küsste sie den Jungen auf die Stirn und legte schließlich ihren Kopf auf seine Brust.

»Zu viel Zucker in Schokoladeneis, weder vegan noch laktosefrei.« Mit dem Unterarm wischte sie sich die Wange trocken, während Lenny die Augen verdrehte, zu Palmer blickte und mit den Schultern zuckte.

»Schokolade gewinnt man aus der Kakaobohne, ist also praktisch ein Gemüse«, belehrte er Hannah. »Und keiner isst mehr Schokolade als die Schweizer, trotzdem hat keiner einen niedrigeren Body-Mass-Index, und keiner wird älter in ganz Europa.«

Kluges Kerlchen, dachte Palmer und nickte Lenny zu.

»Trinkst du nicht lieber ein Bier?«, fragte Palmer.

Aber Lenny sah schüchtern weg, bevor er ihr Lächeln erwiderte. Dafür hob Hannah entsetzt den Kopf.

»Lenny ist 17.«

»Eben.« Palmer neigte ihren Oberkörper zu Lenny und tätschelte dessen Arm. »Hallo, ich bin Palmer. Du brauchst also ein neues Herz.«

Lenny hob seine Hand leicht an, was Palmer als Aufforderung auffasste, sie zu drücken.

Der junge Mann tat Palmer leid, wie er da ans Bett gefesselt lag, bei lebendigem Leib gefangen.

Sie schwiegen die nächsten Momente, und Palmer fragte sich, in welche Geschichte sie sich hier hatte hineinziehen lassen. Immerhin hatte sie dank Hannah ihre eigenen Probleme für einige Minuten vergessen.

Noch während sie ihren Blick nicht von der erbärmlichen Gestalt und dem durchsichtigen Plastikschlauch lösen konnte, legte sich plötzlich ein strahlendes Lächeln auf Lennys Gesicht. Dabei stellte er auffallend gleichmäßige Zahnreihen zur Schau, während sich seine dunkelblonden schulterlangen Haare wie hingeworfen auf dem Kissen ausbreiteten. Sie waren so lang gewachsen, dass er wohl ständig den Kopf mit einem Ruck zur Seite schleudern musste, um etwas zu sehen.

Die Sonne spiegelte sich im offenstehenden Fenster und beleuchtete sein bleiches Gesicht. Fragend hob er die hellen Augenbrauen und blickte mit seinen wachsamen Augen, eher blau als grau, zu Palmer.

Ein bemitleidenswerter, aber hübscher Junge, dachte Palmer wenn auch etwas gebrechlich, jedenfalls scheint er größer und erwachsener als erwartet.

Palmer erkannte bereits Falten in seinen Mundwinkeln, zu tief für einen 17-Jährigen, und in seinen Augen lag die merkwürdige Mischung aus langem Leid und dadurch früh erworbener Reife.

Ein Bein seiner verwaschenen Trainingshose war nach oben verrutscht und ließ seine knallrote Socke hervorblitzen. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit Darth Vader-Aufdruck.

»Schokoladeeis also?«, fragte Hannah und herzte ihn. »So schnell änderst du also deine Meinung. Gestern erst hast du noch einen anderen wichtigsten Wunsch gehabt.«

»Please.« Lenny grinste etwas schmerzlich.

»17 und noch ungeküsst.«

»Doppelplease«, entfuhr es ihm, dabei schlug er zärtlich, aber kraftlos mit dem Handrücken gegen Hannahs Arm, und ein schwaches Lächeln kräuselte seine Lippen.

»Wenn du immer sofort zuschlägst, dann wird das nie was mit einer Freundin.« Sie strich ihm die Strähne aus dem Gesicht. »Dann endest du missgelaunt und griesgrämig.«

»So wie du?«, entgegnete Lenny. Aber sogleich schien ihm diese Spitze sichtlich leidzutun und er legte seine Hand auf Hannahs Arm. »Liebend gerne hätte ich jemandem mein Herz geschenkt.« Er zuckte mit den Schultern, dann las er aus Palmers Gesichtsausdruck, dass sie die Ironie in seinen Worten verstanden hatte. Aber gleich verfinsterten sich seine Züge.

»Wie geht’s Nasus?«

»Unverändert ernst. Bis vor einer halben Stunde ist sie noch nicht zu Bewusstsein gekommen.«

Tränen traten ihm in die Augen, und seine Unterlippe zitterte. Zärtlich strich Hannah über seine Wange.

»Nasus?« Palmer blickte zu Hannah. »Vorhin hast du deine Schwester noch Susa genannt.«

»Lenny nennt meine Schwester Nasus. Du musst wissen, unser Vater war ein Spaßvogel. Meine Schwester hat er Anna-Susanna getauft und mich Hannah. Du kannst dir vorstellen, wie praktisch.«

»Beides Palindrome.« Palmer nickte anerkennend. »Vorwärts und rückwärts gleich geschrieben.«

Vor Erstaunen bekam Hannah den Mund nicht zu.

»Du kennst sogar den Fachbegriff?« Einen Moment lang behielt Hannah ihren verdutzten Gesichtsausdruck.

»Mein Großvater hatte eine Schwäche für Palindrome«, erklärte Lenny mit schwacher Stimme, bevor er sich die Atemmaske noch einmal auf Mund und Nase drückte für einen tiefen Zug reinen Sauerstoffs. »Er ist aufgewachsen oberhalb von Brienz, auf der Planalp, selber schon ein Palindrom. Einen Traktor hatten sie damals keinen, sondern ein Reittier. Merkst du was?« Er lächelte stolz. »Und weißt du, mit welchem Job er seine Familie durchgebracht hat? Er hat bei einem Discounter das Regallager betreut.«

Auch jetzt brauchte Palmer keine Sekunde, um den Ulk zu durchschauen. Sie wandte sich an Hannah.

»Lenny benötigt also ein Spenderherz. Aber die Chancen, eins zu kriegen, sind verschwindend gering wegen seiner äußerst seltenen Blutgruppe?«

Aber Hannah schüttelte den Kopf, als weckte sie sich aus fernen Gedanken.

»Frag Lenny, ein richtiger Experte. Ich rufe mal im Krankenhaus an. Vielleicht gibt’s gute Nachrichten.« Sie erhob sich und schritt hinaus.

»AB negativ – diese verdammt seltene Blutgruppe ist das Einzige, was ich von meinem Vater habe. Um ein Herz zu verpflanzen, muss der Empfänger zwingend dieselbe Blutgruppe aufweisen, sonst funktioniert das nicht.« Lenny lächelte bitter. »Bevor man ein Spenderherz überhaupt zum Empfänger fliegt, prüft man, ob damit alles in Ordnung ist. Um keine Zeit zu verlieren, errechnet das Computersystem bei Eurotransplant in den Niederlanden, für wen dieses Organ passt und wer auf der Warteliste dieses Herz am allerdringendsten benötigt. Für die ganze Untersuchung und den anschließenden Transport bleiben insgesamt nur vier Stunden. Spender und Herz dürfen also nicht allzu weit voneinander entfernt sein. Darüber hinaus müssen Größe und Gewicht des Empfängers in etwa mit denen des Spenders übereinstimmen, denn das Herz musste bereits beim Spender gewohnt sein, die beim Empfänger benötigte Leistung zu erbringen.« Er atmete einige Male tief durch. »Auch muss der Empfänger genau jetzt soweit gesund sein, sonst wird ihm das Herz nicht einpflanzt. Macht er beispielsweise grad an einer Lungenentzündung rum, kriegt ein anderer dieses Organ.«

»Obwohl da einer vielleicht schon Monate oder Jahre drauf wartet?«

Ermattet schloss Lenny die Augen und gab sich einige Sekunden, bevor er fortfuhr.

»Ja. Das Herz geht nicht nur zum Patienten mit der höchsten Dringlichkeit, sondern auch zu dem mit der größten Überlebenschance. Kämpft ein Patient noch gegen eine andere Krankheit, ist sein Körper eh schon angeschlagen und übersteht die Transplantation schlechter als ein ansonsten Gesunder. Weiter musst du wissen, jeder Mensch hat ein Immunsystem, das den Körper vor fremden Eindringlingen wie Viren und Bakterien schützt. Deshalb will dieses Abwehrsystem das eingepflanzte Organ abstoßen. Folglich muss der Empfänger ein Leben lang Medikamente schlucken, um das Immunsystem zu unterdrücken, damit es das Organ nicht sofort bekämpft.«

Er sah Palmer eindringlich an. Als sie wortlos nickte, fuhr er fort. »Was die Blutgruppe betrifft, ist hier die Gefahr der Abstoßung am größten. Die Blutgruppe muss dieselbe sein.«

Er tastete nach der Sauerstoffmaske und nahm einige Züge. Als er fortfuhr, vernahm Palmer in seiner Stimme einen gereizten Zug. »Da es innerhalb aller Blutgruppen zu wenige Spenderherzen gibt, habe ich erst recht keine Hoffnung mehr, dass irgendwo ein Mensch mit meinem seltenen Blut mir eine passende Pumpe spendet.«

Mit seinen Fingern trommelte er auf die Decke. »Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Bald sterbe ich.«

Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von der Oberlippe. »Nur ein Prozent der Menschen hat meine Blutgruppe. Das heißt, nur ein Prozent aller gespendeten Herzen kommt für mich überhaupt infrage.«

Seine Hand schlug auf die Decke, der Mund nahm verhärtete Züge an. »Die Schweizer sind nicht gerade spendierfreudig. Nur wenige füllen das Spenderformular aus. Und ich liege blöd hier rum und vergeude meine Zeit. Dabei wüsste ich viel Besseres zu tun.«

Er holte Luft und fuhr dann wesentlich ruhiger fort. »Interessanterweise hat der Mangel an Spenderherzen auch noch andere Gründe. Die Verkehrssicherheit nimmt zu, dadurch gibt es einfach zu wenige Tote auf der Straße.« Er nahm einen tiefen Zug reinen Sauerstoffs. »Weißt du, der Gedanke, dass erst einer sterben muss, damit ich überleben kann, hat mich zu Beginn enorm belastet. Noch heute leide ich mit all den Angehörigen, die jeweils einen Menschen verlieren.« Er bedachte Palmer mit einem langen Blick. »Von Zeit zu Zeit habe ich Phasen, da bin ich mir nicht mal sicher, ob ich überhaupt ein fremdes Herz will. Aber dann spüre ich große Dankbarkeit all den Spendern gegenüber, die ihre Entscheidung getroffen haben und ihr Herz nach dem Tod einem anderen Menschen überlassen und ihnen helfen, weiterzuleben. Ich meine, was will ein Toter mit seinen Organen, wenn diese doch Leben retten könnten?« Er seufzte, bevor er tief einatmete. »Weißt du, wenn du den ganzen Tag einzig diese Zimmerdecke zu sehen kriegst, erkennst du den Widerspruch hinter diesem System. Bevor du ein Herz bekommst, muss es dir hundeelend gehen. Aber genau dies verschlechtert dann die Erfolgschancen der Transplantation.«

Palmer fühlte mit ihm. Sie erinnerte sich, ihrer Mutter hatte man damals kein Spenderorgan zugeteilt, da ihre Überlebenschance als viel zu gering eingestuft worden war aufgrund ihrer Krebserkrankung. Diese hat sie dann tatsächlich hinweggerafft. Die Medikamente gegen die Abstoßung blockieren die Immunabwehr. Diese Abwehr wäre aber nötig gewesen, um die Krebszellen zu unterdrücken. Palmer spürte einen Klumpen im Magen. Der Gedanke an den Tod ihrer Mutter drückte ihr Tränen in die Augen.

Gequält verzog Lenny das Gesicht. »Ich habe nicht mal genügend Kraft, wütend zu sein, dass ich keine Aussicht auf ein gesundes Herz habe. Dabei gibt es Leute, denen es noch schlechter geht als mir. An guten Tagen schaffe ich es zu lesen oder am Laptop im Bett zu chatten. Bei mir ist ein Spenderherz zurzeit nur dringlich.« Er blickte zum Nachttisch, wo sein Handy neben der Lesebrille auf dem aufgeschlagenen Physikbuch ruhte. Schockiert starrte er Palmer in die Augen, warf seine Hand zum Buch und verschob es soweit, bis es das kosmische Kamasutra-Buch, das darunter lag, besser verdeckte. Wobei er Glück hatte, dass bei seiner spontanen Aktion sein geöffneter Laptop, der ebenfalls obendrauf lag, nicht runterrutschte und auf den Boden knallte. »Es ist beschissen. Damit ich Aussicht auf ein Herz habe, muss es mir noch mieser gehen. In der Fachsprache ›höchste Dringlichkeit‹. Die erreiche ich erst, wenn sie mich auf der Intensivstation an alle Schläuche anschließen. Jedes Mal, wenn mein Handy klingelt, schrecke ich zusammen und frage mich, ob die Klinik anruft, weil sie endlich ein passendes Organ für mich gefunden haben. Ich hoffe auf das Glück, dass mir jemand sein Herz schenkt. Jedenfalls steht mein Köfferchen seit Jahren bereit.« Sein Blick glitt zu einem dunkelbraunen Rollkoffer neben dem Fenster. »Pyjama, Toilettenartikel, Latschen, Unterwäsche. Und Bücher. Alles Sachen, die ich brauche nach erfolgreicher Operation. Wenn die mich vom Unispital Zürich anrufen, werde ich bereit sein. In Luzern setzen sie keine Herzen ein.«

Palmer stand da und fühlte etwas, das ihr sonst weitgehend unbekannt war: Hilflosigkeit. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, was angemessen wäre angesichts dieser Ausweglosigkeit.

Einen Moment lang starrte sie Lenny nur an und nickte dann zustimmend, dabei drängte sich in ihr das Bedürfnis hoch, einfach zu flüchten, das Zimmer zu verlassen. Ein feiger Gedanke, sie wusste es, aber das hier war fast zu viel für sie. Sie drückte ihr Kreuz durch, während ihre Blicke durchs Zimmer wanderten. Wo Palmer ein Poster des Fußballklubs Luzern erwartet hatte, schaute Albert Einstein von der Wand. Mit weit aufgerissenen Augen und verstrubelten Haaren streckte er dem Betrachter die Zunge raus.

»Astrophysik ist dein Wunschtraum?«

»Nein. Aber als Ingenieur werde ich das erste künstliche Herz entwickeln, das vollkommen selbstständig wie ein natürliches im Leibesinnern arbeitet und das von keinem Körper abgestoßen wird.« Wie aus Trotz seiner hoffnungslosen Situation gegenüber schob er den Unterkiefer vor. »Täglich wird es sieben Tonnen Blut durch den Körper pumpen. Mein eigenes schafft heute nicht mal zwei.« Er biss sich auf die Unterlippe und zögerte. »Nachts ist die Angst zu sterben am schlimmsten. Auch meine Mutter tut deswegen kaum mehr ein Auge zu.«

Als er dies sagte, fiel Palmer in seinen Augen eine Traurigkeit auf, die ihr bis dahin entgangen war.

»Ich befürchte, wenn ich sterbe, wird auch das Leben meiner Mutter beendet sein. Es ist die Hoffnung auf ein Spenderorgan, die sie am Leben hält. Sie sagt, sie will alles unternehmen, um mir zu einem neuen Herzen zu verhelfen.«

»Du sprichst an auf ihren Besuch bei der Party deines Vaters?«, fragte Palmer mit belegter Stimme. Aber Lenny antwortete nicht, betrachtete stattdessen das Windspiel mit echten, bedrohlich wirkenden Glasaugen, die an Fäden zappelten, da ein Luftstrom durchs offene Fenster hereinquoll und sie anstieß.

»Leider keine Neuigkeiten aus dem Krankenhaus. Susa geht’s noch keinen Deut besser.« Hannah setzte sich zu Lenny auf die Bettkante, beugte sich vornüber, als plagten sie Magenschmerzen, und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Nach einigen Augenblicken drückte sie Lenny einen Kuss auf die Wange, bevor er sich ihr entzog. Als sie den Kopf schräg hielt, erhaschte sie einen Blick auf den Buchrücken des Kamasutra.

»Liegt dieses blöde Buch noch immer hier rum?« Sie verlagerte ihr Gewicht noch stärker auf die Hände, neigte ihren Oberkörper ganz nach vorne und blickte Lenny tief in die Augen.

»Was kann ich dafür, dass für deine Geschmacksrichtung bisher niemand einen ebenbürtigen Leitfaden geschrieben hat.« Er verdrehte die Augen, während er sprach.

»Ich frage mich, wie wir dich aus diesem Zimmer an die Sonne kriegen.« Palmer hatte gesehen, wie an Hannahs Schläfe eine Ader zu zucken begann, deshalb versuchte sie, das Gesprächsthema in eine weniger belastete Richtung zu bewegen.

»Verdammt, du hast gut reden. Ihr Gesunden meint, ich liege hier nur zum Spaß faul rum.«

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22 aralık 2023
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9783839268964
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