Kitabı oku: «Luramos - Der letzte Drache», sayfa 5
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Gefährten
Als Ralea am nächsten Morgen aufwachte, brauchte sie einen Moment, um sich daran zu erinnern, wo sie war. Um so plötzlicher strömten dann auf einmal die Erinnerungen auf sie ein: der Abschied, der Tag im Wald, die Gnome ... und Tajo.
Tajo! Auf einmal war Ralea hellwach und setzte sich kerzengerade auf. Doch sie war allein. Neben ihr lag ihr Lederbeutel und auf der anderen Seite war die erkaltete Feuerstelle. Von Tajo keine Spur. Vergeblich versuchte sie, ihre Enttäuschung zu ignorieren. Warum war er weggegangen? Hatte er es sich anders überlegt oder hatte er im Grunde nie wirklich vorgehabt, sie zu begleiten? Ralea seufzte und rappelte sich auf. Jetzt noch darüber zu grübeln brachte sowieso nichts mehr – er war weg. Sie schulterte gerade ihren Beutel, als eine Stimme an ihr Ohr drang: „Was, du willst schon weg?“
Ralea fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand Tajo und lächelte sie unschuldig an. „Musst du dich immer so anschleichen?“ Raleas Stimme war unfreundlicher, als sie es beabsichtigt hatte. In Wahrheit jubelte sie: Er war doch nicht gegangen! „Ich habe mich beinahe zu Tode erschrocken. Wo warst du überhaupt?“, sagte sie laut.
„Frühstück besorgen!“ Er hielt zwei dicke erdige Knollen hoch. „Oder hast du etwa keinen Hunger?“
„Und warum nimmst du dafür deine gesamte Ausrüstung mit?“ Ralea sah vielsagend auf den Köcher mit den Pfeilen und den Bogen, die über seiner Schulter hingen.
Er zuckte mit den Achseln. „Alte Angewohnheit. Du findest auch immer was zu meckern, wie? Probier das mal, das wird deine Laune heben!“ Er hielt ihr eine der Knollen hin und wischte seine eigene an seiner Hose sauber.
„Was ist das?“, fragte Ralea interessiert und tat es ihm nach.
„Die Knollen von Knarrwurzen“, antwortete er und biss herzhaft hinein.
„Knarrwurzen?!“, rief Ralea entgeistert. „Die sind giftig!“ Ihre Eltern hatten sie immer vor diesem Kraut gewarnt, das im Wald wuchs und einem höllische Bauchschmerzen und Durchfall bereiten konnte, wenn man es aß.
Tajo winkte ungeduldig ab und schluckte seinen Bissen hinunter. „Ja, die Blätter und die Blüten schon. Aber nicht die Wurzeln. Probier mal – schmeckt echt gut!“
Einen Moment zögerte Ralea, doch dann siegten der Hunger und die Neugier. Vorsichtig biss sie ein kleines Stück heraus, das sie langsam zerkaute. Ein süßlicher Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, der sie ein bisschen an gekochten Mais erinnerte, aber doch war er ganz anders als alles, was sie je gegessen hatte.
„Gut, wasch?“, fragte Tajo mit vollem Mund.
Ralea nickte begeistert. „Warum sind die Menschen nur noch nicht darauf gekommen?“
Tajo zuckte mit den Achseln, als würde ihn das nicht besonders wundern. „Du musst zugeben“, sagte er, „dass die Menschen an so gut wie allem, was sich nicht innerhalb ihres Dorfes abspielt, kein Interesse haben.“
„Das ist nicht wahr!“, protestierte Ralea automatisch, doch dann verstummte sie nachdenklich.
Es stimmte, dass die Menschen ihr Dorf nur verließen, um zu jagen oder Beeren zu sammeln. Und selbst dann entfernten sie sich nur so weit, wie gerade nötig. „Es kann gut sein“, dachte Ralea leicht beängstigt, „dass noch niemand aus meinem Dorf so weit im Wald gewesen ist, wie ich jetzt.“ Ihr nachdenkliches Gesicht schien Tajo Genugtuung zu verschaffen, so zufrieden, wie er aussah. Zum ersten Mal kam Ralea der Gedanke, dass nicht nur die Menschen Vorurteile gegenüber den Baumlingen haben könnten, sondern auch die Baumlinge gegenüber den Menschen.
„Sollen wir uns so langsam mal auf den Weg machen?“, fragte Tajo nach einer Weile.
Ralea hörte auf zu essen. Der Appetit war ihr mit diesem Satz gründlich vergangen. Sie hatte nämlich gehofft, diesen Moment noch etwas hinauszögern zu können. „Ja, das sollten wir“, sagte sie schwach. „Doch nicht gemeinsam.“
Zu ihrer Verwunderung schien Tajo kein bisschen bestürzt über diese Aussage. „Ach!“ Er sah sie mit gespieltem Tadel an. „Geht das schon wieder los!“
„Ja, allerdings!“ Ralea war hin und her gerissen, seine Art furchtbar schmeichelhaft zu finden, weil er so hartnäckig war, oder wütend zu werden, weil er ihre Selbstbeherrschung damit ziemlich auf die Probe stellte. „Wir können nicht zusammen gehen. In dem Vertrag unserer Ahnen steht geschrieben, dass sich nur ein Auserwählter eines Volkes auf den Weg machen wird ...“
Tajo stöhnte genervt. „Wen juckt denn noch, was diese toten Opis vor dreihundert Jahren vor sich hingekritzelt haben?“
Ralea klappte ein paar Mal den Mund auf und wieder zu, ehe sie antworten konnte: „Mich juckt das! Und dich sollte es eigentlich auch jucken!“
Er verdrehte die Augen. Ralea fragte sich, ob wohl alle Baumlinge so respektlos waren, oder ob sie einfach ein besonders schlimmes Exemplar erwischt hatte. „Und was ist, wenn die Gnome wiederkommen?“, fragte er plötzlich.
Ralea wurde totenblass. „Du hast gesagt, die kommen nicht wieder.“
„Ja, aber ich bin mir nicht sicher. Alles, was ich weiß, basiert auf Geschichten, die man sich abends vorm Einschlafen erzählt. Garantieren kann ich für nichts.“
Ralea wusste nicht, was sie erwidern sollte. Allein bei dem Gedanken an diese scheußlichen gelben Augen brach ihr kalter Schweiß aus. „Was wollten die bloß von mir?“, flüsterte sie anstatt einer Antwort.
Tajo schien es leidzutun, ihr so eine Angst eingejagt zu haben. Sanft sagte er: „Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass die Erfüllung deiner Aufgabe Vorrang vor allem anderen hat. Ist doch so, nicht wahr?“
Ralea nickte. „Auf jeden Fall.“
„Und genau das ist in Gefahr, wenn ich dich weiterhin allein und schutzlos durch die Gegend laufen lasse. Es wäre also nur vernünftig, wenn ich dich begleite. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass unsere Ahnen da einer Meinung mit mir wären.“ Er grinste triumphierend und verschlang schmatzend den Rest seiner Knarrwurzknolle.
Ralea starrte nachdenklich vor sich hin. Das war allerdings ein schlagkräftiges Argument. Ihr war zwar immer noch nicht ganz klar, warum er so versessen darauf war, sie zu begleiten – denn das war er ja allem Anschein nach schon gewesen, bevor die Gnome sie überhaupt überfallen hatten – aber das war ihr im Moment auch egal. Sie war viel zu erleichtert, nun einen guten Grund zu haben, ihm gemeinsam gehen zu können – und natürlich war sie froh, jemanden zu haben, der sich verteidigen konnte, falls die Gnome wiederkamen.
„Ich denke, du hast recht“, stimmte sie zu und gab sich Mühe, ihre Freude nicht allzu sehr zu zeigen.
Tajo tat sich da keinen Zwang an. „Wunderbar!“, rief er laut. „Dann sind wir von nun an also Gefährten!“ Ralea lächelte schüchtern.
Ohne ein weiteres Wort machten sie sich auf den Weg. Ralea knabberte beim Gehen an dem Rest ihrer Knarrwurzknolle und warf ihrem neuen Gefährten hin und wieder einen verstohlenen Blick aus dem Augenwinkel zu. Dieser schien sich nicht darüber zu wundern, dass Ralea intuitiv wusste, wo es lang ging.
„Aber natürlich“, dachte sie, „er hat mich ja schließlich seit gestern Morgen beobachtet und sich wahrscheinlich seinen Teil gedacht.“
Das Schweigen hielt nicht lange an. Schon nach kurzer Zeit fing Tajo zwanglos an zu reden. Er fragte sie alles Mögliche über die Menschen: „Wie baut ihr eure Häuser?“, „Welche Festtage kennt ihr?“, „Stimmt es, dass ihr Angst vor Bäumen habt?“, und hörte ihr dann mit solch ehrlichem Interesse zu, dass auch Ralea schließlich ihre ganze Scheu vor ihm verlor. Sie plapperte munter drauf los, erklärte ihm alles, so gut sie konnte, und traute sich später sogar, auch ihm ein paar Fragen zu stellen: „An welche Götter glaubt ihr?“
Tajo sah sie überrascht an. „Wir glauben nicht an Götter.“
„Nicht? Oh ...“ Ralea verstummte beschämt. Der Glaube an die Götter war für sie so selbstverständlich, dass sie überhaupt nicht darüber nachgedacht hatte, dass andere Völker keine Götter kennen könnten.
„Wir glauben an ... wie könnte man das in deine Sprache übersetzen ... vielleicht mit: Naturgeister ...“, erklärte Tajo.
Ralea forderte ihn stumm dazu auf, weiterzusprechen.
„Überall gibt es diese Geister: in den Pflanzen, im Wasser, in der Luft, der Erde – ja sogar im Feuer und in den Sternen. Sie sind immer bei uns, doch sie greifen nicht in unser Leben ein, so wie es deine Götter tun. Sie sind bloß stumme Beobachter und sorgen dafür, dass die Elemente der Welt in Einklang miteinander stehen.“
„Der Gedanke ist schön“, murmelte Ralea. „Und wie ist das mit den Elfen? Glauben sie auch an diese Naturgeister?“
„Nein, soweit ich weiß, glauben sie weder an Götter noch an Geister.“
Ralea machte große Augen. „Das heißt, sie glauben an gar nichts?“ Diese Vorstellung schockierte sie. „Wie erklären sie sich dann den Wechsel der Jahreszeiten? Oder ... die Erschaffung der Welt?“
Tajo zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, bei ihnen gibt es viele Sagen und Mythen. Außerdem haben ihre Gelehrten die abenteuerlichsten Erklärungen. Aber Genaues kann ich dir dazu auch nicht sagen.“
Ralea nickte nachdenklich. Ihr war es nie in den Kopf gekommen, dass Baumlinge und Elfen keine Götter kennen könnten. Andere Götter vielleicht – aber gar keine?
„Erzähl mir etwas über eure Götter“, bat Tajo.
„Nun“, begann Ralea etwas unsicher unter dem Blick seiner grünen Augen. „Es gibt sieben verschiedene Götter, die jeweils für ein Gebiet zuständig sind, über das sie wachen. Zum Beispiel Ferenza, die Göttin der Fruchtbarkeit, oder Gorat, den Gott der Jagd.“
„Wenn also jemand über lange Zeit hinweg viel Pech bei der Jagd gehabt hat, dann muss er zu Gorat beten?“
„Oder ihm Opfergaben darbringen, um ihn milde zu stimmen. Ganz genau.“
Auch Tajo wirkte nachdenklich. Ralea konnte ihm nicht ansehen, was er darüber dachte, doch ihr lag auch schon die nächste Frage auf der Zunge: „Stimmt es, dass ihr auf den Bäumen lebt?“
„Ja, das stimmt.“ Tajo lächelte vor sich hin. „In den nördlicheren Wäldern sind die Bäume sehr viel höher und breiter als hier. Wir leben oben in ihren Kronen, die über die anderen Bäume hinausragen.“
„Das heißt, ihr habt euch Baumhäuser gebaut“, sagte Ralea fasziniert.
„Gebaut kann man es eigentlich nicht nennen“, erklärte Tajo. „Es stimmt, dass wir in einer Art Baumhaus leben, doch diese sind natürlich gewachsen. Die Bäume formen ihre Äste zu einem oder auch mehreren miteinander verbundenen Räumen. Die Wände bestehen zum größten Teil aus Blättern und sind erstaunlich robust gegenüber Wind und Regen. Natürlich müssen wir hin und wieder mit den entsprechenden Werkzeugen und Materialien nachhelfen, doch die meiste Arbeit macht der Baum selbst.“
„Das ist ja unglaublich!“, rief Ralea. „Wie bringt ihr die Bäume dazu, so zu wachsen? Mit Magie?“
„Oh nein!“ Tajo schüttelte entschieden den Kopf. „Mit Magie haben wir Baumlinge genauso wenig am Hut wie ihr Menschen. Nein, es ist viel einfacher: Wir bitten einfach.“
Ralea stutzte. „Bitten? Wen denn?“
„Na die Bäume!“ Tajo sah sie an, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. „Wusstest du nicht, dass wir mit den Bäumen reden können?“
Ralea sah ihr Gegenüber skeptisch an. „Nein“, sagte sie schließlich.
„Du glaubst mir nicht.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung Tajos. Sein leicht enttäuschter Unterton machte Ralea ein schlechtes Gewissen.
„Doch, ich glaube dir“, sagte sie, obwohl sie sich wirklich nicht ganz sicher war.
„Mich wundert bloß, dass du das nicht wusstest“, meinte Tajo.
„Die Menschen wissen herzlich wenig über euch“, sagte Ralea. Sie musste wieder an Tajos Behauptung denken, dass sich die Menschen für nichts außerhalb ihres Dorfes interessierten. „Schade eigentlich“, überlegte sie. „Wenn wir mehr über die Baumlinge wüssten, würden wir sie auch besser verstehen.“ Doch Raleas Wissensdurst war noch immer nicht gestillt. „Aber wie lebt ihr dort oben?“, fragte sie. „Und wie oft kommt ihr von den Bäumen runter?“
Tajo schien sich über Raleas Neugier zu freuen und ihr ihre anfängliche Skepsis ihm gegenüber verziehen zu haben. „Die Bäume sind über Seilbrücken und Stege miteinander verbunden, sodass man dort oben große Strecken zurücklegen kann, ohne auf den Boden runter zu müssen. Einen Brunnen wie die Menschen haben wir beispielsweise nicht. Wir trinken das Regenwasser aus den trichterförmigen Blättern eines Baumes, der hier nicht vorkommt. Trotzdem kommen wir fast täglich von den Bäumen herunter, um zu jagen.“ Er grinste.
Ralea schaute verträumt zu dem dichten Blätterdach über ihr. „Es muss wunderbar sein, dort oben zu leben“, seufzte sie.
„Ja, das ist es wirklich.“ In Tajos grünen Augen lagen Stolz und Sehnsucht.
Ralea nahm all ihren Mut zusammen und stellte die Frage, die ihr eigentlich schon den ganzen Tag auf der Zunge lag: „Warum bist du dann von dort weggegangen? Warum willst du mich unbedingt begleiten? Ich dachte, die Baumlinge würden so gut wie nie ihren Wald verlassen.“
Eine Zeit lang antwortete Tajo nicht, sondern starrte nur vor sich hin. Schließlich sagte er leise und ein wenig traurig: „Weil ich nicht so bin, wie alle anderen Baumlinge.“
Er machte eine kurze Pause, dann sah er Ralea tief in die Augen. „Es stimmt, normalerweise verlassen die Baumlinge nie den Wald. Was wollen sie schließlich auch anderswo? Im Wald gibt es alles, was sie kennen, lieben und zum Leben brauchen. Im Grunde sind sie in dieser Beziehung gar nicht so viel besser als die Menschen, nur dass ihr Gebiet nicht ganz so beschränkt ist. Die Baumlinge erzählen sich zwar immer Geschichten von fernen Ländern oder vom Gebirge am anderen Ende von Romanien, doch mit eigenen Augen sehen wollen sie diese Gegenden nie.“
„Auch da sind sich die meisten Menschen aus meinem Dorf und die Baumlinge gar nicht so unähnlich“, dachte Ralea.
„Bei mir war das schon immer anders“, fuhr Tajo unterdessen unbeirrt fort. „Seit ich denken kann, war da diese Abenteuerlust in mir. Diese Neugier auf alles Fremde und Unbekannte – dieses Fernweh! Ich habe schon immer davon geträumt, einmal loszuziehen und diese fernen Gegenden zu erkunden, eins dieser Abenteuer zu erleben, von denen immer erzählt wird. Die anderen haben mich wohl nie wirklich ernst genommen. Noch nicht mal meine Eltern oder Geschwister – ich habe zwei kleine Brüder und eine große Schwester. Und als alle davon zu reden begannen, dass Luramos bald aufwachen würde und dass ein Mensch losziehen würde, um den Zauber zu erneuern, da habe ich meine Chance gewittert. Ich dachte, ich könnte mich diesem Menschen anschließen. Ich habe am Abend vor meiner Abreise mit meinen Eltern darüber geredet, doch sie haben bloß nachsichtig gelächelt, als wäre ich ein drei Jahre altes Kleinkind, das davon erzählt, dass es einen Drachen gesehen hat!“
Seine Stimme und sein Gesicht spiegelten die Bitterkeit und den Zorn wider, den er empfand. „Ich habe mich einfach in der Nacht davongeschlichen. Es hat niemand versucht, mich aufzuhalten.“ Er zuckte mit den Achseln, fast so, als wolle er die Gefühle wegwischen, die er gerade so offen gezeigt hatte. „Tja, und als ich dann bei deinem Dorf ankam, wurdest du gerade verabschiedet. Ich war genau rechtzeitig am richtigen Ort. Ich bin dir hinterhergelaufen, weil ich erst weiter wegwollte vom Dorf, bevor ich mich dir zeige. Wahrscheinlich war der Sicherheitsabstand, den ich dabei gehalten habe, ein bisschen zu großzügig bemessen, denn ich habe erst reichlich spät gemerkt, dass ich nicht der Einzige war, der dir hinterher geschlichen ist.“ Er lächelte, als wollte er sich dafür entschuldigen. „Und den Rest kennst du ja.“
Ralea nickte. Was für eine Ironie des Schicksals, dachte sie, dass Tajo so gerne in die weite Welt ausziehen wollte und dafür nur belächelt wurde, während sie, die eigentlich nie von ihrem Dorf hatte weggehen wollen, dafür auserwählt worden war, durch halb Romanien zu ziehen und das größte Abenteuer ihres Lebens zu bestehen. „Ehrlich gesagt bin ich verdammt froh darüber, dass du mit mir kommst.“ Die Worte waren schon draußen, bevor Ralea überhaupt merkte, was sie da gesagt hatte. Sie wurde vor Scham puterrot.
Doch Tajo schien sich darüber zu freuen. Er grinste sie wieder breit und an und sagte: „Tatsächlich? Ich hatte schon fast befürchtet, du wärst so eine abgebrühte Einzelgängerin, der ich eigentlich tierisch auf den Geist gehe.“
Ralea lachte laut auf. „Ich? Oh nein! Hast du denn nicht gesehen, wie sehr ich geheult habe, als ich mich von meiner besten Freundin verabschiedet habe? Am liebsten wäre ich nie weggegangen von meinem Dorf, aber ich musste, weil der Elfenstein nur eine einzige Wahl akzeptiert. Und die fiel nun mal auf mich.“
Auch Tajo lachte leise. „Gut, wirklich geglaubt habe ich es auch nicht. Dafür heulst du wirklich zu viel rum.“
„Was?!“, rief Ralea mit gespielter Entrüstung und schubste Tajo gegen die Schulter, sodass er mitten ins Gebüsch fiel.
„He!“, rief er überrascht und fing sich gerade noch an einem tief hängenden Ast ab. Ralea streckte ihm die Zunge raus und wich seiner Hand aus, als er versuchte, sie zu erwischen.
Eine Weile alberten sie noch herum, dann liefen sie schweigend weiter. Dabei war es kein unangenehmes Schweigen. Ihre gegenseitigen Geständnisse hatten die Atmosphäre zwischen ihnen aufgelockert und sie näher zusammen gebracht.
Ralea konnte nicht aufhören, sich über sich selbst zu wundern. Sie war noch nie so ausgelassen gewesen gegenüber jemandem, den sie erst einen Tag lang kannte. Doch das lag wahrscheinlich an ihrer außergewöhnlichen Situation. Außerdem hatte Tajo so etwas Heiteres und Gelassenes an sich, das es einfach unmöglich machte, ihm gegenüber schüchtern zu sein.
Als es auf den Abend zuging und sie sich erneut eine Stelle zum Schlafen suchten, dachte Ralea bei sich, dass sie als Fremde aufgewacht waren und als Freunde einschlafen würden.
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Waldgeflüster
Kaum dass der nächste Morgen graute, wurde Ralea ziemlich unsanft dadurch geweckt, dass jemand sie an den Haaren zog. Verschlafen schlug sie die Augen auf – und schaute mitten in das feixende Gesicht einer Pitzi. Ruckartig fuhr sie auf und stieß im selben Moment einen spitzen Schrei aus: Ihre Haare waren mit einem Strauch hinter ihr verknotet.
Die Pitzi lachte keckernd und flog davon. Erst jetzt bemerkte Ralea, dass es nicht die einzige war. Überall um sie herum flogen Pitzi durch die Luft, räumten ihren Proviantbeutel aus, schmissen seinen Inhalt durch die Luft und spielten mit Tajos Pfeilen, der gerade erst von Raleas Schrei aufgewacht war.
Auch er war sofort hellwach und sprang auf die Füße – seine Haare hatten sie wenigstens nicht mit irgendwelchen Pflanzen verknotet! Während er fluchend versuchte, dem Pitzi seine Pfeile abzunehmen, machte Ralea sich daran, ihre Haare von dem Strauch zu lösen. Ihre Kopfhaut brannte höllisch und sie riss sich einige Strähnen aus, bis sie endlich aufstehen konnte.
Pitzi waren eine Unterart der Elfen. Sie waren etwa so groß wie Raleas ausgestreckte Hand, hatten libellenartige Flügel und lebten im gesamten Waldgebiet Romaniens. Sie hatten blasse Haut und ebenso farbloses Haar, das sie jedoch gewissenhaft mit dem Saft von giftigen Beeren färbten. Sie fertigten sich einfache Kleidung aus Blättern und unterhielten sich mit ihren piepsigen Stimmen in einer schnellen, unverständlichen Sprache. Sie verirrten sich zwar selten in die Menschendörfer, doch Ralea hatte sie trotzdem schon kennen – und fürchten – gelernt. Zwar waren sie nicht besonders groß, doch machten sie das durch ihre Anzahl und Dreistigkeit locker wett. Es waren furchtbare Quälgeister, die jede Chance nutzten, um jemandem eins auszuwischen oder ihm einen Streich zu spielen. Und wenn man sich dann aufregte und versuchte, sie zu verscheuchen, stachelte man sie nur noch mehr an.
Tajo hüpfte immer noch wild durch die Gegend und versuchte den Pitzi seine Pfeile abzunehmen. Diese waren leider viel zu schnell für ihn: Sie flogen dicht an ihn heran, streckten ihm die Zunge raus und wedelten mit den Pfeilen vor seiner Nase herum, doch wenn er dann zupacken wollte, flogen sie blitzschnell davon und lachten ihn lauthals aus.
Unter anderen Umständen hätte wohl auch Ralea über Tajos wilde Luftsprünge lachen müssen, doch jetzt fuhr ihre Hand wie automatisch zu dem Elfenstein unter ihrem Leinenhemd – ein Glück, er war noch da! – und dann sprintete sie auf drei Pitzi zu, die ihren Lederbeutel in die Luft hoben und auf den Kopf stellten, sodass der gesamte Inhalt sich auf den Waldboden ergoss.
Als sie Ralea auf sich zu kommen sahen, wollten sie erschrocken davon fliegen, doch der Beutel war für drei so kleine Wesen ziemlich schwer und Ralea hatte das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Sie erwischte den Beutel an einer Ecke und riss ihn mit einem Ruck an sich. Die Pitzi drohten ihr mit ihren kleinen Fäusten und beschimpften sie in ihrer keckernden Sprache, doch Ralea beachtete sie nicht weiter. Sie bückte sich schnell und versuchte die Sachen wieder in den Beutel zu stecken. Bevor jedoch auch nur die Hälfte wieder sicher verstaut war, kamen andere Pitzi und schnappten die Lebensmittel weg.
Ralea richtete sich stöhnend auf und sah mutlos in die Luft, die voll von lachenden und rufenden Pitzi war. Sie saßen sogar auf den Bäumen und bewarfen sie und Tajo mit Vogelbeeren.
Tajo kam keuchend neben ihr zum Stehen. „Das hat keinen Zweck“, sagte er. Er hatte bloß drei seiner Pfeile retten können. „Lass uns einfach weitergehen und sie ignorieren. Irgendwann wird es ihnen langweilig, dann schmeißen sie die Sachen auf den Boden und hauen ab.“
Ralea nickte und drückte ihren Lederbeutel an die Brust. Würde sie ihn auf den Rücken ziehen, hätten die Pitzi ihn in kürzester Zeit erneut geplündert. So machten sie sich also wieder auf den Weg und gaben sich Mühe, die frechen Pitzi nicht zu beachten. Das war gar nicht so einfach, denn sie schwirrten überall um sie herum, die Luft war erfüllt von ihrem nervtötendem Stimmengewirr und sie rissen an Kleidern und Haaren.
Tajo ließ sich davon nicht beirren. Er ging einfach stur geradeaus und knurrte nur einmal leise: „Wie ich diese Nervensägen hasse!“ Ralea versuchte, es ihm gleichzutun und nach einer Weile bewahrheitete sich tatsächlich seine Vorhersage: Einer nach dem anderen ließen die Pitzi die Pfeile und das Essen fallen und schwirrten zurück in den Wald. Tajo und Ralea sammelten ihre Habseligkeiten auf, beide seufzten erleichtert auf und setzten ihren Weg nun ungestört fort.
Schon bald begannen sie wieder, sich gegenseitig Fragen zu stellen, und schließlich vertrieben sie sich die Zeit damit, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Denn auch wenn Tajo sich vielleicht in vielerlei Hinsicht von seinen Artgenossen unterschied, so teilte er doch auf jeden Fall ihre Liebe zu Geschichten und Erzählungen. Er fragte Ralea nach ihrer Lieblingsgeschichte und sie erzählte ihm eine, die auch Morgana ihr früher immer und immer wieder hatte erzählen müssen.
„Sie handelt von einer Elfe, die ohne Flügel geboren worden ist“, begann Ralea ihre Erzählung. „Deshalb wird sie immer von den anderen Elfen bemitleidet und bemuttert. Zwar wird sie nie gehänselt, da so etwas grundsätzlich bei den friedliebenden Elfen nicht vorkommt, aber sie wünscht sich sehnlichst, gleichberechtigt zu sein und respektiert zu werden. Außerdem wünscht sie sich von ganzem Herzen, fliegen zu können. Eines Tages ist sie furchtbar traurig und geht in den Wald, um allein sein und weinen zu können. Dort findet sie ein verwundetes Reh, das im Sterben liegt. Sie ist darüber so schockiert und ergriffen, dass sie ihren eigenen Kummer völlig vergisst. Wie es der Zufall will, läuft ihr eine gute Fee über den Weg, die ihr die Erfüllung eines Wunsches verspricht. Sofort wünscht sich die Elfe, dass das Reh wieder gesund ist. Die Fee schwenkt ihren kleinen Zauberstab und schon ist das Reh geheilt. Es steht auf, wirft der überglücklichen Elfe einen langen, dankbaren Blick zu und springt davon. Erst da geht der Elfe auf, dass sie gerade die Chance ihres Lebens vertan hat. Trotzdem kann sie nicht wirklich traurig darüber sein, weil sie weiß, dass sie etwas Gutes getan hat. Die Fee aber bemerkt die Niedergeschlagenheit der kleinen Elfe sofort und sieht auch ihr gutes Herz, das schwer vor Kummer über ihren unerfüllbaren Wunsch ist. Als Belohnung für ihre selbstlose Tat zaubert sie der Elfe die größten und schönsten Flügel aller Zeiten und von da an lebt die kleine Elfe glücklich bis an ihr Lebensende.“
Als Ralea geendet hatte, schaute sie erwartungsvoll zu Tajo herüber. Sie konnte lange nicht so schön erzählen wie Morgana, doch diese Geschichte hatte sie schon so oft gehört, dass es ihr trotzdem ganz gut gelungen war, so fand sie selbst zumindest.
„Es ist keine besondere Geschichte“, sagte sie schnell, als müsse sie sich rechtfertigen. „Aber als ich klein war, war das meine absolute Lieblingsgeschichte.“
„Sie ist wirklich schön“, sagte Tajo. In seinen grünen Augen konnte Ralea lesen, dass er es absolut ehrlich meinte.
„Und? Was ist deine Lieblingsgeschichte?“, fragte sie neugierig.
„Da muss ich nicht lange überlegen!“, antwortete der Baumling eifrig und fing sofort an zu erzählen. Das Erzählen schien ihm ebenso in die Wiege gelegt worden zu sein wie Morgana. Auf jeden Fall nahm Ralea schon nach den ersten vier Sätzen kaum noch den Wald um sich herum wahr, so eingenommen war sie von dem Klang seiner Stimme und den Bildern, die sie in ihrem Kopf wach rief.
In Tajos Geschichte ging es um einen jungen Baumling, der eines Nachts davon träumte, dass es noch Drachen gab, die in den Bergen lebten und die Magier überlebt hatten. Als er aufwachte, war er felsenfest davon überzeugt, dass er eine Vision gehabt hatte, die ihm die Waldgeister gegeben hatten. Er erzählte den anderen Baumlingen davon, doch die lachten ihn nur aus und sagten ihm, dass er sich das aus dem Kopf schlagen solle. Er dachte aber nicht daran und machte sich auf, nach diesen Drachen zu suchen. Nach einer langen und beschwerlichen Reise quer durch die Drachentod-Wüste erreichte er das nördliche Gebirge.
Lange Zeit suchte er vergebens, doch als er gerade aufgeben wollte, fand er tatsächlich Drachen. Sie waren anders, als diejenigen, die früher im Zentrum Romaniens gewohnt hatten – sie waren lang und dünn wie Schlangen und hatten zwei Hauer aus Kristall, die denen von Wildschweinen ähnelten – doch sie waren ebenso friedlich wie ihre toten Verwandten. Außerdem waren sie begeistert von der Vorstellung, in der Drachentod-Wüste leben zu können und so der ewigen Kälte zu entfliehen. So kehrten wieder Drachen in Romanien ein und der Baumling wurde bei seiner Rückkehr als Held gefeiert.
„Toll!“, hauchte Ralea, als Tajo geendet hatte und sie wieder in die Wirklichkeit eintauchte. „Du kannst einfach super erzählen. Und die Geschichte ist auch wunderschön!“ Ihr war es total ernst damit. Die Vorstellung, dass es außer Luramos noch Drachen geben könnte, war einfach unglaublich. Sie konnte nicht anders, als zu fragen: „Meinst du, es könnte etwas Wahres daran sein?“
Tajo sah sie überrascht an. „Daran, dass es noch Drachen gibt? Ich glaube nicht. Es ist nur eine Geschichte, die sich irgendjemand ausgedacht hat. Vielleicht ist dir ja auch aufgefallen, dass sie ein paar Lücken in der Handlung hat. Über die erste kann man ja noch hinwegsehen: nämlich darüber, dass ein Baumling freiwillig seinen Wald verlässt, um durch Romanien zu wandern!“ Er lachte leise.
Auch Ralea lächelte amüsiert. „Na gut. Und was noch?“
„Es wird mit keinem Wort erwähnt, wovon die Drachen sich ernähren sollen. In der Drachentod-Wüste gibt es doch nichts mehr, weder Pflanzen noch Tiere.“ Ralea seufzte leicht enttäuscht. Natürlich war es nur ein Märchen, doch der Gedanke hatte sie dennoch fasziniert. „Ich mag die Geschichte trotzdem gerne“, sagte Tajo und Ralea stimmte ihm begeistert zu.
Langsam bekamen sie Hunger und beschlossen, eine Pause einzulegen. Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm und Ralea teilte etwas von dem gepökelten Fleisch und dem Brot unter ihnen auf, das sie schweigend aßen, jeder in seine Gedanken vertieft. Als sie sich etwas ausgeruht hatten, tranken sie noch etwas – Tajo trug an einem Gürtel eine kleine Wasserflasche bei sich – und gingen weiter.
Ralea genoss die friedliche Atmosphäre des Waldes immer mehr. Sie lauschte beim Laufen andächtig dem Singen der Vögel, atmete tief die frische Waldluft ein und bewunderte fasziniert die Schönheit um sich. Sie konnte nicht fassen, dass ihr diese vorher nie aufgefallen war, obwohl ihr Heimatdorf doch von Wald umgeben war. Aber sie war damit groß geworden, dass die Erwachsenen sie vor dem Wald und seinen Gefahren gewarnt hatten. Immer wieder war ihr und den anderen Kindern eingebläut worden, sich bloß nicht zu weit vom Dorf zu entfernen. „Bei meiner Rückkehr wird sich das ändern“, dachte Ralea nun bei sich. Der Gedanke gefiel ihr. Außerdem war Ralea begierig darauf, noch mehr Geschichten zu hören, und Tajo wurde nicht müde, ihr eine nach der anderen zu erzählen.
Schließlich fragte er sie, ob sie noch eine Lieblingsgeschichte kannte. Nach kurzem Überlegen antwortete Ralea: „Eine der Geschichten, die die Kinder aus meinem Dorf immer gerne gehört haben, ist die, in der es um die Magier, Luramos und den Elfenstein geht. Doch die kennst du ja auch schon ...“
„Erzähl sie trotzdem! Es ist bestimmt interessant mal zu hören, wie die Menschen das überliefert haben“, meinte Tajo. Ralea nickte und gab sich Mühe, die Geschichte, so gut es ihr möglich war, zu erzählen. Als sie fertig war, sagte Tajo: „Im Großen und Ganzen ist sie genau so wie die, die wir Baumlinge kennen. Bloß den Teil mit Ketaris hast du vergessen.“