Kitabı oku: «Der Schlüssel zur Tragödie», sayfa 6
4.2.3. Weiterleben(müssen?)
Der dritte Akt (409–813) nimmt mit seinen 400 Versen gut ein Drittel des gesamten Stückes ein. Seneca führt konsequent die Grundfragen des Stückes weiter und widmet sich nach der Beschäftigung mit dem Tod nun dem Leben und der Frage nach dessen Sinnhaftigkeit. Protagonistin der Szene ist Andromache, die ihren Sohn Astyanax vor den Griechen im Grabhügel ihres verstorbenen Mannes Hector verborgen hält.Accius1 Odysseus macht sich im darauffolgenden Rededuell daran, ihr das Geheimnis des Verstecks zu entlocken und sie zur Herausgabe ihres Kindes zu bewegen.
Andromache nimmt in ihrem Eingangsmonolog lose Bezug auf das erste Chorlied und die trauernden Trojanerinnen (Quid, maesta Phrygiae turba, laceratis comas, / miserumque tunsae pectus effuso genas / fletu rigatis?, 409–411). Andromache stilisiert ihre eigene stumme Trauer gleichsam als stoisch-empfindungslos (torpens malis rigensque sine sensu fero, 417) und als dem banalen Weinen der Trojanerinnen überlegen. Allerdings entspricht diese scheinbare Emotionslosigkeit nicht der Realität: Andromache ist TragödienTroadesrasend vor Trauer um Hector und vor Furcht um Astyanax. So bringt sie den Wunsch vor, Hector in den Tod zu folgen und sieht sich nur durch Astyanax daran gehindert (Iam erepta Danais coniugem sequerer meum, / nisi hic teneret: hic meos animos domat / morique prohibet, 418–420). Andromache teilt sich so selbst der Gruppe derer zu, die den Tod zwar als erstrebenswert betrachten, ihn aufgrund ihrer momentanen Situation jedoch nicht wählen können.OvidEnnius2 Trotz der Aussichtslosigkeit ihrer Lage habe diese noch das Potenzial zur weiteren Verschlechterung (miserrimum est timere, cum speres nihil, 425): Andromache berichtet einem Greis, dessen Verbindung zu ihr nicht ganz geklärt werden kann,3 dass ihr nachts im Traum Hector erschienen sei und sie vor der geplanten Ermordung ihres Sohnes gewarnt habe. Andromaches Kummer über diese Gefahr für Astyanax hat jedoch einen merkwürdigen Beigeschmack. Ähnlich wie in der PhaedraTragödienPhaedra, als PhaedraTragödienPhaedra Hippolytus mit Theseus vergleicht und ihr sexuelles Verlangen gleichsam auf ihn projiziert,TragödienPhaedra4 sieht Andromache ihren Sohn als Abbild des verstorbenen Gatten und bedenkt ihn mit Ausdrücken, die einem Kind nicht angemessen sind (461–468).5 Dass es sich bei Astyanax auch bei Seneca um einen kleinen Jungen handelt, belegt die Wortwahl infans oder puer, sowie das häufig verwendete Epitheton parvus.6 Da von Andromaches prächtiger Heimatstadt nur noch ein Trümmerhaufen übrig ist, bleibt ihr als letzte Versteckmöglichkeit für das Kind Hectors Grabhügel (superestque vasta ex urbe ne tantum quidem / quo lateat infans, 482–483). Nur der Greis weiß davon und rät ihr, sie solle den Griechen erzählen, ihr Sohn TragödienTroadessei bei der Zerstörung der Stadt umgekommen. Andromaches kurze, nahezu sarkastischen Analysen der eigenen Lage treffen ins Mark, etwa als sie konstatiert, von ihrer einst so stolzen Familie seien nur noch ein Grab, ein Kind und eine Gefangene übrig (en intuere, turbae quae simus super: / tumulus, puer, captiva, 507–508). Doch gleichzeitig wirkt sie so unnahbar, dass es schwerfällt, mit ihr Mitleid zu empfinden. Es scheint beinahe, als wäre sie über das Gebrochensein schon hinaus und sei so zu einer unmenschlichen Stärke gelangt, die sie zugleich von allem abschottet. Sie kämpft bis zuletzt und weiß doch um die bittere Wahrheit, dass sie letztlich alles dem fatum unterordnen muss (fata si miseros iuvant, / habes salutem, fata si vitam negant, / habes sepulchrum, 510–512).
Kurz darauf betritt Odysseus die Bühne.7 Das Rededuell zwischen ihm und Andromache ist der Höhepunkt des Stückes.8 Zwei Gegner treffen aufeinander: Der listige Taktiker, der mit allen Mitteln sein Ziel erreichen will, und die entschlossene Mutter, die dies um jeden Preis verhindern will.
Interessant ist die Tatsache, dass Odysseus offensichtlich die Rolle des euripideischenEuripidesTro. Talthybius übernimmt.9 Bei EuripidesEuripides ist diese Figur äußerst prominent. Sie steht sinnbildlich für Gewissenskonflikte zwischen Pflichterfüllung und Opportunismus, blindem Befehlsgehorsam und Grausamkeit. Eigentlich hätte auch Seneca, blickt man auf seine anderen Tragödien und die ihn interessierenden Spannungsfelder, den Griechenboten besonders in den Fokus rücken müssen. Überraschenderweise bleibt er jedoch eine Nebenfigur mit wenig sinntragenden Passagen. Es ist Odysseus, der sich stattdessen als Vertreter des skrupellosen Politikers geriert, der alles der Staatsräson unterordnet und dabei jeglicher Menschlichkeit entbehrt.10 Seneca überträgt die Eigenschaften des Talthybius auf Odysseus und damit vom einfachen Boten in die Führungsriege. Dies bewirkt einmal, dass das Rededuell zwischen Andromache und Odysseus standesgemäß auf Augenhöhe stattfindet, und zweitens bietet die Figur des Odysseus eine adäquatere Personifikation der politisch motivierten Rücksichtlosigkeit. Odysseus TragödienTroadeswäscht seine Hände in Unschuld: Er verweist darauf, dass er selbst nur ausführende, nicht die befehlende Gewalt sei, die den Plan zur Ermordung von Astyanax ausgeheckt habe, – dies sei das fatum selbst gewesen (Durae minister sortis, 524). Er heuchelt Mitleid mit Andromache, bleibt jedoch unerbittlich. Seine Eingangsrede (524–555) wirkt beinahe unfreiwillig komisch, da er diese in Form einer captatio benevolentiae rhetorisch aufbauscht, um in einem großen Spannungsbogen schließlich den Inhalt der Prophezeiung wie ein Staatsgeheimnis zu enthüllen, während Andromache längst schon Bescheid weiß. Die gesamte Situation ist eine Farce: Die deplatzierten Appelle an Andromaches Vernunft und Empathie und die Überzeugungsversuche mit scheinbar rationalen Argumenten wirken kaltblütig und grausam.11 Seneca kritisiert die Praxis eines Befehlsgehorsams, der eigene Verantwortung ablehnt und sich hinter klingenden Worten verschanzt. In Frage gestellt wird zwar nicht der objektive Grund, den Odysseus vorbringt, denn seine Handlungsmotivation ist durchaus nachvollziehbar: Durch den Tod des Astyanax soll verhindert werden, dass Troja eines Tages wiedererstehen könne und ein neuer Krieg heraufbeschworen werden müsse. Dass dies eine berechtigte Sorge ist, zeigt Andromaches Stilisierung des Astyanax als neuer Hector, der Troja eines Tages rächen wird (469–474). Seneca prangert jedoch die Art an, wie Odysseus die Befehle durchsetzt, das offensichtliche Vergnügen, sich mit Andromache im Rededuell zu messen, obwohl von vorneherein klar ist, dass er ihr keine Chance lassen wird, sowie seinen utilitaristischen Umgang mit dem fatum, das als Vorwand für politisch motivierte Ziele herangezogen wird. Fischer erläutert hier, es handle sich gar nicht um ein fatum im stoischen Sinne, sondern nur um die Instrumentalisierung des fatum zur Durchsetzung des Willens der Griechen.12 Sie folgert daraus: „Denn die Welt der Troas ist eine Welt ohne Götter und ohne göttliches fatum. Der Mensch erfindet und instrumentalisiert die fata.“13 Ähnlich begegnet Lefèvre diesem Problem, indem er das fatum als vorgeschobenen Grund der rachedurstigen Griechen sieht.14 Er generalisiert dieses Vorgehen für das gesamte Stück und möchte so das Theodizeeproblem der TroadesTragödienTroades als nichtig erweisen, da Seneca nicht das fatum an sich als böse empfinde, sondern das Handeln der Menschen. Diese Deutung ist nicht zutreffend. Es handelt sich in den TroadesTragödienTroades sehr wohl um die Darstellung eines stoischen fatum. Odysseus und die Griechen sind nicht Ersatz, sondern Personifikation des fatum, das mit dem Menschen willkürlich verfährt. In den Griechen ist alles angelegt, was dem fatum als solchem anzulasten ist: Unerbittlichkeit, Grausamkeit, Willkür und Unausweichlichkeit. Gleichwohl ist offensichtlich, dass nicht in Frage gestellt wird, dass diese Macht existiert. Senecas Stück stellt anhand von Extremsituationen die Grausamkeit des fatum dar und zeigt Möglichkeiten des Umgangs damit auf.15
Odysseus glaubt Andromaches Lüge nicht, dass ihr Sohn bereits tot sei. Sie versucht daher zunächst, Odysseus auf rhetorischem Weg Paroli zu bieten und echtes Mitleid bei ihm zu erregen. Sie habe alles verloren, was ihr einmal wichtig gewesen sei, nicht nur ihren Sohn (U.: ubi natus est? A.: Ubi Hector? Ubi cuncti Phryges? / ubi Priamus? unum quaeris? Ego quaero omnia, 571–572). Odysseus wirft ihr Wortklauberei vor (Magnifica verba, 575), droht grausame Folter an und versucht es mit erneuten Appellen an ihre Vernunft oder ihr Mitgefühl mit den Griechen, beißt jedoch weiter auf Granit. Folter und Tod könnten sie nicht schrecken, da sie sowieso sterben wolle (Tuta est, perire quae potest, debet, cupit, 574). Dieser Satz ist ein Sinnbild für Andromaches Befinden: Sie möchte sterben, da das Leben für sie nichts mehr bietet (cupit), muss sich aber dem fatum beugen und kann den Tod deswegen nur wählen (potest), wenn dieser für sie auch vorgesehen ist (debet). Einen Moment lang scheint es, als hätte Andromaches Hartnäckigkeit gesiegt, denn Odysseus scheint geneigt, ihr zu glauben. Doch nach einem kurzen Ringen (605–612) bohrt er aufgrund der verdächtigen Körpersprache Andromaches weiter (magis haec timet, quam maeret, 618). Seneca spielt hier mit der Zuschaueremotion: Der kurzen Erleichterung folgt die Ernüchterung. Odysseus beschließt, die Sache nun mit List zu versuchen und erfüllt so das erste Mal seine sprichwörtliche Rolle (advoca […] totum Ulixen, 613–614). Er droht, da er des Astyanax nicht habhaft werden könne, Hectors Grab zu zerstören, um Achills Opferforderung wenigstens teilweise gerecht zu werden (638–639). Dies stellt Andromache vor ein grausames Dilemma: Soll sie die TragödienTroadesTotenschändung ihres geliebten Gatten erdulden und damit dessen friedliches Dasein in der Unsterblichkeit riskieren oder das Leben ihres Sohnes preisgeben (hinc natus, illinc coniugis sacri cinis, 643)? Außerdem würde Hectors Leiche so den Sohn erdrücken, was sie sich noch schlimmer ausmalt als die Ermordung des Astyanax durch die Griechen (ne pater natum obruat / prematque patrem natus, 690–691).TragödienThyestes16 In einem letzten Aufbäumen wirft sich Andromache Odysseus zu Füßen und fleht um Gnade (691–704). Mit der Geste der Hikesie kennzeichnet sie sich selbst offiziell als Schutzflehende und liefert sich Odysseus völlig aus.17 Odysseus bleibt jedoch hart: Andromache könne erst dann um Gnade bitten, wenn sie ihren Sohn herbeigeschafft habe (Exhibe natum et roga, 704). Andromache weiß, dass sie verloren hat und wiegt sich dennoch in der trügerischen Hoffnung, Odysseus könne vielleicht doch am Ende Gnade vor (Un-)Recht ergehen lassen, da sich aus seiner vagen Äußerung schließen lässt, dass es noch einen Funken Hoffnung gebe.18
Andromaches Widerstand bricht nun völlig.19 Sie fordert ihren Sohn auf, aus dem Versteck herauszukommen. Seneca erweist sich hier erneut als Meister des verstörenden Sarkasmus, als Andromache das Erscheinen des Astyanax mit den Worten kommentiert: hic est, hic est terror, Ulixe, / mille carinis (707–708). Bildlich muss die Situation auf der Bühne folgendermaßen aussehen: Aus dem hohen Grabhügel tritt ein kleiner Junge hervor. Diesen parvus hostis als Schrecken für die mille carinae zu bezeichnen, ist blanker Hohn. Auffällig ist, dass Andromache ab diesem Punkt nicht mehr von fatum, sondern nur noch von fortuna spricht (711; 735). Anders als sonst in den Tragödien fallen hier die beiden Begriffe nicht zusammen, sondern werden scharf geschieden. Für Andromache ist jedes rationale Prinzip des Schicksals aufgehoben, seine Schläge sind grausam, willkürlich und nicht durch Vernunft begründbar.20
Hatte Odysseus zuvor (704) noch in Aussicht gestellt, Andromache solle es mit Bitten versuchen, wenn sie ihm erst den Sohn ausgeliefert habe, scheint er sich dessen nun nicht mehr zu erinnern. Andromaches Argumente, der kleine Astyanax und das TragödienTroadeszerstörte Troja könnten doch wohl keine Gefahr darstellen, bleiben wirkungslos. Andromache wirft Odysseus offen Verschlagenheit, niedere Beweggründe und mangelnde Tapferkeit vor (o machinator fraudis, o scelerum artifex / virtute cuius bellica nemo occidit, 750–751). Sie bezichtigt ihn der Feigheit, da er sich höchstens bei Nacht traue, tapfer zu sein, oder bei Tage nur, wenn er ein kleines Kind töte, das ihm sowieso unterlegen sei, und er sich des Sieges gewiss sein könne (nocturne miles, fortis in pueri necem / iam solus audes aliquid et claro die, 755–756). Odysseus tritt so in Gegensatz zu Hector, der als Held im Kampf fiel. Andromaches Kritik prallt jedoch an Odysseus ab, der nun, da er sein Ziel erreicht hat, die Sache möglichst schnell beenden möchte. Er gesteht Andromache nur noch eine kurze Zeit für das Lebewohl zu. Sie verabschiedet sich von ihrem Sohn (flebilius aliquid Hectoris magni nece / muri videbunt, 784–785) und schließt in einer rührenden Geste dem lebenden Kind die Augen, als sei es bereits tot (788–789). So erfüllt sie gleichsam die Totenriten an ihrem dem Tode geweihten Sohn.21 Auffällig ist, dass Andromache nun, als sie offenkundig verloren hat und nichts mehr tun kann, um ihren Sohn zu retten, merkwürdig ruhig erscheint. Ihre Haltung ist von einem Moment zum anderen von unbändiger Wut und Kampf zu völliger Gefasstheit übergegangen. Sie schickt ihren Sohn mit den Worten in den Tod, er sei nun frei und könne zu seinem freien Troja zurückkehren (i, vade liber, liberos Troas vide, 791). Nachdem sie akzeptiert hat, dass sich der Tod von Astyanax nicht länger abwenden lässt, nimmt sie das Schicksal an und konzentriert sich auf die positiven Aspekte seines Loses. Der Tod wird als Erlösung aus der Unfreiheit und dem Leiden betrachtet, als etwas Erstrebenswertes. Und so kann sie noch nicht einmal erschüttern, als Astyanax sie um Hilfe anfleht (Miserere mater!, 792). Dies ist besonders eindrücklich, da Astyanax bei EuripidesEuripides stumm bleibt.22 Auch die Tatsache, dass Astyanax nicht seinen Henker Odysseus, sondern seine Mutter anfleht, steigert den Schockeffekt. Hier wirkt es ungleich härter, als Andromache den klagenden Knaben von sich wegschiebt und ihm gar das Jammern verbietet. Sie stilisiert ihren Sohn durch seinen drohenden Tod zum Helden (occidis parvus quidem, / sed iam timendus, 81). Dies fügt sich zu dem durchwachsenen Bild, das Andromache als Mutterfigur bietet. Es ist nicht reine Mutterliebe, die sie an Astyanax bindet, sondern vor allem dessen Fähigkeit, Hector für sie weiterleben zu lassen. Nach der Niederlage im Rededuell, die bedeutet, dass Astyanax TragödienTroadesals lebende Erinnerung an ihren Mann nicht länger bei ihr sein kann, hofft sie nur noch, dass Astyanax bald in einer besseren Welt sein werde, die nicht mehr den Zwängen des grausamen Schicksals unterworfen ist.23 Andromache scheint ihren Sohn gar um sein Los zu beneiden, da sie selbst nun ein Dasein als captiva fristen muss. Die Figur der Andromache bleibt also ambivalent: Sie scheint auf persönlicher Ebene unnahbar und lässt keine Identifikationsmöglichkeiten zu. Dennoch erscheint ihr Verhalten nach außen im Kontext der existenziellen Vernichtung würdevoll und nachahmenswert. Odysseus beendet den dritten Akt, indem er Astyanax abführt.
Der dritte Akt ist vor allem aufgrund der Sichtweise auf das fatum relevant: Dieses wird nicht länger als helfendes, sondern als grausames Prinzip gesehen. Zwar ist aus Sicht der Griechen die Entscheidung für die Ermordung des Astyanax rational erklärbar, da einem erneuten Krieg zwischen Griechen und Trojanern vorgebeugt werden soll, doch für Andromache und ihren Sohn liegt hierin kein Trost. Das fatum bedeutet für sie nur Negatives. Gleichwohl ist offensichtlich, dass Seneca nicht in Frage stellt, dass seine Macht existiert und es kein Entrinnen gibt. Der Tod ist keine Option: Andromache muss zunächst ihren Sohn beschützen, und kann sich dieser Verantwortung nicht entziehen. Doch auch nachdem sie an dieser Aufgabe gescheitert ist, entscheidet sie sich nicht für den Selbstmord. Auch wenn ein konkreter Grund, weiterzuleben, für sie nicht mehr ersichtlich ist, ist der Tod keine realisierbare Möglichkeit. Offensichtlich ist dieser Ausweg in ihrem Lebensplan nicht vorgesehen, und dies ist ihr im Innersten bewusst. Andromache weiß, dass das fatum ihr nicht erlaubt, zu sterben, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünscht. Der dritte Akt behandelt also die Problematik, ein Leben weiterleben zu müssen, das keinerlei Perspektive oder Ausweg bietet. Unmissverständlicher und eindeutiger widmet sich dieser Problematik, die Seneca in den Fokus seines Stückes rückt, das dritte Chorlied (814–860).EuripidesHec.Euripides24
Dieses kondensiert den langen dritten Akt auf knapp 50 Sapphiker.25 Das Metrum ist bereits ein Hinweis auf den Inhalt, da bereits bei HorazHoraz und CatullCatull besonders der Sapphiker für Reisegedichte verwendet wird.26 Der Chor knüpft an Andromaches Worte an, die mehrfach ihr Los beklagt hatte, als Gefangene weiterleben zu müssen. Das Lied nimmt dieses Schicksal in den Blick und befasst sich mit dem, was Gefangene erwartet und wohin sie verstreut werden (Quae vocat sedes habitanda captas?, 814). Die folgenden Verse und nahezu das ganze Chorlied bestehen aus einer TragödienTroadesAuflistung von möglichen Orten, die künftig das Exil der Trojanerinnen darstellen könnten (815–850). Der Katalog scheint zunächst als willkürliche Auswahl an Orten des homerischen Schiffskatalogs.27 Fantham hat jedoch gezeigt, dass die Auswahl der Städte stets im engen Bezug zu den Trojanerinnen steht.28 Außerdem geht die Vielzahl griechischer Orte über eine Demonstration homerischen Katalogwissens und geographischer Kenntnis hinaus:Homer29 Die schier unüberschaubare Menge an Möglichkeiten verdeutlicht Willkür und Zerrissenheit, die den Trojanerinnen drohen. Ausweglosigkeit bleibt für die überlebenden Frauen, deren Leben jeglichen Sinns beraubt wird. Nicht umsonst hatte Andromache im dritten Akt gesagt, sie suche alles: All das, was ihr Halt gegeben hat, ist nicht mehr, und selbst die bereits zerstörte Heimat und die Kameradschaft werden ihr und den anderen Frauen nun genommen. In diesem Chorlied stellt sich die Frage: Ist das Leben lebenswert, wenn man in seinem eigenen Leben gleichsam nicht mehr zu Hause ist? Und wenn das nicht der Fall ist, ist dann, vor der Folie des zweiten Liedes, der Tod nicht das bessere Los, bzw. was macht das Weiterleben noch erträglich? Die letzten Verse des Liedes verdeutlichen einmal mehr, dass es vor dem fatum kein Entrinnen gibt: Der Chor äußert den Wunsch, dass wenigstens einige Orte als Exil für die Trojanerinnen ausgenommen werden mögen und nennt dabei die Herkunftsorte prominenter griechischer Helden.30 Aber genau dies sind die Orte, an die die Trojanerinnen gesendet werden sollen, da sich die führenden Helden ihre Beute als erste aussuchen. Bitter-ironisch ist, dass der Chor als letztes und schlimmstmögliches Ziel die Heimat des verschlagenen Odysseus nennt (nocens saxis Ithace dolosis, 857) und direkt danach fragt, wohin das Schicksal wohl die Königin von Troja, Hecuba, verschlagen werde (Quod manet fatum dominusque quis te, / aut quibus terris, Hecabe?,31 858–859). Es ist natürlich auch den Zuschauern hinlänglich bekannt, dass sie eben in das verhasste Ithaca gesendet werden soll. Das fatum geht keinerlei TragödienTroadesKompromisse ein. Es regiert unerbittlich und oftmals mit dem denkbar schlechtesten Ausgang für das Individuum. Damit wird die Aussage des dritten Aktes in knapper Form verdichtet. Das fatum wird als grausame Macht dargestellt, der man sich unbedingt zu beugen hat. Das erste Chorlied macht die Dichotomie deutlich zwischen denen, die im Unglücksfalle sterben können, und denen, für die dies nicht möglich ist. Das zweite Chorlied preist die erste Gruppe glücklich, das dritte demonstriert das Leid der zweiten Gruppe. Der Tod im Vergleich zum Weiterleben ist zwar oftmals eine Gnade, bleibt aber, wenn das fatum ihn nicht vorgesehen hat, unerreichbar. Offen ist nach dem dritten Chorlied also nur die Frage, wie man diese Situation bewältigen kann, ohne daran zu Grunde zu gehen. Hiermit beschäftigt sich der vierte Akt.
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