Kitabı oku: «Leichenstille», sayfa 3

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3. Kapitel

Sie lag auf dem Rücken. Ihr Kopf war zur Seite gefallen. Ihre vollen, ungeschminkten Lippen waren leicht geöffnet, und ein Rinnsal aus Blut hatte eine Spur übers Kinn am Hals bis zum Waldboden hinab hinterlassen. Ihre Hände lagen zu Fäusten geballt schützend übereinander auf ihrer Brust. Am Ringfinger der rechten Hand blitzte ein schmaler Ehering auf. Sie trug ihre rotblonden, langen Haare offen. Schlank war sie, über 1,70 Meter groß, teuer und edel angezogen. Aber sie war tot.

Mit fürsorglichen Gesten schloss Dr. Meiser, die Rechtsmedizinerin, die weit offenstehenden Augen mit den eisblauen, starren Pupillen, legte die Arme neben den Rumpf, und ein schwarz-roter Fleck eine Handbreit unter ihrem Schlüsselbein kam zum Vorschein. Die Handteller waren blutverkrustet. Fast andächtig schob Dr. Meiser auch die Beine und Füße, die verdreht zu beiden Seiten gelegen hatten, ordentlich nebeneinander. Vom rechten Fuß hatte sich die Stiefelette gelöst und lag einige Meter entfernt. Hatte die Frau sie beim Versuch zu fliehen verloren? Stattdessen leuchtete eine Socke in einem grell-bunten Rautenmuster unpassend fröhlich umher. Nicht weit vom Schuh entfernt lag eine geöffnete Schachtel mit Ölkreidestiften. Zehn Stück laut Aufdruck, aber es waren nur noch neun Stifte in unterschiedlichen Größen drin. Ergänzt wurde das Stillleben durch einen aufgeschlagenen Skizzenblock im länglichen Format. Die Seite zeigte die ersten Striche eines Kunstwerkes. Es war mit ungeübtem Auge nicht zu erkennen, was es einmal geworden wäre, wenn die Künstlerin mehr Zeit gehabt hätte. Sie hatte sich für Blau entschieden. Es war der blaue Ölkreidestift, der in der Schachtel fehlte.

Dr. Meiser schnitt den hellgrauen Pullover der Toten auf, die weiße Bluse darunter und auch das Unterhemd. Schwarzrot war das Blut durch alle Schichten gesickert und auf den Fasern verlaufen und zerronnen wie ein Tintenfleck. Im sonnengebräunten Brustkorb klaffte ein Loch, vielleicht ein bis zwei Zentimeter groß.

Vorsichtig, der einsetzenden Leichenstarre entgegen, drehte Dr. Meiser die Tote auf die Seite und schob den Pullover hoch, kein Austrittsloch des Projektils war zu entdecken, aber Totenflecken auf den Schulterblättern, der Wirbelsäule, dem Gesäß. Eine weitere Verletzung war eine längliche Schürfwunde am Hinterkopf. Sicher kamen weitere, auch Prellungen, hinzu, wenn sie die Tote später in den Räumen der Rechtsmedizin untersuchte.

Abschließend ordnete Dr. Meiser die Kleidung der Toten wieder. Als sie endlich von ihr abließ und sich ächzend erhob, gab sie den Blick frei für die fünf Umstehenden: zwei Kriminaltechniker aus Bonn und drei Kommissare aus Euskirchen, Oberkommissarin Frieda Stein und die Hauptkommissare Klaus Brummer und Achim Neugebauer von der Mordkommission, die sich auf den Weg nach Blankenheim gemacht hatten, nachdem die Meldung vom Fund der Toten eingegangen war.

»Eine regelrechte Hinrichtung«, sagte Dr. Meiser, zog die blauen Einmalhandschuhe aus und wandte sich an Frieda Stein. »Ein Schuss aus nächster, aus allernächster Nähe. Ehe Sie fragen, die Tote ist seit mindestens zwei Stunden tot und mit Sicherheit an den Folgen des Schusses gestorben. Das Projektil sitzt noch im Brustraum. Haben Sie irgendetwas gefunden, Papiere?«

»Nein, nichts«, antwortete Frieda. »Nur da drüben die Schachtel mit den Ölkreidestiften und den Skizzenblock.«

»Die habe ich auch gesehen.« Dr. Meiser sammelte ihr Besteck ein und verstaute es in ihrem Koffer.

»Sie ist verheiratet. Am Ringfinger der rechten Hand steckt ein schmaler Ehering.«

Dr. Meiser nickte. »Wer hat die Tote denn entdeckt?«

»Ein Förster.«

Der Zeuge, Thomas Schenk, Revierförster des Forstbetriebes Blankenheim, hatte die Tote bei seiner täglichen Runde gefunden. Um genau 9:10 Uhr. Eigentlich war es sein Hund Artur gewesen, der die Leiche, die abseits eines Trampelpfades lag, erschnüffelt und verbellt hatte. Sonst läge sie vermutlich noch immer unbeachtet im Wald und wäre irgendwann ein gefundenes Fressen für Insekten oder Wildschweine geworden. Artur war dazu ausgebildet, Kaninchen, Füchse oder Rebhühner, verletzt oder tot, aufzuspüren und sein Herrchen an den Fundort zu locken, den er selbst erst verlassen durfte, wenn das kranke oder tote Tier aufgelesen war. Aber er schien keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier zu machen. Er trug ein Halsband mit einem Peilsender, und so war Schenk nicht darauf angewiesen, mit seinem Gehör, das ausgezeichnet war, das ungestüme Gebell zu orten, sondern konnte per GPS den genauen Standort seines Hundes bestimmen.

Nachdem Schenk Artur gelobt hatte, als hätte er den heiligen Gral gefunden, versuchte er, noch an Ort und Stelle die Polizei zu benachrichtigen. Als er keine Verbindung zum Internet aufbauen konnte, befahl er Artur, die Tote zu bewachen, lief hinunter an den Waldrand und stellte sich nach hundert Metern aufs freie Feld.

Von dort nahm die Meldung ihren Weg und landete schließlich beim Chef der Mordkommission der Polizeibehörde Euskirchen, Hans Roggenmeier, der gerade erst im Büro eingetroffen und noch in Mantel und Hut war und auf der Stelle in das Büro seiner drei Mitarbeiter stürmte, wo er nur Frieda antraf. Brummer und Neugebauer waren in Kall, wo sie einer Zeugenaussage beiwohnten.

Roggenmeier bestand darauf, dass sie sofort alles stehen und liegen ließen und in den Einsatz fuhren. Vermutlich wollte er nur von sich selbst ablenken und der Tatsache, dass er für diesen Fall nicht zur Verfügung stand. Aber das wäre Spekulation. Es war sein gut gehütetes Geheimnis, wie er einen Fall anpackte. Nur eines war sonnenklar, er selbst blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen und machte von dort aus Druck, indem er sein Unverständnis darüber ausdrückte, warum alles so lange dauerte.

Und so kam es, dass nicht zwei, sondern drei Kommissare im Blankenheimer Wald eintrafen und den Zeugen Förster Thomas Schenk ablösten, nachdem dieser seine Personalien hinterlassen hatten. Artur ging stolz bei Fuß und blickte sich mehrmals um, konnte sich kaum trennen, er hatte bis dato wohl noch keine menschliche Leiche aufgestöbert.

Dr. Meiser musterte Frieda Stein mit skeptischem Blick. »Frieren Sie?«

Frieda fror nicht, weil es kalt war, obwohl es das war, die Kälte kam in ihrem Fall aber eher von innen. Ein Zittern durchlief sie von den Sohlen ihrer Sneaker, an denen nasse, braune Blätter und Zweige klebten, bis zu den schwarzen Haarspitzen, die kurz und wild in alle Richtungen abstanden.

Kein Wunder. Da lag zu ihren Füßen eine tote Frau. Wann würde sie selbst da liegen? Ihr eigener Tod rückte in greifbare Nähe. Eine Frage der Zeit. War es bisher nur dem Glück, dem Zufall oder dem Schicksal zu verdanken, dass es sie noch nicht erwischt hatte?

Sie stand als Polizistin im Brennpunkt. Morddrohungen waren keine Seltenheit. Sie sollten ernst genommen werden, hieß es in der Polizeibehörde, aber nicht verängstigen. Leicht gesagt. Wenn ein Drohbrief in Friedas privatem Briefkasten in der Reinaldstraße lag, war das eine andere Sache, als wenn er im Büro eintrudelte. Danach konnte sie die nächsten Nächte nicht schlafen.

Dr. Meiser, die von kleiner, kompakter Statur war und mit ihrer klassischen Vogelnestfrisur auch nur wenige Zentimeter hinzugewann, musste sich recken, um eine Hand auf Friedas Stirn zu legen. »Haben Sie Fieber?«

»Quatsch!« Frieda schob die Hand ungeduldig weg. »Ich bin okay.« Ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Sie hatte sich einen Moment gehen lassen, war ihren Gedanken gefolgt, aber nun war sie wieder da. »Tatort gleich Fundort?«, fragte sie schnell.

Dr. Meiser drapierte ihren langen, bunten Schal neu.

Brummer stieß Frieda in die Seite. »Nach der Obduktion.«

»Gut aufgepasst.«

»Irgendetwas Auffälliges, was Sie uns jetzt schon sagen können?«, wollte Frieda wissen.

»Sie hat Farbe unter den Fingernägeln, an einer Hand und am Unterarm. Blau«, lächelte Dr. Meiser. »Sie hatte wohl gerade ihre blaue Phase.«

»Und der blaue Stift fehlt in der Schachtel«, sagte Neugebauer. »Das habe ich notiert. Vielleicht finden wir ihn noch.«

Dr. Meiser hörte nicht mehr zu. Sie zog ihr Handy hervor und beugte sich über das Display. Sie war immer in Eile, immer auf der Durchreise, von einem Leichenfund zum nächsten. Dass sie ein Privatleben hatte, konnte Frieda sich nicht vorstellen. Mit gesenktem Kopf strebte Dr. Meiser ihrem verstaubten Sportwagen entgegen, den sie am Waldrand hatte stehen lassen, stolperte über den Markierungskeil für eine Reifenspur und konnte sich im letzten Moment am Kotflügel festhalten. Sie stieg ein, warf den Motor unsanft an, klappte die Scheinwerfer auf, ließ sie aufleuchten und fuhr ein gutes Stück schlingernd rückwärts, ehe sie auf der Nebenstraße wenden konnte. Richtung B 51 brauste sie davon.

»Opel GT Baujahr 63«, brummte Brummer anerkennend.

»Wer’s braucht«, kommentierte Neugebauer.

»Da würde ich gar nicht reinpassen.« Brummer bog seinen Brustkorb vor, die Schultern zurück und strich sich über seinen grau gewordenen Schnäuzer. Er war nicht muskulös, er wurde einfach nur dicker mit jedem Lebensjahr, das vorüberstrich.

Neugebauer winkte ab. »Wäre auch zu peinlich, so ein alter Sack im Sportwagen.«

Die Kollegen der KTU hatten inzwischen genügend Fotos von der Toten, dem Fundort und dem Zuweg geschossen. Sie sicherten die Schachtel Ölkreidestifte und den Skizzenblock. Sie sammelten die Stiefelette ein, auf der Sohle standen die Marke und die Größe. Gabor, Größe 39. Der Ehering, den sie der Toten vom Ringfinger gezogen hatten und in den ein Datum und ein Männername eingraviert waren, wanderte in einen kleinen Plastikbeutel. Felix # 1. Juni 2001.

Abschließend zeigte einer der Kollegen Frieda eine Visitenkarte, die in einer der Gesäßtaschen der Edel-Jeans gesteckt hatte. Jeder Mensch ist ein Künstler, stand auf der Vorderseite.

»Joseph Beuys«, sagten Brummer und Neugebauer wie im Chor.

»Was ihr alles wisst!«, rief Frieda erstaunt.

»Das weiß doch jeder«, erklärte der Techniker großspurig. »Beuys meint jedoch die prinzipielle Möglichkeit, Künstler zu sein.

»Aha.« Frieda trat neben ihn, als er die Visitenkarte umdrehte. Zartbunte Seifenblasen oder Luftballons schwebten um die Buchstaben und Zahlen herum.

»Malwestt, Inhaberin Anna Jordi«, las er vor. Telefonnummer, E-Mail-Adresse und Homepage waren ebenfalls vermerkt. Die Anschrift war eine Straße in Blankenheim, vermutlich keine tausend Meter von der Stelle, an der sie standen.

Frieda betrachtete die Karte eingehend. Die Schrift war verschnörkelt. Waren das Name und Anschrift der Toten? »Also, ich trage nicht meine eigene Visitenkarte mit mir herum, wenn ich im Wald spazieren gehe«, sagte Frieda.

»Sie könnte es aber anstelle ihrer Papiere getan haben«, argumentierte Neugebauer. »Sie hatte keine Lust, das ganze dicke Portemonnaie und so weiter mitzunehmen.«

»Ohne Handy geht doch heute niemand mehr vor die Tür?!«, hielt Frieda dagegen. »Wir sollten eher davon ausgehen, dass der Täter alle Identitätsnachweise an sich genommen hat und ihm die Visitenkarte nur entgangen ist.«

»Sehe ich auch so«, gab Brummer zu. »Aber was soll Malwestt sein? Eine Galerie vielleicht?«

»Oder ein Geschäft für Malerbedarf?«, spekulierte Neugebauer. »Farben und Pinsel und so.«

Brummer zückte sein Handy, tippte die Telefonnummer ein, die auf der Visitenkarte stand, und versuchte eine Verbindung zum Internet herzustellen. Fluchend gab er auf. Hatte er etwas anderes in einem Waldgebiet der Eifel erwartet?

Aber wenigstens die Handykamera funktionierte. Brummer kniete nieder und machte Nahaufnahmen vom Gesicht der Toten. Wenn sie Anna Jordi war, mussten sie ihrem Ehemann, Felix, jetzt gleich, in ein paar Minuten, die schreckliche Nachricht überbringen. Wenn die Tote nicht Anna Jordi war, würden sie ihre Identität erst herausfinden müssen. Da konnten ein paar Tage ins Land gehen. Aber am Ende stand auch da die Todesnachricht. Ein Horror-Job.

Hoffentlich, flehte Frieda im Stillen, hatte sie keine Kinder. In Momenten wie diesen wünschte sie, sie wäre nicht in der Mordkommission, sondern in einem anderen Dezernat, vielleicht im Betrugsderzernat.

Als der Leichenwagen heranrollte und sorgsam um die Markierungskeile herumgelenkt wurde, war Frieda dankbar für den kleinen Aufschub. Die Bestatter erledigten ihre Arbeit pietätvoll, routiniert, jeder Handgriff saß. Keine Viertelstunde war vergangen, als der Kofferraumdeckel hinter dem Sarg zuschlug. Die Künstlerin trat ihre letzte Reise an. Still, stumm, leise. Für immer. Die Bestatter grüßten, stiegen ein und chauffierten die Tote wie vereinbart in die Kölner Rechtsmedizin, wo sie irgendwann untersucht werden würde.

Es war mit einer Wartezeit zu rechnen. Die Kühlfächer in Köln waren gut gefüllt. Die Rechtsmedizin Aachen und Bonn war geschlossen worden, für die Region war allein Köln zuständig. Die Planstellen der Rechtsmediziner gekürzt. Tote konnten warten. Es musste eine besondere Schwere der Tat vorliegen, dass eine Leiche der anderen vorgezogen wurde.

Die beiden Kriminaltechniker hatten die nähere Umgebung nach weiteren Fußspuren, umgeknickten Zweigen, Spuren einer Verfolgung oder eines Kampfes und dem blauen Ölkreidestift durchstreift, ohne etwas zu finden. Es blieb bei der Stiefelette, dem Ehering, dem Skizzenbuch und der Schachtel Ölkreidestifte. Als sie den Ort des Geschehens verlassen hatten, blieb nur die Mordkommission Euskirchen zurück.

»Und jetzt?«, fragte Frieda eher rhetorisch und scharrte mit der Spitze ihres Schuhs im Waldboden. Jetzt mussten sie die Todesnachricht überbringen. Sie sah nicht die Blicke, die ihre Kollegen wechselten.

»Du fährst ins Büro, Chef«, sagte Brummer zu ihr.

Sie war nicht ihre Chefin. Nicht im dienstlichen Sinne. Das war und blieb Roggenmeier bis ans Ende aller Tage. Sie war noch nicht Hauptkommissarin. Gerade eben war sie Oberkommissarin geworden. Aber zwei Jahre zuvor hatte sie aus rein organisatorischen Gründen einmal die Leitung einer Soko, der »Soko Campingplatz«, übernommen, seitdem haftete der Titel an ihr.

»Achim und ich fahren zum Ehemann«, erklärte Brummer. »Du kannst in der Zwischenzeit mal den Background dieser Familie Jordi recherchieren.«

»Gute Idee«, versicherte Neugebauer. »Beruf, Werdegang, Umfeld, du weißt ja, wie das geht, oder Chef?«

Frieda blickte zweifelnd von einem zum anderen. Das Angebot klang verlockend. Sie würde auch notfalls das Büro putzen, alles lieber, als in die Gesichter der Angehörigen zu blicken, wenn die Worte heraus waren. Frieda hatte ihr eigenes Auto dabei, Brummer und Neugebauer waren aus Kall gekommen. Nichts sprach dagegen und niemand.

Außer einer inneren Stimme. Rechtsmediziner a. D. und Vater Dr. Helmut Stein, sein verbittertes Gesicht und seine wütende Parole: Man drückt sich nicht vor schwierigen Aufgaben, wenn man aus seinem Leben etwas machen will!

»Nun geh schon«, drängte Neugebauer. »Wir kommen nach. In einer Stunde ist der Spuk vorbei. Wenn wir zu dritt kommen, kriegen die Jordis gleich die totale Panik. Je nachdem, wie es läuft, rufen wir unseren Psycho-Fritzen oder den Seelenfänger dazu. Wir sind schon groß.«

Frieda rückte schließlich die Visitenkarte heraus und reichte sie den Kollegen. »Und wenn es Kinder gibt?«

Neugebauer legte die Hände auf ihre Schultern, drehte sie herum, schob sie zu ihrem Auto und sagte. »Du kannst sie nicht retten, wann lernst du das?

»Tschö, Chef!«, rief Brummer.

Neugebauer und Brummer warteten, bis Friedas Auto außer Sichtweite war. Es war nicht so, dass es ihnen nichts ausmachte, eine Todesnachricht zu überbringen. Aber sie hatten gelernt, ihr Gefühlsleben hinter einem routiniert wirkenden Auftreten zu verbergen. Jedenfalls im Einsatz. Sie hatten zehnmal so viele Dienstjahre auf dem Buckel wie Frieda. Brummer stellte den Kragen seiner speckigen Lederjacke hoch und vergrub die Hände in den Taschen. Neugebauer blinzelte nervös, ließ seinen Trench offenstehen, sodass man das karierte Winterfutter sehen konnte, und ging voraus.

»Packen wir’s an«, sagten sie unisono.

Malwestt war keine Galerie und kein Geschäft, sondern eine Mal-Werkstatt, fanden sie heraus. Sie warb gleich am Ortseingang von Blankenheim auf einem wildbunten Plakat für ihre renommierten Dozenten, ihre Meisterschüler, ihre außergewöhnlichen Seminare und ihre gemütlichen Unterkünfte in der Nähe und führte den Besucher über eine Nebenstraße der Bahnhofstraße unweit des Tiergartentunnels zu einem Haus mit angrenzendem Hof. Das zweiflügelige, leicht verbeulte Tor aus grau lackiertem Blech war verschlossen und über einen Mauervorsprung mit dem danebenliegenden Haus verbunden, einem typischen Fachwerkhaus mit zwei Stockwerken. Eine Treppe führte zu einer schön verzierten Haustür, einem rot blühenden Geranientopf und zwei Klingeln.

Brummer drückte auf die untere Klingel: Anna Jordi. An der oberen Klingel stand nichts. Er legte die Hand über die Augen und spähte an der Hausfassade empor. Bewegten sich Gardinen? Öffnete sich ein Fenster? Nichts. Öffnete sich die Haustür? Nein. Auch im Obergeschoss nicht. Kein Wunder, dachte Brummer, wenn sie doch auf dem Weg zu einem Kühlfach der Rechtsmedizin Köln war.

Brummer wählte die Telefonnummer, die auf der Visitenkarte angegeben war. »Anrufbeantworter«, rief er Neugebauer zu. Er hinterließ keine Nachricht. Für wen auch?

Er beobachtete, wie Neugebauer hochsprang, um einen kurzen Blick über das Tor hinwegzuwerfen, ungeduldig dagegentrat und ihm eine neue Beule versetzte. Der Abdruck seiner Profilsohle war deutlich erkennbar.

Brummer stieg die Treppe hinunter. Der Handlauf war wacklig, die Stufen ausgetreten. Mit einem sägenden Geräusch wurde ein Flügel des Hoftores aufgezogen. Er schabte über den unebenen Boden.

»Ja, bitte?«, fragte eine Frau. Sie trug eine blaue Latzhose, die mit Farben bekleckert war. Ihre Haare hatte sie mit einem bunten Tuch zurückgebunden.

»Frau Anna Jordi?«, fragte Brummer von der vorletzten Stufe.

»Nein, das bin ich nicht. Anna Jordi ist die Leiterin unseres Kurses.«

Brummer zog seinen Ausweis hervor und näherte sich.

»Polizei?« Die Frau runzelte die Stirn. Sie zog das Tor auf und gab den Blick frei auf einen gepflasterten Innenhof, in dem kreuz und quer Staffeleien standen, Stühle, Bänke, ein Tisch, Eimer, Töpfe, eine Wasserstelle, Tücher und Lappen. Ein Teil des Hofes war überdacht und für die kalte Jahreszeit mit Terrassenheizung ausgestattet. Zwei weitere Frauen legten ihre Malwerkzeuge ab und traten neugierig heran.

»Polizei«, rief sie ihnen zu.

»Und wer sind Sie?«, fragte Brummer und blickte von einer zur anderen.

Alle drei Frauen waren, wie sich herausstellte, Teilnehmerinnen des Malkurses »Acryl für Anfänger« und sprachen durcheinander.

Neugebauer wühlte in seiner Jackentasche nach seinem Notizblock und sah aus, als versuchte er, sich derweil ihre Namen zu merken. »Gibt es noch mehr Teilnehmerinnen?«

»Wir sind insgesamt sechs Frauen und ein Mann.«

»Wo sind denn die anderen?«, fragte Brummer.

»In ihren Hotels? Wir fangen um zehn Uhr an. Aber nicht alle sind immer pünktlich.«

»Können Sie uns ihre Namen nennen?«

»Oh ja!« Jede der drei Frauen konnte einen Namen beisteuern.

Neugebauer hatte seinen Notizblock gefunden und schrieb mit einem seiner vielen Mini-Bleistifte von IKEA.

»Unser Quotenmann heißt Burkhard.« An dessen Familiennamen konnte sich keine der Frauen erinnern.

»Warum wollen Sie das alles denn wissen?«, fragte die Frau in der Latzhose.

»Das können wir Ihnen jetzt noch nicht sagen«, winkte Neugebauer ab.

»Laufende Ermittlungen?«

Neugebauer zwinkerte ihr zu. »Sie gucken Tatort?«

»Wir auch«, riefen die beiden anderen Frauen im Chor und fanden einen Augenblick zurück zu ihrer guten Laune.

»Wo finden wir Anna Jordi jetzt?«, antwortete Brummer.

»Bei ihrer Mutter. Sie wohnt auch hier in Blankenheim, Am Lühberg, Pension Schmidt

Neugebauer mischte sich ein. »Gibt es ein Foto von Frau Jordi?«

»Ja!«, rief die Dunkelhaarige. »Von ihrer letzten Ausstellung. Warten Sie, hier muss irgendwo ein Flyer herumliegen.« Sie lief davon, verschwand am Ende des Hofes und kehrte nach kurzer Zeit mit einem Faltblatt zurück. »Hier! Das ist sie.«

Sie war nicht die Tote im Wald. Anna Jordi war nicht mehr jung, sah nicht besonders extravagant aus, sondern wirkte bodenständig, eher wie eine Handwerkerin. Das braune Haar in einem praktischen Kurzhaarschnitt, ein sympathisches, ungeschminktes Gesicht, Holzfällerhemd, hochgekrempelte Ärmel, Jeans.

Brummer zückte sein Handy und öffnete seine Fotogalerie. Sie gab die neuesten Fotos preis: die Fotos der Toten. Er hielt sein Handy so, dass die drei Frauen das Display sehen konnten.

»Das ist ja Nadine!«, schrie die Latzhosenfrau auf und schlug die Hand vor den Mund.

Die anderen nickten blass und erschüttert.

»Nadine …?«

»Nadine Dürkheim«, hauchte sie.

»In welchem Hotel wohnt sie?«

Die Frauen berieten sich kurz. »In der Pension Schmidt, die Annas Mutter gehört, ist sie … ist sie …?«

Neugebauer nickte. So viel durfte er verraten, im Übrigen sprachen die Fotos Bände. Nadine Dürkheim sah nicht sehr lebendig aus. »Was wissen Sie von ihr? Ich meine: privat? Sie ist verheiratet, nicht wahr?«

»Ja, und sie hat einen Sohn im Teenageralter.«

»Sie hat keinen Job, hat sie gesagt. Aber sie sucht auch keinen.«

»Das ist wohl ihre erste Kunstreise.«

Die Frauen blickten sich fragend an. Mehr schien ihnen nicht einzufallen.

»Sie ist …. ich meine, sie war nicht sehr gesprächig.«

Die Kommissare bedankten sich für die Mitarbeit, ließen ihre Karten da und kündigten an, am nächsten Morgen wiederzukommen. Keine von ihnen, baten sie, solle den Kurs verlassen und abreisen, sie würden gebraucht für Zeugenaussagen.

Auch nachdem das graue Hoftor hinter ihnen geschlossen war, hörten Brummer und Neugebauer noch die erregten Frauenstimmen.

»Jetzt ist mir aber die Lust am Malen echt vergangen.«

»Arme Nadine.«

»Ich hab mich schon gefragt, wo sie bleibt, sie ist doch sonst so pünktlich.

Nach einer Weile des ergriffenen Schweigens, Klapperns und Rückens: »Der eine war echt nett, oder?«

Kichern.

»Welcher?«

»Der Linke, starker Typ.«

Kichern.

»Nö, der Rechte, der war cool.«

Kichern.

Auf dem Weg zum Auto stritten Brummer und Neugebauer um die Ehre, entweder ein starker Typ oder cool zu sein, und kamen zu dem Schluss, dass der »Malkurs für Anfänger in Acryl« von ziemlich attraktiven Teilnehmerinnen besucht wurde.

Nach einem Blick auf die Handyfotos bestätigte Anna Jordi, dass es sich bei der Toten um Nadine Dürkheim handele, eine ihrer Kursteilnehmerinnen. Ihre Mutter kramte die Buchungsunterlagen hervor, aus denen die Anschrift der Toten zu entnehmen war. Sie kam aus Weilerswist und hatte einen Kurs vom 3. bis zum 9. März gebucht. Auch eine Mobilfunknummer, unter der sie zu erreichen war, war vermerkt. Neugebauer hielt alle Daten in seinem kleinen, verknickten Notizbuch fest. Brummer blickte sich neugierig um.

»Wollen Sie nicht bei ihr zu Hause anrufen?«, fragte die alte Dame verwundert.

Brummer schüttelte den Kopf und hob den Zeigefinger. »Die Polizei ruft nie an. Wir kommen immer persönlich.«

»Aha«, sagte sie irritiert. »Gut zu wissen.«

»Jaaa«, sagte er gedehnt und dachte an die Anrufer, die sich als Polizisten ausgaben, ein Schreckensszenario entwarfen, um angeblich Schmuck und Geld sicherzustellen. Auf die hatte er einen besonderen Zorn. Mehr noch als auf die Enkeltrickbetrüger. Es war unendlich schwer, ihnen das Handwerk zu legen.

Die Kommissare durften auf Nachfrage das Zimmer sehen, in dem Nadine wohnte, gewohnt hatte, und in dem sie wenig Persönliches vorfanden. Toilettenartikel im Bad, Wäsche in der Kommode, Hosen, Pullover, Blusen. Auf dem Nachttisch lagen Schlüssel, Handy und ein Buch, John Burnside: Über Liebe und Magie. Ein schmales Lesezeichen verriet, dass Nadine nicht viel zum Lesen gekommen war und das Buch gerade erst begonnen hatte. Von Malutensilien war keine Spur.

»Die sind alle in der Malschule«, erklärte Anna Jordi auf Nachfrage. »Auch die Arbeitskleidung lassen wir da, damit wir die Hotels nicht damit schmutzig machen. Wir ziehen uns dort um. Es gibt eine Dusche dort und Schließfächer.«

»Und Sie selbst wohnen direkt neben der Schule?«, fragte Neugebauer, um seine Notizen zu vervollständigen.

»Ja, oben im ersten Stock. Das Erdgeschoss gehört zur Werkstatt. Da können wir uns Kaffee kochen, uns ausruhen und gemütlich unterhalten.«

Neugebauer blickte durch die Gardinen in den Innenhof, in dem ein rotes Auto parkte. »Wem gehört der Mini Cooper da unten?«

»Ihr«, sagte Frau Schmidt beinah ehrfürchtig. »Was passiert nun damit?«

»Keine Sorge«, beruhigte Brummer sie. »Es wird in den nächsten Tagen abgeholt.«

Frau Schmidt wusste zu berichten, dass Nadine Dürkheim am Morgen vor dem Frühstück zu einem Spaziergang aufgebrochen sei, wahrscheinlich um zu malen, denn sie habe einen Skizzenblock bei sich gehabt. Aber sie sei zum Frühstück nicht zurückgewesen. Da habe sie ihre Tochter angerufen, um sich zu vergewissern, ob Frau Dürkheim schon in der Malschule sei und sie das Frühstück abräumen könne.«

»Aber sie war nicht in der Werkstatt«, ergänzte Anna Jordi und strich ihrer Mutter beruhigend über den Arm. »Wir haben uns Sorgen gemacht, deswegen bin ich hier.«

»Verstehe«, sagte Neugebauer und blätterte in seinem Notizbuch zurück. Sein Telefon vibrierte. Es war Frieda Stein, die versuchte, ihn zu erreichen, er nahm das Gespräch nicht an, der Zeitpunkt war denkbar schlecht.

»Frau Dürkheim«, begann Frau Schmidt, »ich meine, ihrem Mann werde ich die Kosten für die Unterkunft natürlich erstatten«, beteuerte Frau Schmidt leise. »Die Arme. So eine freundliche Person.«

Brummer nickte, er mochte es, wenn Frauen bei aller Geschäftstüchtigkeit Anstand und Würde nicht aus den Augen verloren.

»Das würde ich auch gern«, sagte ihre Tochter zögernd. »Aber da müssen wir mit Pandora verhandeln.«

»Pandora?«, fragte Brummer nach, während er zusah, wie Neugebauer den Stenografen machte. »Ich kenne nur die Büchse der guten Frau.«

Anna Jordi lächelte wissend. »Das tun wir wohl alle. Aber Pandora heißt die Allbegabte. Jedenfalls, wir sind bei Pandora unter Vertrag. Das ist ein bekanntes, regionales Unternehmen, das Kunstreisen in der Eifel vermittelt. Wir zahlen eine Vermittlungsgebühr von 20 Prozent, aber nur, wenn ein Vertrag mit einem Kunden zustande kommt. Die Aufnahme in den Katalog ist gratis. Ohne eine Agentur wie Pandora ist es für uns fast unmöglich an Kunden zu kommen. Die Konkurrenz ist groß, wissen Sie.«

»Das kann ich mir denken«, sagte Brummer. »Können wir den Katalog einmal sehen?«

Anna Jordi lächelte. »Pandora-Reisen gibt’s nur online.«

Brummer sah jetzt aus, als fielen ihm keine Fragen mehr ein, Neugebauer schlug seinen Block zu und steckte ihn ein.

Kaum saßen sie im Auto, rief Frieda erneut an. Dieses Mal auf Brummers Handy. Er klickte auf Freisprechen.

»Hey, Leute!«, rief sie. »Ich weiß jetzt alles über Anna Jordi. Sie leitet eine Malschule, Malwestt ist nämlich keine Galerie oder ein Geschäft. Das habt ihr sicher auch rausgefunden. Aber sie ist geschiedene Single. Vielleicht hat sie mit diesem Felix eine Verlobung oder Freundschaft. Ihre Mutter scheint noch zu leben, wenn ich mich nicht irre, wohnt sie auch in Blankenheim, es gibt eine Pension Schmidt, aber Schmidt ist kein superaußergewöhnlicher Name. Jedenfalls gibt es keine Kinder, da bin ich echt froh!« Frieda holte erleichtert Luft.

Neugebauer und Brummer wechselten einen verzweifelten Blick. Brummer öffnete den Mund, um Frieda aufzuklären, aber er kam nicht zu Wort.

»Anna Jordi wohnt in Blankenheim, auf der Klosterstraße, direkt neben der Malschule. Sie hat zwar das eine oder andere Verkehrsdelikt begangen, Falschparken und Geschwindigkeitsüberschreitung, aber ansonsten ist sie nicht auffällig geworden. Wer bringt so eine Frau um? Das wird ein harter Job. Ihr müsst mit der Mutter reden, so wie es aussieht, oder habt ihr schon?«

Schweigen.

»Seid ihr noch da?«, rief Frieda ins Telefon.

»Klar«, brummte Brummer.

»Und?«

»Die Tote ist nicht Anna Jordi.«

Schweigen.

Dann sagte Frieda leise: »Hab ich mir sofort gedacht.«

»Die Tote heißt Nadine Dürkheim und war Teilnehmerin eines Malkurses. Sie wohnt in Weilerswist und hat einen Ehemann namens Felix.«

»Haben sie Kinder?«, rief sie.

»Wir sind auf dem Weg dorthin.«

»Haben sie …?«

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