Kitabı oku: «Dark Shadows – Die Schatten der Vergangenheit», sayfa 3
Ich wohne mit meinen Eltern und den Großeltern zusammen in einem großen Haus in der Kaiserstraße. In den Nachbarhäusern wohnen weitere Kinder und Jugendliche in unserer Altersstufe, mit denen wir uns auf der Straße oder auf einem Bolzplatz treffen. Wir sind alle sehr lebhaft. So lebhaft, dass eine ältere Dame einmal bemerkt: „Ihr seid wohl die Jungs von der Krachmacherstraße!“ Für uns ist das keine Kritik, sondern Lob und Auszeichnung. Richtig, wir haben kein Gefühl für die Lautstärke, die wir erzeugen, aber viel Freude dabei.
Der einzige Sohn von Lehrerehepaar Helmbrecht ist wegen seines Down-Syndroms optisch auffällig und auch geistig etwas beeinträchtigt. Ich sage bewusst „etwas“, weil es für uns Jungs auf den ersten Blick gar nicht offensichtlich war. Erst beim Sprechen merken wir, dass er nicht ganz helle ist. Er, Karl-Heinz, ist ein guter Fußballspieler. Wir nennen ihn nur „Heini“. Beim Fußballspiel ist er mitunter etwas hart im Einsatz und die Regeln legt er manchmal recht großzügig aus. Wir durchschauen nicht, ob er die Regeln tatsächlich nicht ganz versteht oder sie bewusst ignoriert, wenn sie ihn bei seinem Spiel behindern.
Als wir eines Tages wie gewohnt auf der Straße spielen, mache ich einen gewaltigen Schuss. Zu gewaltig. Der Ball zersplittert in der unteren Etage des Hauses ein Fenster. Während wir noch überlegen und diskutieren, wie wir den Ball wiederbekommen könnten, sagt Heini: „Ich mach das, ich habe ja einen Dachschaden, mich bestrafen die bestimmt nicht.“ Gesagt, geklingelt, getan. Wir anderen verstecken uns etwas feige hinter den Straßenbäumen. Heini kommt nach fünf Minuten strahlend aus dem Haus, unter seinem Arm klemmt der Ball. Ob seine Eltern dafür zur Kasse gebeten wurden, weiß ich nicht. Heini jedenfalls war ab sofort unser Held und Ausputzer für besondere Gelegenheiten. Er wird in den „Club der Krachmacher“ aufgenommen.
Studium und Corps Ratisbonia
Die Corps-Studenten sehen sich im völkischen Verbund, halten deutsches Brauchtum und die deutsche Art hoch und pflegen sie. Sie betrachten sich als die Wurzel des deutschen Idealismus. Die Verbindungen waren 1815 unter dem Motto „Ehre, Freiheit, Vaterland“ gegründet worden. Sie wandten sich damals gegen den moralischen Verfall des Studententums und die nationale Zerrissenheit des deutschen Reiches. Um die Jahrhundertwende wurden die Corps immer elitärer. Wer Akademiker werden wollte, galt nur etwas, wenn er Verbindungsstudent war. Kaiser Wilhelm, Bismarck und viele später bedeutende Persönlichkeiten waren Verbindungsbrüder. Mein Vater war in einer Verbindung, mein Großvater war in einer Verbindung, also gehe auch ich in eine Verbindung.
„Es gab Nichts, was mehr verband, als der Corps farbige Band“, war ein gängiger Ausspruch von Verbindungsbrüdern. Couleur-Bänder-Studentenmützen mit den Farben der Verbindung werden mit Stolz getragen. Verbindungen schaffen ein bedeutendes Netzwerk für spätere Erfolge. Somit ist es klar und vorbestimmt, dass ich auch Mitglied in einer Verbindung werde. Mit Beginn meines Studiums der Tiermedizin in München im Jahr 1932 werde ich Mitglied in der studentischen Verbindung „Ratisbonia“ – eine Verbindung im Kösener-Senioren-Convent-Verband“. Es ist eine schlagende Verbindung mit den Farben Weiß-Rot-Hellblau mit silberner Perkussion. Dazu gehört eine hellblaue Studentenmütze. Unser Wahlspruch ist „VIRTUS ET HONOS ‒ Tapferkeit und Ehre“.
In der schlagenden Verbindung ist es Pflicht, Mensuren zu fechten. Die Mensur bezeichnet den Abstand der Paukanten zueinander. Die Paukanten sind mit Körper- und Kopfschutz und auch an Gesicht, Augen und Nase weitgehend geschützt. Mensuren fechten, das ist weder Sport noch Duell. Es gibt weder Gewinner noch Verlierer. Wichtig sind aufrechte Teilnahme, Durchhaltevermögen und die Beherrschung von Affekten. Der Mensur Convent bewertet Stand, Moral und Technik. In diesem Zweikampf von Männern, bei dem man verletzt werden kann, wird Disziplin verlangt. Disziplin, den Kampf ohne sichtbare Furcht durchzustehen.
Ich bin mit Herz und Seele dabei, mit allen Verpflichtungen einer studentischen Gemeinschaft, deren Mitglieder lebenslang verbunden bleiben und ein verlässliches Netzwerk bilden.
Später, mit etwas Abstand und in meiner Gefängniszelle sitzend, denke ich an das klassische aber schwachsinnige Kampftrinken und andere Männerspiele, in denen ich mir und anderen beweisen musste, was für ein toller Kerl ich war. Ich denke an merk- und fragwürdige Rituale, die ich heute albern finde. Aber um welchen Preis hätte ich mich damals davon distanzieren können? Welche Alternative hätte ich gehabt? Abgesehen davon, bin ich damals ja gar nicht auf die Idee gekommen, es anders machen zu wollen.
Ich bin nun im dritten Semester und habe auf dem Paukboden bereits viele Mensuren gefochten. Mein Gesicht ist mit mehreren einschlägigen Narben gezeichnet. Meine Kameraden Dinkelmeyer (Medizin), Ammon (Medizin), Einecker (Pharmazie), Bunse (Architektur), Lepp (Zahnmedizin), Weber (Jura), Schönen (Pharmazie) und ich (Tiermedizin) treten zur selben Zeit in die Verbindung ein. Wir unterstützen uns gegenseitig beim Lernen und pflegen eine enge studentische Freundschaft untereinander. Überhaupt ist die Hilfsbereitschaft in der Verbindung sehr ausgeprägt. Die höheren Semester greifen uns unter die Arme, wenn wir mal durchhängen oder etwas nicht verstehen.
Das Leben in der Verbindung gibt mir das Gefühl von Freiheit, Kameradschaft, Zugehörigkeit und die Gewissheit, wichtig und akzeptiert zu sein. Mit Stolz trage ich die Farben der Verbindung. Die Narben in meinem Gesicht weisen mich für jeden erkennbar als Akademiker aus. Das steigert mein Selbstbewusstsein. Das schmeichelt meiner Seele und macht mich für die Mädchen interessant.
Aber wie in jeder Gemeinschaft gibt es auch hier Typen, die ich nicht mag. Ein Verbindungsbruder ist mir besonders zuwider. Carlos von Wagner, ein arroganter Pinsel, wie er im Buche steht. Er weiß alles, er kann alles, aber er tut nichts für die Gemeinschaft. Innerhalb der Verbindung benimmt er sich wie ein Schmarotzer. Ein echter Stinkstiefel eben. Carlos studiert Jura, ist zwei Semester über mir und Fuchsmajor. Als Erstsemestriger muss ich ihm als Fuchs dienen. Ein Fuchsmajor hat das Recht, sich bedienen zu lassen. Ich muss Bier zapfen und es ihm bringen sowie andere allgemeine Assistenztätigkeiten leisten. Mit anderen Worten beschrieb es den Prozess von klein anfangen und sich hochdienen. Erniedrigungen sind allerdings nicht vorgesehen, diese widersprechen dem Anstand. Carlos lässt mich deutlich spüren, dass er von adeliger Herkunft ist und sich deshalb für etwas Besseres hält.
An einem Abend diskutieren wir sehr intensiv über politische Themen, gesellschaftliche Normen, die Entwicklung des Nationalsozialismus und die Abschaffung der Privilegien des Adels nach dem Ersten Weltkrieg. Carlos ist ein unangenehmer und sehr empfindlicher Gesprächspartner, er verträgt keinen Widerspruch. Seine Meinung gilt, alle anderen denken falsch. Er agiert zunehmend emotional und wird immer aufgebrachter in unserer Debatte. Seine Lautstärke nimmt zu, seine Stimme wird immer heftiger, als wäre die Lautstärke ein überzeugendes Argument dafür, dass er im Recht ist. Er steht auf, donnert den Bierkrug auf den Tisch, brüllt mir zu: „Sozial bist du ein Nichts!“, und stürmt türknallend aus dem Raum.
Diese wenigen Worte treffen mich tief in meinem Ehrgefühl. Innerlich bebend und mit zittriger Hand leere ich mein Bierglas und gehe auf mein Zimmer. An Schlaf ist nicht zu denken. Seine Worte wühlen in mir. Ich habe keine Idee davon, wie ich mit diesem Erlebnis und meinem inneren Aufruhr umgehen soll.
Das Stiftungsfest
Die Mittsommernacht am 21. Juni ist immer ein bedeutendes Ereignis in der Verbindung. Am ersten Wochenende danach, am Johannistag, feiern wir traditionell das jährliche Stiftungsfest. Zu diesem Fest sind nicht nur die „Alten Herren“ mit ihren Damen geladen, auch wir, die jungen Studenten, laden Mädchen ein, bevorzugt von der Pädagogischen Hochschule. Dort gibt es viele hübsche und auch zum Mitkommen gewillte junge Frauen. So geschieht es auch in meinem dritten Semester, am Samstag, dem 25. Juni 1932. Der Abend verläuft unterhaltsam mit Tanzen, Reden und Biertrinken. Wein ist zu teuer und Schnaps nicht gesellschaftsfähig. Außerdem leben wir in München, der Wiege der Braukunst. Da es keine festen Bindungen zu bestimmten Mädchen gibt, tanzen wir mit allen, die uns gefallen. Die Nacht ist wunderbar lau, daher ereignet sich so manches auch im Garten hinter dem Haus. Wobei das Haus vielmehr eine Villa ist, denn die Verbindung ist nicht arm und kann sich diese Immobilie in Schwabing in der Nähe zum Englischen Garten leisten. Ich stehe mit einigen Freunden im Garten zusammen und rauche meine Pfeife. Es ist eine studentische krumme Pfeife mit hängendem Kopf, die mein Vater schon als Student rauchte. Der Knaster, den ich gestopft habe, stinkt wie ein Wald- und Wiesenbrand, schmeckt aber irgendwie männlich. Die Pfeife sieht etwas verwegen aus und macht mich interessant.
Da kommt Heidrun auf mich zu, mit ihr hatte ich zweimal getanzt. Ein nettes Mädchen aus gutem Haus. Ihr Vater ist Lehrer am Alten Gymnasium in Bremen. Das hatte sie mir beim Tanzen voller Stolz erzählt. Es sei ein ehrwürdiges Gymnasium, das schon Anfang 1500 als Lateinschule berühmt gewesen war und heute noch ein großes Renommee in Norddeutschland hätte. Der Vater sei allerdings sehr genervt von der Disziplinlosigkeit der Schüler aus der Nachkriegsgeneration. Sie seien undiszipliniert, frech und ohne Respekt vor Autoritäten.
Der Leiter der Schule, ein Dr. Schaal, sei dagegen ein Pfundskerl. Er habe jetzt erlaubt, dass man in der Schule alle Embleme der Nationalsozialisten tragen dürfe. Zwei Lehrer, die nicht passend seien, habe er wegen rassistischen und politischen Gründen entlassen. Der Senator von Hoff habe ihm Rückendeckung gegeben und die Maßnahmen sehr unterstützt. Heidruns Vater sei froh, dass an der Schule nur sieben jüdische Schüler seien, die zudem bald ihren Abschluss machen würden. Neue Juden würden nicht aufgenommen werden.
Heidrun ist sehr national eingestellt. Ihre Tanzbewegungen sind schwungvoll, dynamisch und gekonnt. Es ist eine Freude, mit ihr zu tanzen. Vom Typ her ist sie allerdings nicht das, was ich mir für heute eigentlich wünschen würde. Sie wirkt recht konservativ und bieder.
Heidrun kommt also zu uns in den Garten. Sie wirkt verängstigt, zieht mich beiseite und sagt leise, so dass die anderen es nicht hören können: „Der Carlos macht mir Angst. Beim Tanzen wurde er zudringlich, er will mich nun unbedingt nach Hause bringen. Da Carlos mich persönlich eingeladen hat, ist das ja auch normal und eigentlich gebietet es der Anstand. Ich habe aber furchtbare Angst vor ihm. Kannst du mich begleiten?“
Es ist zwei Uhr morgens, einige Biere habe ich schon getrunken, aber ich bin nicht betrunken. Das Vertrauen von Heidrun zu mir ehrt mich. Mit stolzgeschwellter Brust versichere ich: „Natürlich mache ich das. Es ist mir eine große Ehre, dich zu begleiten. Ich garantiere dir deine Sicherheit.“
Wir suchen unsere Jacken, treffen uns im Flur an der Ausgangstür und schleichen uns davon, damit Carlos nichts bemerkt. Von der Villa in der Ungererstraße bis zu ihrer Heimatadresse, der Augustenstraße, sind es rund 60 Minuten Fußweg. Wir gehen am Siegestor, dann an der Ludwig-Maximilian-Universität vorbei, die Arcisstraße hoch, dann nach rechts in die Schellingstraße bis zur Augustenstraße.
Heidrun wohnt direkt über der Bäckerei und Konditorei Hölzl, ein Traditionsbetrieb seit 1919, wie eine Aufschrift an der Tür vermerkt. Der Eingang zu ihrer Wohnung, in der sie mit zwei anderen Mädchen wohnt, ist vom Hinterhof aus zu erreichen.
Im Hinterhof befindet sich auch die Backstube. Es ist 20 Minuten nach 3 Uhr früh, es duftet nach frischen Brötchen und Brot. Heidrun, die alle Gesellen dort kennt, fragt, ob wir vielleicht ein paar Brötchen haben könnten.
Der Bäckermeister hat offensichtlich ein Herz für Heidrun und schenkt ihr sechs Brötchen. Zwei davon bekomme ich, eines wandert noch warm in die Hosentasche, das andere gleich in den Mund.
Ich verabschiede mich, wünsche eine gute Nacht, obwohl diese ja eigentlich schon vorbei ist und ich bekomme ein zartes Küsschen auf die Wange, ein Dankeschön und sie verschwindet in der Tür. Noch nicht ganz drinnen, sagt sie noch: „Obwohl mein Vater sich mit der Schulleitung gut versteht, will er demnächst zur Wehrmacht und eine Offizierslaufbahn einschlagen. Ist das nicht toll?“ „Ja“, sage ich mit wenig Begeisterung, „ich drücke alle Daumen, dass es klappt.“
Ich mache mich, mit kleinen Umwegen, auf den Rückweg. Die Luft ist wunderbar. Die Stadt ist ungewöhnlich still, die Vögel singen bereits ihr Morgenlied und ich genieße es, allein zu sein. Auf der Höhe der Feilitzschstraße denke ich: Stopp, wenn ich jetzt hier hinunter gehe, komme ich über den Schwabinger Bach direkt zum Englischen Garten. Das ist jetzt genau das Richtige, auf dem Rasen liegen, dösen und schauen, wie der Tag erwacht. Ich beeile mich und bin um halb fünf im Englischen Garten. Der Abend in der Verbindung, die Begleitung von Heidrun und alles, was sie mir aus ihrer Familie und ihrem Leben erzählt, gehen mir durch den Kopf. Irgendwann muss ich eingeschlafen sein. Ein Schatten über mir lässt mich aufschrecken. Noch völlig benommen fürchte ich, es könnte Carlos sein, der sich an mir rächen will, weil ich ihm das Mädchen ausgespannt habe. Aber es ist nur ein Hund, der mich neugierig anschaut, mir die Nase leckt und verschwindet. Inzwischen ist es 11 Uhr vormittags. Jetzt ein Bier, eine Brezel, ein paar Weißwürste, das wäre der Knaller. Die etwas steif gewordenen Knochen müssen mühselig aktiviert werden. Der Gedanke an ein leckeres Frühstück bringt mich in Schwung. Bis zum Seehaus mit dem wunderbaren Biergarten unter den Kastanien ist es nicht weit. Ich genieße mein unbeschwertes Studentenleben und ahne nicht, wie folgenschwer und gleichzeitig segensreich diese Nacht für mein weiteres Leben sein würde.
Zurück in der Verbindung am späten Nachmittag treffe ich auf den noch immer betrunkenen Carlos von Wagner. Er lallt etwas von Unverschämtheit, Diebstahl seiner Freundin und verlangt für seine verletzte Ehre Satisfaktion. Er fordert mich zum Duell mit dem Säbel auf. Kampf ohne Gesichtsschutz, nur Kopf, Augen und Nase werden mit der Paukbrille geschützt. Eigentlich sind diese Herausforderungen strikt verboten.
Die Kameraden bereiten den Paukboden für das nächste Wochenende vor. Bei der Mensur müssen immer ein Unparteiischer, zwei Sekundanten, zwei Testanten, zwei Protokollführer, zwei Schlepper (Füchse) und zwei approbierte Ärzte dabei sein. In diesem speziellen Fall begnügen wir uns mit einem Corps-Bruder der Medizin im siebten Semester.
Die Augen von Carlos glühen hasserfüllt. Wir machen eine Hochquart, eine Parade und gewollt oder ungewollt, versetze ich ihm einen Hieb quer über das Gesicht. Von der rechten Wange bis unter die Nase, bis zur Oberlippe. Carlos blutet wie Sau und sein Gesicht ist nicht mehr hass-, sondern schmerzverzerrt. Er war schon vorher keine Schönheit, der Hieb macht es nicht besser. Carlos wird notdürftig versorgt und in die Klinik rechts der Isa gebracht.
Mein Triumph ist groß und ich werde von den anderen Verbindungsbrüdern, die Carlos so wenig leiden können wie ich, wie ein Nationalheld gefeiert. Mit viel Bier wird der Sieg begossen. Noch ahne ich nicht, dass ich mir mit diesem Sieg einen Feind für mein weiteres Leben eingehandelt habe. Das sollte sich noch rächen.
1933 ist Friedhelm unser Wortführer. Friedhelm kommt aus Bad Rothenfelde und ist der Sohn eines Direktors der dortigen Margarine-Fabrik. Friedhelm ist bereits im 7. Semester und studiert Jura. Sein Lebensstil legt die Vermutung nahe, dass er einen hohen monatlichen Wechsel von zu Hause erhält. Wie hoch diese Zuwendung ist, weiß ich nicht, über Geld wird in der Verbindung nicht gesprochen. Man hat es einfach.
Als von uns akzeptierter geistiger Führer prägt Friedhelm das Denken und Handeln in der Verbindung. Obwohl die Verbindungen überparteilich und frei von Religionen sein sollen, diskutieren wir viel und lebhaft über die aktuelle politische Entwicklung.
Aus der DAP von Anton Drexler wird die NSDAP. Sie übernimmt weitgehend das Programm der DAP und fügt nationale Elemente hinzu. Das 25-Punkte-Programm müsste bei genauer Betrachtung eigentlich jeden konservativen Bürger erschrecken.
Im Nachhinein verstehe ich nicht, warum sich die Verbindungen, mit all den Söhnen der gehobenen Schicht, für diese Partei der Arbeiter begeistern und engagieren konnten. Wir waren ja nicht wie Engels, der angesichts der geknechteten Arbeiter in der Fabrik seines Vaters die Welt verändern wollte. Für uns waren Arbeiter Menschen von niederem Stand. Menschen, die uns dienen und unseren Wohlstand mehren sollten.
Die Aufhebung des Versailler Vertrages, die Stärkung der Volksgemeinschaft, die Wiederbelebung des Nationalstolzes, die Schwächung der Juden, das sind die Punkte im Parteiprogramm, die greifen. Die Juden sind in dieser Denkweise ohnehin an allem schuld. Ist kein Verantwortlicher auszumachen, sind es die Juden. Sie sind schuld an den hohen Zinsen, sie haben das Kapital in der Hand und bestimmen an maßgeblichen Stellen die Wirtschaft.
Die NSDAP ist jedoch nur eine von mehreren Parteien in der Weimarer Republik, die ihre Abneigung gegen Juden zeigt. Wer gegen die Juden ist, sitzt nicht automatisch in der rechten Ecke bei den Nationalsozialisten. Die Ablehnung findet sich bei den Sozialdemokraten genauso wie bei den Kommunisten und Spartakisten. Gegner der Juden sind überall.
Der Urvater der Sozialisten und Kommunisten, Karl Marx, ist ein radikaler Rassist und Judenhasser. Im Jahr 1843 schreibt er an seinen Freund Arnold Ruge, wie widerlich der jüdische Glaube sei. Den Begründer des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“, Ferdinand Lassalle, beschimpft Marx 1862 als zudringlichen jüdischen Nigger. Als Lafargue 1887 in Paris in den Gemeinderat gewählt wird, schreibt Marx an Engels: „Da er in seiner Eigenschaft als Nigger dem Tierreich um einen Grad nähersteht als wir anderen, ist er ohne Zweifel der passende Vertreter für diesen Bezirk.“ Marx und andere Wegbereiter für Rassismus und Judenhass im 3. Reich sind bereits im 19. Jahrhundert aktiv.
Die chaotischen Verhältnisse, die Zerstrittenheit der Parteien und die Unfähigkeit der Regierung zu regieren, steigert das Verlangen nach einem starken Führer. Die NSDAP wendet sich immer mehr von den Arbeitern ab und den Bauern und dem Mittelstand zu. Sie bekommt Zulauf von Handwerkern und kleinen Einzelhändlern, die unter dem Konkurrenzdruck der großen Kaufhäuser in jüdischem Besitz leiden, sowie von der Beamtenschaft.
Es entsteht eine Furcht vor der Proletarisierung des akademischen Bürgertums durch die Kommunisten. So versuche ich mir auch zu erklären, warum bedeutende Personen der Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst das Regime von Hitler unterstützen. Zudem beeindruckt Hitler offensichtlich viele Damen der Gesellschaft. So pflegt er engen Kontakt zu Helene Bechstein, der Ehefrau des Pianofabrikanten, zu Elsa Bruckmann, der Gattin eines Verlegers sowie zu Winifred Wagner und zur Familie Wagner.
Macht und Geld machen wohl sexy. Ein uraltes Primatenverhalten, denke ich. Anders jedenfalls kann ich mir das Phänomen nicht erklären. Oder warum sonst erleben wir es immer wieder, dass hässliche, kleine, alte, aber mächtige und reiche Männer und junge attraktive Frauen sich gegenseitig anziehen?
1933 schlägt Friedhelm vor, dass wir alle zur SA gehen sollten, um diese starke, bedeutende Bewegung damit zu unterstützen. Was Friedhelm sagt, ist bei uns Gesetz. So folgen wir also seinem Vorschlag unwidersprochen. Die SA, die Sturmabteilung, ist eine paramilitärische Kampftruppe, die bei Veranstaltungen für Ordnung sorgt. Neben der SA entwickelt sich eine eigene Stabswache, die später zur Schutzstaffel, der SS, wird. Ich selbst wechsle 1934 zur allgemeinen SS.
Mir ist nicht bewusst, welch fragwürdiger Person ich da eigentlich folge und wessen Propaganda ich kritiklos verbreite. Adolf Hitler ist nach dem Ersten Weltkrieg ein fahnenflüchtiger Kriegsfreiwilliger ohne Pass und Staatsangehörigkeit. Er hat keinen Schulabschluss und ist ein verhinderter Künstler, da er die Aufnahmeprüfung zur Kunstakademie nicht bestanden hatte. Ohne festen Wohnsitz schläft er in Männerwohnheimen und bei politischen Freunden zur Untermiete. Er wird nach einem Putschversuch 1923 zu fünf Jahren Festungshaft wegen Hochverrats verurteilt und vorzeitig auf Bewährung freigelassen. Er hat jedoch einige Gönner, wie zum Beispiel den Gründer der DAP, Anton Drexler, und bekommt finanzielle Unterstützung von Helene Bechstein aus Berlin.
Es ist nicht nur der Corpsgeist, der mich veranlasst, der NSDAP und der allgemeinen SS beizutreten. In der Familienchronik des Reuss-Bundes kann ich lesen, dass viele Personen der Familie sich für die NSDAP begeisterten. So ist meine Begeisterung im Einklang mit der Stimmung in der Familie.
Im Juli 1891 wurde der Reuss-Bund in Gernrode im Hotel Deutsches Haus gegründet.
Alle neun Geschwister vom Forsthaus Wilhelmshof bei Harzgerode schlossen sich zu einem Familienverbund zusammen. Der Gymnasiallehrer, Prof. Dr. Carl Reuss zu Eilenburg wurde der Chronist der Familien. Seine Aufgabe war es, fortan jährlich Berichte der Familien zu sammeln. Diese wurden als Heft zusammengestellt, gedruckt und in der Familie verteilt.
Schon als Jugendlicher lese ich die Familienberichte mit großer Neugier, insbesondere die Berichte aus dem Ersten Weltkrieg. Viel Blut hatte die Familie im Krieg geopfert. Viel Enttäuschung kam nach dem Friedensschluss von Versailles, viele Existenzen waren nach dem Krieg zerstört. Aber jetzt in den 30er Jahren wird alles besser. Optimismus und neue Lebenskraft klingen aus den Familienberichten.
Die jüngste Schwester meines Großvaters, die Schriftstellerin Elly Allesch (1853-1944) schrieb: „Die weltgeschichtlichen Geschehnisse um mich kann ich nun seit 70 Jahren begreifend verstehen. Als Kind meiner Zeit habe ich 1864 Hurrah geschrien, als die Preußen die Düppler Schanzen stürmten, habe 1866 zum Sieg von Königgrätz das erste Mal die Pistole abschießen dürfen, zum patriotischen Salut. Ich erlebte, schon urteilsfähig und persönlich betroffen, den französischen Krieg in den Jahren 70 und 71. Und manches geschichtliche Drama im Volke oder auf Thronen wurde mir Erfahrung im Völkerdasein. Und schließlich erlebte ich den Weltkrieg, an dessen Folgen wir noch heute leiden. Und von Krieg zu Krieg habe ich die Vaterlandsfeinde ehrlich gehasst. Bis nun endlich alles Hassen sich in großer Menschenliebe auflöst. In Begeisterung erlebe ich nun das Dritte Reich. Und dass es einen Adolf Hitler gibt, den Gottgesandten, den Helfer für Deutschland. Aber in Sorge sehe ich zu. Was mich ängstigt für die Zukunft ist, dass die Menschen das Maß verlieren, seit die Unrast unserer Zeit sie treibt und peitscht. Alles wird übertrieben. Und jede Übertreibung rächt sich, auch wenn sie aus guter Begeisterung aufschießt.
Was war – wir können es bewahren in der Erinnerung.
Was ist – wir sollen es fassen, genießen und nützen.
Was wird – da liegt der undurchdringliche dichte Schleier schon über der nächsten Stunde“
Goslar, 21. Juni 1934
Im Rückblick wird mir bewusst, dass wir, dass die Mehrheit der Gesellschaft vieles ausgeblendet und nur das gesehen hat, sehen wollte, was in das eigene Weltbild passte.
„Es ist schlimm, blind zu sein, aber viel schlimmer ist es, nicht sehen zu wollen.“ Soll Lenin einmal gesagt haben.
Die entscheidende Frage, wie wir, wie ich, zu diesem Weltbild gekommen sind, stelle ich mir nicht. Ich frage mich nicht, warum ich in der Verbindung Friedhelm willig gefolgt bin, warum ich meine ganz leichten Anflüge von Zweifeln unterdrückt, ja vollkommen verdrängt habe. Ich frage mich nicht.
Meine erste große Liebe
Unsere ersten zaghaften körperlichen Annäherungen in Dessau finden in München eine Fortsetzung als eine intensive, vor Erotik knisternde Liebschaft. Ursula, genannt Uschi, möchte Schauspielerin werden, wie auch ihre Eltern. Sie spielte bereits im Theater in Dessau. Als wir uns in München wiedersehen, befindet sich Uschi mit ihren knapp 19 Jahren in ihrer Orientierungs- und Bewerbungsphase. In Berlin war sie an der Schauspielschule nicht angenommen worden. Wir treffen uns so oft wie möglich und unternehmen gemeinsame Wanderungen in die Berge. Wir fahren mit der Bahn nach Garmisch und besteigen die Zugspitze.
Die Zugspitze hatte schon immer einen starken Reiz für mich gehabt. Der Aufstieg ist eine große Herausforderung und wird durch traumhafte Ausblicke belohnt. Einmal war ich alleine aufgestiegen und dabei auf einer Geröllhalde schwer abgestürzt. Trotz starker Verletzungen konnte ich glücklicherweise bis zu den nächsten Häusern hinabsteigen und mich dort versorgen lassen.
Am Samstag, dem13. August 1932, wollen Ursula und ich nach Garmisch fahren und die Zugspitze besteigen. Alles ist vorbereitet, der Rucksack gepackt. Kurz vor dem Start höre ich, der Berg sei in einer Wolke verschwunden und es herrsche dort Schneeregen. Kurzentschlossen disponieren wir um.
In unserer studentischen Verbindung Ratisbonia haben wir das Glück, dass einige der alten Herren nicht nur wohlhabend sind und einen monatlichen Beitrag leisten, sondern auch großzügig spenden.
So wurde es möglich, dass in unserem Materiallager auch mehrere Fahrräder der Marke „Miele“ standen, Herrenräder selbstverständlich und bereits komfortabel ausgerüstet mit Ballonreifen und Freilaufnabe. Außerdem besitzen wir ein Faltboot von der Firma Klepper aus Rosenheim und drei Zelte mit Gummiboden. Die Zelte sind von hervorragender Qualität und haben sich bei Expeditionen bereits bewährt. Wir rüsten uns mit Fahrrädern, Zelt und einem kleinen Spirituskocher aus und machen uns auf die Reise.
Ursula macht auf ihrem Herrenrad eine sehr gute Figur. Die rund 60 Kilometer bis zum Schliersee schaffen wir, nicht ohne Anstrengung, bis zum Abend. In Breitenbach finden wir einen Platz für unser Zelt.
Die Klepperzelt-Technik ist genial und einfach und deshalb schnell aufgebaut. Für jeden von uns gibt es zwei Armeedecken, eine als Untergrund zum Draufliegen und eine zum Zudecken. Von der Fahrt erschöpft schlafen wir schnell ein. Am nächsten Morgen wärmt die Sonne unser Zelt. Ich bin früh wach und bereite ein bescheidenes Frühstück zu. Ein Topf mit Tee ist auf dem Spiritusbrenner schnell gemacht. Ein Kanten Brot, etwas geräucherter Speck und ein Stück Käse, das muss ausreichen. Ich krabbele zurück ins Zelt und flüstere Ursula ins Ohr: „Komm aus den Federn, Liebste. Der Tag ist erwacht und wartet mit einem Frühstück auf dich.“
„Von wegen Federn“, brummt sie, „das sind ganz miese Armeedecken, die ertrage ich nur, wenn du dich an mich kuschelst.“ „Recht hast du,“ erwidere ich erwartungsvoll und schlüpfe blitzschnell unter die Decke. Den Tee kann ich ja später wieder aufwärmen, denke ich und mache dann erstmal Pause mit dem Denken.
Vom Zelt aus schauen wir direkt auf die Insel Wörth. Wir mieten ein Ruderboot und erkunden die Insel. Dort finden wir einen sonnigen Platz, der uns sogar erlaubt, gegen Wind geschützt, nackt in der Sonne zu liege. Die nächsten Tage wandern wir zur Burgruine Hohenwaldeck und zur Gschwandbachalm.
Wir schlafen im Zelt und lieben uns. Wir lieben uns so, wie man sich nur in jungen Jahren lieben kann. Glücklicherweise hatte Herr Fromms seine Präservative bereits auf den Markt gebracht. Wir leben unsere sexuellen Fantasien aus und geben uns unserer Leidenschaft hin. Wir haben schöne Träume. Ursula träumt von einer gemeinsamen Zukunft und einer baldigen Verlobung, die uns binden soll. Als Frau eines angehenden Akademikers würden das Sicherheit und Stabilität in ihr Leben bringen.
Während meiner Promotionszeit erwischt es mich dann eiskalt. Meiner Mutter gefällt meine Liaison mit Ursula nicht. Meine Eltern legen ein Veto ein. Besser gesagt, meine Mutter, meinem Vater ist das egal. Mehr noch, er gönnt mir meine Freuden. Obwohl mein Studium, neben all den außerdisziplinären Aktivitäten und meinen Verpflichtungen in der Verbindung ehrlich gesagt etwas zu kurz kommt. Meine Mutter ist der Meinung, sie müsse mich vor diesem „nicht standesgemäßen“ Verhältnis schützen und mich wieder der ernsten Arbeit zuführen. Ich müsse München verlassen und meine Promotion in Leipzig fortsetzen. Dort wäre ich näher an Dessau und mehr unter ihrer Kontrolle. Die Verbindung zu Ursula wird untersagt und ich gehorche. Ich breche die Verbindung ab. Ich lasse sie einfach sitzen, mit der erbärmlichen Begründung, ich müsse mich jetzt ausschließlich um meine Doktorarbeit kümmern. Großen Herzschmerz gibt es auf beiden Seiten, aber ich stecke das besser weg, auch, weil ich ehrlicherweise noch nicht wirklich gewillt bin, eine dauerhafte Bindung einzugehen. Ich möchte noch vieles erleben. Für Uschi aber ist es ein Tiefschlag, der ihr das Herz bricht und den sie mir nie verzeihen wird.
Ursula treffe ich erst nach dem Krieg in München wieder. Ich suche und finde ihre Anschrift in München. Sie ist inzwischen eine erfolgreiche Schauspielerin. Sie ist noch immer eine Schönheit und sie geht mir nicht aus dem Kopf. Wenn ich erotischen Tagträumen folge, träume ich von ihr und unserer zügellosen Zeit in München. Ich nehme per Telefon Kontakt zu ihr auf. Wir verabreden uns im September 1955 zu einem Treffen in Hintertux und einer gemeinsamen Wanderung auf den Gletscher.
Ihr erster Mann hatte sich 1943 von ihr oder sie sich von ihm getrennt. Kommt immer darauf an, wen man fragt. Als wir uns treffen, ist sie einsam, liebesbedürftig und immer noch voller Zuneigung zu mir. Ich kann ihrem Begehren nicht widerstehen. Bereits bei der Abfahrt von München knistert es wie in alten Zeiten. Mit ihren 43 Jahren ist sie noch berauschend schön und ich mit 47 Jahren noch im vollen Besitz meiner geistigen und sexuellen Fähigkeiten. Nur die körperlichen Kräfte sind durch die Kriegsverletzung etwas geschwächt.