Kitabı oku: «Stalins Alpinisten», sayfa 2

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DIE GESELLSCHAFT FÜR PROLETARISCHEN TOURISMUS

Mittlerweile sind die Brüder 25 und 24 Jahre alt. Witali ist diplomierter Maschinenbauingenieur und Jewgeni hat die Kunstakademie abgeschlossen. 1931 muss man sie sich in einem Zug vorstellen, der in die kleine kaukasische Republik Kabardino-Balkarien fährt. Die Brüder Abalakow sind kräftige und starke junge Männer geworden. Jewgeni ist noch stämmiger als sein großer Bruder, mit tiefblauen Augen, hellbraunem Haar wird er als immer heiter beschrieben. Witali seinerseits spricht schnell und scharf, er hat einen ungestümeren Charakter. Er hat ein schmales Gesicht, das später faltig wird und nie rund. Seine knochige Gestalt spiegelt die Askese wider, der er sich verschrieben hat. Seine Kahlheit schreitet voran, aber noch hat er nicht diesen Kahlkopf mit abstehenden Ohren, der der Nachwelt bekannt ist.

Eine junge Frau, Valentina Tscheredowa, ist mit dabei. Sie ist ebenfalls aus Krasnojarsk, auch sie hat das Klettern an den Stolby gelernt. Sie ist Witalis Jugendliebe. Ein erstes Herzklopfen, das ewig bleibt. Die ganzen Studienjahre lang hat Valentina brav in Sibirien am Ufer des Jenisseis gewartet. Es sei denn, sie lebte die freie Liebe, um gegen die überholten bourgeoisen Sitten aufzubegehren. Wer weiß? Wie dem auch sei, schließlich zog sie zu ihrem Zukünftigen in die Hauptstadt. Das ist der Lauf der Dinge in Sachen Ehe in diesem weiten Land. Hier ziehen die jungen Männer als Aufklärer den Trugbildern der Großstadt entgegen. Wenn sie dort einmal Fuß gefasst haben, lassen sie ihre Verlobten nachkommen, die sie im hintersten Winkel des trostlosen Flachlandes zurückgelassen haben und die befürchten, von einer eleganten Dame auf einem Moskauer Boulevard in den Schatten gestellt zu werden.

Witali hat Valentina nicht vergessen. Sicher betrachtete er am Abend nach seinen Kursen die sportliche und kräftige junge Frau, die zu Beginn der UdSSR und ihres Lebens posiert, ein Moment, den ein schmachtender Verehrer auf einem Sepiafoto verewigt hat. Mit ihrem Bubikopf ist sie der Inbegriff einer jungen und emanzipierten Kommunistin. Jetzt, da sie zivilrechtlich verheiratet sind, rollt der Zug in Richtung Kaukasus. Diesen haben Witali und Jewgeni nur das eine Mal im vorigen Sommer von den üppigen Ufern des Schwarzen Meers aus gesehen. Keiner von ihnen hat jemals einen Fuß auf einen Gletscher gesetzt. Sie sind nicht in Tälern groß geworden, nicht im Schatten schwindelnd hoher Berge geboren. Sie sind in den unendlichen Ebenen auf die Welt gekommen, die einen an Galileo zweifeln lassen, am Ufer des Jenisseis. Dieser Fluss durchzieht den gesamten Bauch Eurasiens, mächtig, glatt, faszinierend ist er das einzig Bemerkenswerte in dieser Landschaft.

Drei Tage auf Schienen. Die Sibiriaken kennen das Zugfahren. Sie verbringen ganze Monate ihres Lebens im Zug. Bis dahin sind die Brüder Abalakow fast jeden Sommer nach Krasnojarsk zurückgekehrt. Wochenlanges Reisen, natürlich um Valentinas schöner Augen willen, aber auch, um ihrem Abenteuergeist Freiraum zu geben, ermöglicht durch die Ersparnisse, die der Ingenieur Witali mit seinen ersten Patenten erwirtschaften konnte. Der Künstler Jewgeni verdient noch keinen müden Heller. Nichts Neues unter der Sonne, selbst wenn sie kommunistisch war, und sicherlich nichts, das ihre Eintracht stören könnte. In diesem Alter scheinen sie unzertrennlich zu sein, wie sie wochenlang in die unbekannten Gebirgsmassive des Altai oder Sajan vorstoßen.

Es wäre ein zu großer Exkurs, von diesen äußerst wilden initiatorischen Streifzügen zu erzählen. Ich würde einfach sagen, dass sie die Brüder Abalakow definitiv geprägt haben. Die Bären sicherlich, aber auch die zugefrorenen Flüsse, die Nächte auf einer von der Glut aufgewärmten nackten Erde, die „ohne jeden Nagel“ zusammengebauten Flöße. Welch strahlende Jugend, die ihre Schritte nach den Sternen oder dem Kompass richtet und sich zu den Quellen des Jenisseis aufmacht! Jewgeni wird darüber schreiben: „Unsere Vorräte waren aufgebraucht, wir ernährten uns von Kräutern und Beeren … Die meiste Zeit schwammen wir neben dem Floß, das in den Stromschnellen überschwemmt wurde … Wir haben uns definitiv das Reisevirus eingefangen.“

Und dieses Mal endlich der Kaukasus! Der Zug bremst laut an der Endstation, an der Pforte zum Orient, die die Russen so sehr fasziniert. Valentina, Witali und Jewgeni treffen in Naltschik ein, von wo aus man den 5642 Meter hohen Vulkan Elbrus schimmern sieht. Sie beziehen ihr Quartier in den mehr als dürftigen Unterkünften der Gesellschaft für proletarischen Tourismus4. Anders gesagt: Sie richten sich voller Freude in einem Aul ein, jenen seit Urzeiten unveränderten Steindörfern der balkarischen Hirten. Was für ein Name, diese Gesellschaft für proletarischen Tourismus! Sie wurde gerade von einer Handvoll Lenins ehemaliger Exilgenossen gegründet. Als sie in den Schweizer Bergen auf eine Revolution warteten, die selbst Wladimir Iljitsch nicht mehr zu erleben glaubte, brachen einige zu Gipfeltouren auf, manche beabsichtigten sogar, die Bergführerprüfung abzulegen. Nun ist es ihr Ziel, jungen Sowjets die Kunst des Bergsteigens beizubringen, und zwar in ihren eigenen Bergen, auch wenn sie es weiterhin alpinism nennen.

In Auf kühner Reise – Von Moskau in den Kaukasus5 teilt die Schweizer Abenteurerin Ella Maillart die plötzliche Begeisterung der Sowjets für Sport im Freien. Die Verfassung garantiert den Arbeitern ein Recht auf Urlaub und in den Fabriken sind proletarische Wandersektionen entstanden. Es geht darum, sich das gewaltige Territorium der Union im Zeichen der „sozialistischen Vaterlandsliebe“ anzueignen. Die hohen Berge sind nicht mehr wie zur Zarenzeit nur der Aristokratie vorbehalten, sondern gehören von nun an dem Volk! Auch wenn es vor allem Studenten sind, die, mit dem Segen der Partei, leidenschaftlich gern Bergsteigen gehen. Ella Maillart zieht mit einigen von ihnen los, wobei sie fast von einem Balkaren entführt wird. Sie beobachtet die „Bildungspropaganda“, die Wanderkinos, oder notiert die Absicht, die kaukasischen Völker von ihren mittelalterlichen Bräuchen und Vendettas loszureißen, um sie zu modernem Wohlstand zu führen. Das sind die Tugenden der Oktoberrevolution …

In der Alpinismussektion der Gesellschaft für proletarischen Tourismus lernen die Brüder Abalakow und Valentina, angeleitet von ein paar Kameraden, die kaum mehr wissen als sie selbst, schnell dazu. Die Gesellschaft ruht einzig und allein auf der Begeisterung ihrer Mitglieder (Pessimismus ist nämlich ein spießiger Makel), auf der Unterstützung einiger Bolschewiken, auf wenigen langen Eispickeln, Steigeisen ohne Vorderzacken und einfacher Technik. Auch wenn die Brüder Abalakow in den Stolby ohne Seil und Haken kletterten, „im Unterschied zu westlichen Kletterern“, wie ich weiß nicht mehr welcher Autor prahlt, werden sie schnell mit dieser unentbehrlichen Ausrüstung vertraut. Valentina lernt die Lektionen im Eisklettern genauso gut wie ihre Begleiter, und das Autodidaktentrio wird unmittelbar einen erstrangigen Gipfel bezwingen.

Gegen Ende des Sommers werden zwei Schweizer (die UdSSR hat sich Ausländern noch nicht verschlossen) und ihre Moskauer Begleiter am Missestau als vermisst gemeldet, einem 4425 Meter hohen Gipfel des unberührten Bezengi-Gletschersystems. Da kaum mehr als eine Handvoll aktiver Bergsteiger verfügbar ist, werden die Abalakows für die Suche mobilisiert. Sie erkunden Gletscherspalten und Séracs, durchkämmen die Wände, suchen in Winkeln und Vorsprüngen. Bald finden sie Überreste ausländischer Konserven oder Schweizer Schokolade – ein sich wiederholendes Klischee in den sowjetischen Chroniken. Die Leichen aber bleiben unauffindbar.

Was dann passierte, habe ich in allen Texten gelesen, es ist überall auf die gleiche Art und Weise beschrieben. Die Erstbesteigung. Klares Wetter, unten die ersten Wiesen, die Bäche, Almen, Weidezäune. Absolut unbeeindruckt von der Tragödie ziehen unsere Helden es vor, einen benachbarten Gipfel zu besteigen, den Dychtau. Das bedeutet auf Balkarisch „Himmelsberg“, mit seinen 5205 Metern ist er als zweithöchster Gipfel des Kaukasus der Thronfolger des Elbrus. Wer kennt schon im Westen diese kühnen Bergspitzen und Republiken, deren Namen unmöglich auszusprechen sind? Über einen überwechteten Grat, der die beiden Berge miteinander verbindet, rücken sie in Richtung Ziel vor. Es scheint unglaublich, aber nur Witali hat Steigeisen an.

Mit Valentina biwakieren sie auf 4700 Metern Höhe in schneidender Kälte. Sie haben Durst und nichts, um Schnee zu schmelzen. Die Ausrüstung ist dürftig und zusammengestückelt, statt Seilen haben sie nur Feuerwehrleinen dabei. Zum ersten Mal begeben sie sich in solche Höhen. Und doch finden sie auch hier das vertraute Ringen mit dem Felsen wieder. Ihre Hände kennen die Übung. Ihre Nerven sind die Anspannung der Ausgesetztheit gewohnt. Die endlos aufeinandergetürmten Felsblöcke ähneln den Spielzeugen ihrer Kindheit und die in den Himmel ragenden Granitspitzen rufen sie. Am Morgen des 5. September stoßen sie endlich zum Gipfel vor, nachdem sie sich durch tiefen Schnee und über einen letzten Vorsprung gekämpft haben. Unter einem Stein finden sie eine Konservendose und darin eine Notiz auf Deutsch als Beweis für den Gipfelgang. Auch sie kritzeln eine Nachricht für die Nachwelt, gezeichnet „Abalakow“.

Erstaunen in der verblüfften Welt des sozialistischen Alpinismus. Gerade haben Unbekannte im Kaukasus die Ehre der Nation gerettet! Sie haben sich dort hochgearbeitet, wohin vorher nur Fremde ihren Fuß gesetzt hatten. Man ist verblüfft, wie sie das Klettern beherrschen. Über sie wird zum ersten Mal in den Zeitungen berichtet. Man hebt ihre Eigenschaft als siberjaki und Kosaken hervor. In der russischen Vorstellung erwecken diese zwei Wörter das Bild von charakterstarken und unerschrockenen Landvermessern, die die Grenzen ihres Landes, das so groß ist wie ein Kontinent, sowohl schützen als auch erweitern. Selbst der Name Abalakow ist das genealogische Echo einer uralten Waldkultur, eines antiken Russlands, das in den unbekannten Tiefen eines „Far East“ aufgebrochen ist. Und hier sind jetzt diese Pioniere, die von nun an die Grenzen in Richtung Himmel verschieben!

Hier, auf diesem kaukasischen Riesen, beginnt die Geschichte der Abalakows. Was unsere Helden betrifft, habe ich mir das Foto, das sie unsterblich machte, lange angesehen. Links ein kräftiger Jewgeni, eine kaukasische Mütze auf dem runden Kopf. Rechts ein schmalerer Witali, ausgemergelt, mit hoher, breiter und kahler Stirn. Er ist so blond, dass seine Haare auf dem Schwarz-Weiß-Abzug fast weiß erscheinen. Sie haben beide Pluderhosen an, und wie sie da im Gras posieren, sind sie so unterschiedlich. Jewgeni strahlt eine freche Gesundheit und Kraft aus, auch in seinem offenen Blick. Witali meidet das Objektiv, sein Blick schweift wie aus Verlegenheit über die Wiese. Man erkennt am Abstand ihrer Augen, dass sie Brüder sind, an ihren Nasen und an ihren Mündern. Und dann gibt es da ein Detail, das man am Anfang gar nicht bemerkt. Sie halten sich an der Hand. Oder vielmehr scheint Jewgenis Hand auf der halbgeschlossenen Faust Witalis zu liegen.

Von nun an werden sie nur noch für diese Saison im ewigen Schnee leben. Jeden Sommer werden sie verreisen. Witali wird erst im Herbst wieder in seine Fabrik zurückkehren. Die Kunst wird für Jewgeni eine Winterbeschäftigung werden. 1932 wird er ausgewählt, ein Lenin-Monument zu realisieren. Für die Bildhauer seiner Zeit ist das ein riesiger Markt. Stalin hat beschlossen, den Kommunismus in die Landschaft einzupflanzen. Jeder Platz jedes Dorfes jeder Republik in ganz Eurasien muss seinen Wladimir Iljitsch haben, der mit einer Arbeitermütze auf dem Kopf und seinem Proletariermantel auf den Schultern mit ausgestrecktem Arm den Weg weist. Der Lenin des Bildhauers Abalakow ist für die Stadt Kertsch auf der Krim bestimmt. Ich habe einen alten Abzug dieses Werks gefunden, das später bei der Invasion der Nazis zerstört wurde. Darauf sieht man das ziemlich schlichte Abbild Lenins, vermutlich lebensgroß, nach den Regeln des sotsrealism entworfen.


Die Brüder Jewgeni (links) und Witali Abalakow, 1920

Da Lenin der Sockel ist, auf dem die junge UdSSR ruht, muss die Notwendigkeit zur Eroberung der Gipfel logischerweise in seiner Biografie begründet sein. Ein Sport, ursprünglich ausgeführt vom europäischen Adel, der seinem Wesen nach so eitel und tiefbürgerlich ist, bildet eine Herausforderung für den Sozialismus. Deswegen beschwören die sowjetischen Autoren in ellenlangen Prologen die Jahre des Propheten der Revolution im schweizerischen Exil. „Wir wissen, dass der große Lenin seine ganz besondere Freude in den Bergen fand, dass er seine knappe freie Zeit mit Wanderungen in die Schluchten, zu Wasserfällen und auf die Gipfel der Alpen verbrachte“, berichtet einer von ihnen. Wenn der brillante Geist des „großen Lenin“ in der klaren Luft während der Schweizer Verbannung aufblühte, konnte das Bergsteigen nicht konterrevolutionär sein.

Die Glanzleistungen der Brüder Abalakow sollten die Vorherrschaft des Menschen über die Natur beweisen. Ein Jahr nach ihren ersten bemerkenswerten Schritten erregen sie erneut die Gemüter. Dieses Mal ist Valentina nicht dabei. Mit einem Kameraden aus der Hauptsektion des Alpinismus der Gesellschaft für proletarischen Sozialismus unternehmen sie die gefürchtete Traverse der Bezengi-Mauer von West nach Ost. Es ist immer schwierig, einen Berg in Worten zu beschreiben. Die Bezengi-Wand besteht aus einer Reihe von Erhebungen, die alle fast 5000 Meter Höhe erreichen und die durch einen schmalen Grat voller tückischer Abbrüche verbunden sind. Dieser markiert über mehrere Kilometer die Grenze zu Georgien. Eine unglaubliche Festung, vollkommen makellos und unberührt. Sieben Tage lang schlagen sich die drei Männer durch schlechtes Wetter, im Bereich der Séracs sichern sie sich gegenseitig vor dem Absturz. Sie erklimmen nacheinander drei Gipfel, den Gestola, den Katyn-Tau und den Djangi-Tau, bevor sie schneeblind den Rückzug durch die Wand antreten.

Auf den sattgrünen Almhängen kurieren sie ihre Augen. Sie strecken sich in der Sonne aus und betrachten die weiße Hölle, aus der sie entkommen sind. Der Wind, der hoch droben die Wolken jagt, hat hier beinahe etwas von Stille. Witali sieht in der Üppigkeit der Kumuluswolken die Rundungen Valentinas, die in der Hauptstadt auf ihn wartet. Jewgeni denkt seinerseits zweifelsohne an Anna Kasakowa, die er auf einem Wanderpfad kennengelernt hat. Ein junges Mädchen aus gutem Hause, auch wenn dieser Ausdruck seit der Oktoberrevolution nicht mehr viel bedeutet. Das Anwesen ihrer Eltern wurde von den Bolschewiken konfisziert. Ich glaube, habe aber kaum Beweise für diese Aussage, dass ihr nur ein kleines Zimmer als Zuhause geblieben ist. Die gebildete Pianistin und Philologin teilt mit Jewgeni die Freude an der Kunst, aber auch die Liebe zu Reisen und Hochtälern.

Zuerst begegnen sie sich in den Bergen, wo sie die Gesellschaft für proletarischen Tourismus tatkräftig unterstützt, dann im Rahmen von Vorträgen in Moskau. Ich stelle sie mir in einer armseligen Wohnung vor. Sie spielt Jewgeni etwas auf dem Klavier vor, nackt vielleicht, während er seine Augen schließt, von der Schönheit der schwebenden Töne in den Bann gezogen. Als er sie wieder öffnet, fällt sein Blick auf ihren Körper. Sie sind jung in einer Welt, die noch jünger ist, auch wenn sie zwei kleine Jahre älter ist als er.

Eine einzige Sache bereitet Jewgeni vielleicht Sorgen: die langen Abwesenheiten, die sein Leben charakterisieren werden, um die Gebirge der gesamten UdSSR zu durchstreifen. Wie ein so vollkommenes Geschöpf der Versuchung ganz Moskaus überlassen? Auf den Fotos, die es von Anna Kasakowa gibt, zeigt sie ein stolzes Profil. Ohne Zweifel wurde diese junge Frau von allen Bergsteigern des Kaukasus begehrt. Aber Jewgeni ist der beste unter ihnen, das wird jetzt offensichtlich. Und Witali folgte der verwirrenden Leichtigkeit seines talentierten kleinen Bruders, so gut er kann.

DIE 29. EINHEIT

Die Geschichte, die auf diesen Seiten erzählt wird, ist im Westen weitgehend unbekannt. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Schauplatz, an dem sie spielt, einer imaginären Landschaft ähnelt. Wir Europäer träumen für gewöhnlich vom Himalaya, von den Tropen, von der Sahara. Wir kennen aber den Kaukasus nicht, den Tian Shan, den Pamir. Wir haben aus Eurasien die dunkle Seite der Erde gemacht, eine Welt, die es auf unserer mentalen Karte nicht gibt. Damals hatte sie einen Namen: die UdSSR …

Die abgelegene Tadschikische Sozialistische Sowjetrepublik an der Grenze zu Afghanistan und Tibet ist damals die letztgeborene der UdSSR. Die Kommunisten gründeten dort eine Hauptstadt mit dem Namen Stalinabad. Die Region wurde endlich „vom doppelten Joch der Zaren und der Verwüstungen durch die Soldaten des Emirs von Buchara“ befreit, erzählt uns ein Autor namens Mikhaïl Davidovitch Romm. Die Zaren haben demnach „die Wissenschaft zugunsten des Krieges vernachlässigt“, doch zum großen Glück kümmern sich nun die Roten darum, die gebirgigen Festungen zu erforschen. Multidisziplinäre Expeditionen brechen jedes Jahr auf, um Karten zu erstellen, die Geologie zu untersuchen oder Wetterstationen einzurichten. Mit jedem Feldzug füllen sich die weißen Flecken dieser abgelegenen Gegenden mit Maßeinheiten und Namen und gleichzeitig wird Geister- und Aberglaube verdrängt.

Und so kam es, dass es einer Expedition gelang, im gigantischen Pamir-Gebirge einen Gipfel ausfindig zu machen, der alle anderen überragt. Er ist vermutlich ungefähr 7600 Meter hoch, die Einheimischen scheinen ihn Garmo zu nennen, aber – daran soll es nicht scheitern – man soll diesen Namen sofort auf einen benachbarten Gipfel übertragen haben, um den Bergriesen in Pik Stalin umbenennen zu können. Alles muss nun „Stalin“ heißen, dem zu Ehren, der in Moskau die absolute Macht an sich gerissen hat. Der Pik Lenin, der etwas weiter im Norden liegt und den man bisher für das Dach der UdSSR gehalten hat, wird durch diese topografische Entdeckung entthront, und das entspricht stark dem Verlauf der Geschichte. Die Trotzkisten ebenso wie die Sinowjewisten und „Deviationisten“ aller Art werden im Namen der Einheitspartei denunziert. Der politisch-revolutionäre Machtkreis zittert im Stillen vor dem Genossen Stalin.

Das ist der Fall bei einem gewissen Nikolai Gorbunow, einem bekannten Bolschewiken, der Anfang der 1930er-Jahre im Komitee für die Wirtschaftsplanung eingesetzt war. Als ehemaliger persönlicher Assistent Lenins während der Oktoberrevolution wird der Mann anschließend Sekretär des Rats der Volkskommissare. Als solcher steht seine Unterschrift auf Tausenden von Dokumenten, von den ersten Regierungsdekreten wie dem Dekret für die Aufhebung der Stände oder für die Gründung der Roten Armee bis zum Erlass zum Zwangsarbeitslager auf den Solowezki-Inseln, aus dem einmal der Gulag erwachsen würde. Nikolai Gorbunow ist einer der Akteure des größten politischen Erdbebens des zwanzigsten Jahrhunderts. Das alles steht in den Enzyklopädien. Seltener steht dort, dass Nikolai Gorbunow einer der Förderer der Pamir-Expeditionen war.

Da ich kein Experte für sowjetische Politik bin und mich eher für weniger entscheidende Stunden der Menschheit interessiere, betrachtete ich die Archivfotos, auf denen Gorbunow streng in seinem Staatsbüro posiert, mit anderen Augen. Hochgewachsen, kahlköpfig, mit einer kleinen runden Brille, einem ovalen Gesicht, intelligentem Blick und festgezogener Krawatte ähnelt er darauf mehr einem marxistischen Schreiberling als einem erfahrenen Alpinisten. Man kann sich diesen eifrigen Funktionär in seinem gepflegten Anzug nur schwer in der riesigen Gletscherlandschaft Eurasiens vorstellen. Ich war erstaunt, einen solchen Staatsmann in der Geschichte des Alpinismus zu entdecken.

1933 stellt Gorbunow eine neue Expedition unter der Schirmherrschaft des Rats der Volkskommissare zusammen. Sie besteht aus nicht weniger als vierzig Einheiten und eine von ihnen, die Nummer 29, betraut er mit der für diese Zeit unvernünftigen Mission, den Pik Stalin zu erobern. Die 29. Einheit besteht hauptsächlich aus Männern, die an einer Aufklärungskampagne teilgenommen haben, die er im Sommer zuvor selbst geleitet hat. Diese waren unter anderen der Mechaniker Schianow, der Automobilarbeiter Guschin, der österreichische Kommunist Zak und die Boxer Guettier und Charlampiew. Die Erwähnung des Berufs ist in diesen äußerst sowjetischen und höchst proletarischen Darstellungen unerlässlich. Sie bestimmt die soziale Stellung des Betroffenen in einem neuen Klassensystem, in welchem einzig der gebürtige Plebejer des Vertrauens der Bolschewiki würdig ist. Die 29. Einheit nimmt auch die Dienste eines Malers und Bildhauers in Anspruch, der wohl eher für seine Kletterkünste als für seine Kunstwerke bekannt ist: Jewgeni Abalakow.

Der Ingenieur Witali Abalakow hingegen wird nicht einberufen. Ich habe mich natürlich gefragt, warum er nicht ebenfalls in diese gefährliche Unternehmung eingestiegen ist. Gefunden habe ich nur eine Version, laut der er sich selbst aus der Sache zurückgezogen habe, weil er die Auswahl der Teilnehmer angesichts dieses monströsen Bollwerks aus Eis und Schnee als zu schwach einschätzte. Ob das stimmt, weiß keiner. Alle Beteiligten haben ihre Geheimnisse mit ins Grab genommen – wenn sie denn eins haben. Vielleicht wurde Witali ganz einfach nicht von Gorbunow berücksichtigt. Was jenen betrifft, hält sich das hartnäckige Gerücht, dass er sich mit dieser Bergfahrt vor einer Repression schützen wollte, die er intuitiv befürchtete. Es ging für ihn darum, dem Genossen Stalin seine Loyalität durch die Besteigung des nach ihm benannten Gipfels zu beweisen, großmütig seine Haut zu riskieren, um sein Leben besser gegen die politischen Hinrichtungen zu feien. Wer weiß? Das könnte womöglich die Absicht Nikolai Gorbunows gewesen sein.

Jedenfalls trennt das Schicksal die Brüder Abalakow zum ersten Mal. Das Schicksal entscheidet für sie über die Berge, die sie besteigen, über ihre Ziele, über alles. Das Schicksal heißt Politbüro. Diese höhere Instanz, die die Massen regiert wie vormals der Zar. Von alldem bleibt nur ein Telegramm vom 17. Mai 1933 mit dem Briefkopf der Akademie der Wissenschaften, bei der Gorbunow Mitglied ist. Darauf ist zu lesen, dass der Alpinist Jewgeni Abalakow für mehrere Monate zur Verfügung stehen muss, aber seine Arbeitsstelle behalten und sein Gehalt weiterbeziehen kann. Er soll, steht dort, den „höchsten Punkt der UdSSR“ erreichen, „den Pik Stalin, 7600 Meter, um dort eine Wetter- und Radiostation einzurichten“. Der sowjetische Alpinismus soll der „Erbauung der Zukunft“ dienen. Offiziell zieht die 29. Einheit im Namen der Wissenschaft los. Ihre Mission ist Teil des Programms des Zweiten Internationalen Polarjahrs6.

Im Mai erreicht eine erste Gruppe Zentralasien. Jewgeni ist mit dabei, ausgestreckt in einem sengend heißen Waggon ziehen Taiga, Steppen und Wüsten an ihm vorbei. Er lässt Anna endlose Monate lang zurück. Was macht sie in diesem Sommer? 1933 ist ein Jahr schrecklicher Hungersnöte in der UdSSR. Stalin treibt die Kollektivierung der Grundbesitze voran und Tausende Bauern verlassen das Land, um in die Arbeitervorstädte zu kommen. Ich weiß nicht, ob Jewgeni das Elend durchs Fenster betrachtet. Allerdings reist er in Regionen, denen dieses Drama relativ erspart geblieben ist. In den Berichten der Alpinisten jedenfalls finden die ausgehungerten Muschiks, die von der Staatspolizei vor den Stadttoren zurückgedrängt werden, keine Erwähnung. Jewgeni und seine Kameraden brechen inmitten der von Hunger gezeichneten Provinzen zu Ehren der Sowjets und von Väterchen Stalin auf, um den Pik Stalin zu bezwingen.

In Zentralasien mangelt es an allem, angefangen bei den Lebensmitteln bis hin zu Lastwagen und Pferden. Man braucht Lebensmittelmarken, muss sich bei den staatlichen Ställen vorstellen und die örtlichen bolschewistischen Komitees aufrütteln, wo unter Lenins Portrait nun analphabetische Bauern das Sagen haben. Ich kann mir vorstellen, dass die 29. Einheit die Befugnis hatte, alles zu beschlagnahmen, was sie benötigte, um ihr Ziel zu erreichen. Sie erreicht Osch im heißen Fergana-Tal, das als Ausgangspunkt für die Expeditionen dient. Dort vollbringen die usbekischen Schuster und Schmiede bei der Herstellung der handgearbeiteten Ausrüstung Wunder. Fertig ausgerüstet begeben sich die Männer auf die M-41, eine 700 Kilometer lange Straße, die seit Neuem die abgeschiedenen Hochtäler des Pamir mit der Außenwelt verbindet. Heutzutage quälen sich schwitzende Radfahrer aus dem Westen auf ihr entlang und werden dabei auf gefährliche Weise von Lastwägen voller chinesischem Plunder überholt. Aber 1933, im Rahmen des ersten Fünfjahresplans, ersetzt die M-41 seit Kurzem die alten Karawanenstraßen. Hunderte Straßenarbeiter schufteten sich bei der Aufgabe, die Errungenschaften der sowjetischen Zivilisation den abgelegenen Hochplateaus zugänglich zu machen, zu Tode.

Der Fortschritt bringe Licht in die Finsternis der Scharia und sprenge „die Ketten der uralten Gebote des Koran“, begrüßt der Autor Romm und stellt fest, dass sich die Kolchosen nicht gut mit den „Stammesgesetzen“ vertragen. An dieser Stelle muss ich Mikhaïl Romm vorstellen, den ich bereits zitiert habe. Der ehemalige Fußballspieler, von der italienischen Presse colosso russo genannt, wurde Sportredakteur, ihm verdanken wir den Bericht über diese erste Expedition. Sein Text wurde im Zuge der stalinschen Zensuren mehrmals editiert. Ich konnte leider bei den Moskauer Antiquaren nur die letzte Ausgabe ausfindig machen, die – ihres ursprünglich unbefangenen Tons beraubt – in Tausenden Exemplaren verbreitet wurde. Ich habe sie parallel mit Jewgeni Abalakows offiziellen Reisetagebüchern verwendet. Trotz gewisser Abweichungen stimmen die beiden Texte im Wesentlichen überein, wobei sie zwei unterschiedliche Sichtweisen mitbringen: die eine von oben, die andere von unten. Romm war kein Bergsteiger.

Weder Romm noch Gorbunow sind übrigens von Anfang an bei der Expedition dabei. Sie werden später dazustoßen. Nur von Jewgeni erfährt man etwas über die ersten Schritte der Kamelkarawane, die mit zweieinhalb Tonnen Ausrüstung beladen ist. Alle Teilnehmer erhalten einen Nagant-Revolver und sie üben sich mit den Soldaten der Roten Armee, die ihnen Geleitschutz geben, im Schießen. Die Gegend wird immer wieder von aufständischen Basmatschi7 heimgesucht, die sich in die Festung des Pamir geflüchtet haben. Die Hochtäler sind noch nicht ganz Moskau ergeben. Jewgeni und seine Kameraden sind die Aufklärer des Sozialismus in den letzten Bastionen der alten Welt. In einem Text habe ich folgende Aussagen gefunden, die einem Banditen zugeschrieben werden: „Wir sind gekommen, um Sie zu bestehlen, aber Sie haben uns Essen gegeben und Vertrauen entgegengebracht“, […] „guter tapferer russischer Mann“!

Der Pamir ist eine der kontinentalsten und abgelegensten Gegenden der Welt. Der Anmarsch verspricht beschwerlich zu werden. Er beginnt mit der Überschreitung eines Passes in der trockenen und für die Alai-Kette charakteristischen Kulisse. Jewgeni schmückt seine Notizen hie und da mit der Erwähnung von Wacholder oder Sanddorn. Müde davon, auf ihren Reittieren so durchgeschüttelt zu werden, fangen viele seiner Kameraden an, neben ihren Pferden herzulaufen, bis der Abend sie zwingt, eine Weide für die Kamele zu finden, die in die Hocke gehen. Manchmal flieht in der Ferne ein verdächtiger Reiter, verfolgt von einer Schwadron der Roten Armee. Während der Nacht muss man dann nur mit einer Granate bewaffnet Wache halten.

Die Basmatschi sind jedoch nicht die einzige Gefahr. Romm erzählt, dass das eiskalte Schmelzwasser der Gebirgsbäche unter der brennend heißen Sonne und das Labyrinth der Furten über die unzähligen geröllführenden Flussarme mehr Männer umgebracht haben als die versteckte Guerilla. Von den Polargebieten abgesehen ist der Fedtschenko, zu dem sich Jewgeni und seine 29. Einheit hinbewegen, der längste Gletscher der Welt. Alles andere besteht aus Gesteinsflächen, kargen Felsen und Höhenwüsten. Eine makellose ockerfarbene Welt unter dem Feuer eines tiefblauen Himmels.

In einem Jurtenlager, letztes Zeugnis einer nomadischen Menschheit, rekrutieren sie mit Schwierigkeiten sechs Träger, die über ihre Ausrüstung staunen. Träger? Verbietet der Kommunismus nicht die Ausbeutung des Menschen, sei es nun ein „Sherpa“ oder ein Hausangestellter? Die angeworbenen Tadschiken und Kirgisen haben keine Erfahrung im Hochgebirge und doch schließen sie sich der Karawane an, die sich auf die schwarze Zunge des riesigen Fedtschenko-Gletschers wagt. Tag für Tag muss ein achtzehn Kilometer langer Weg angelegt, müssen Stufen für die Pferde geschlagen, die Moränen mit steinernen Wegzeichen markiert werden. Es gibt wenig Weiden, die Soldaten kehren um, die Expedition teilt sich in kleine Gruppen auf. Jewgeni und seine Kameraden zerstreuen sich in die benachbarten Täler, um Wildschafe zu jagen, ohne großen Erfolg. Abends im Biwak schreibt er in sein Reisetagebuch oder zeichnet Skizzen von den unberührten Gipfeln, die den Himmel bevölkern.

Es ist nun einen Monat her, dass sie Osch verlassen haben. Sie müssen sich noch einen Weg durch das Chaos eines Nebengletschers bahnen, auf den sie abbiegen, bevor sie am 8. Juli auf einer Höhe von 4600 Metern das Basislager festlegen. Das Zeltdorf nimmt langsam Gestalt an, als nach und nach die verstreuten Teile der Karawane eintreffen. Von ihren Zelten aus betrachten alle die einschüchternde Nordostwand des Pik Stalin, den sie besteigen müssen. Sie müssen es tun, es ist ihre Pflicht. Von überall hört man das Echo der herabstürzenden Steine und Séracs. Von der ersten Nacht an schreibt Jewgeni, dass er von Lawinen geweckt wird.

Die ersten Besteigungsversuche sind nicht überzeugend. Sie leiden unter Kopfschmerzen, Zweifel macht sich breit. Bei der Erkundung im Vorjahr war Gorbunow nur bis 5900 Meter gekommen. Bis zu seiner Ankunft wird die Truppe vorübergehend von Arkadi Charlampiew geleitet, seinerzeit ein bekannter Boxer. Das magere Aufgebot sowjetischer Alpinisten schöpft aus anderen Sportarten seine Leute und Jewgeni genießt beachtlichen Einfluss. Er bringt die Expedition in Schwung, die bald den Nordgrat erreicht, wo sie vor den Staublawinen geschützt ihr erstes Höhenlager aufschlägt. Es folgen heikle Biwaks in Zwei-Mann-Zelten, in die man zu dritt hineinschlüpfen muss, unzählige Auf- und Abstiege zwischen den Lagern und der erste Todesfall. Beim Passieren eines Gendarms wird der Bergarbeiter Nikolajew Opfer eines Steinschlags. „In dieser Nacht hat keiner geschlafen“, gesteht Jewgeni.

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283 s. 22 illüstrasyon
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9783702239732
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