Kitabı oku: «Charles Dickens», sayfa 9
Das achte Kapitel –
deckt eine Menge Sünden zu.
Es war interessant, beim Ankleiden vor Tagesanbruch hinaus zum Fenster zu schauen, in dessen schwarzen Scheiben meine Kerzen sich wie zwei Leuchtfeuer spiegelten, und zu beobachten, wie beim Hellerwerden die Nacht draußen schwand.
Die Aussicht wurde allmählich deutlicher, und wie sich die Landschaft zeigte, über die der Wind die Nacht über hingestrichen, fand ich ein Vergnügen daran, die unbekannten Gegenstände zu entdecken, die mich im Schlafe umgeben hatten.
Anfangs waren sie im Nebel nur schwach erkennbar, und einige verspätete Sterne schimmerten über ihnen. Dann dämmerte das Bild schnell größer und voller hervor, unmerklich vertrugen sich meine Lichter mit der morgendlichen Umgebung nicht mehr, die Finsternis in den Ecken meines Zimmers verschwand, und hell schien der Tag auf eine heitere Landschaft, gekrönt von der alten Abteikirche mit ihrem dicken Turm.
Alles im Hause war so in Ordnung und jedermann so aufmerksam gegen mich, daß mir meine zwei Bund Schlüssel nicht viel Arbeit machten. Immerhin hatte ich so viel zu tun mit dem Aufschreiben des Inhalts jedes kleinen Faches und Kastens auf eine Schiefertafel und dem Notieren, was vorrätig war an Eingemachtem und Konserven, an Flaschen und Glaszeug, Porzellan und andern Dingen, daß ich gar nicht glauben wollte, es sei schon Frühstückszeit, als ich klingeln hörte.
Ich lief hinunter und bereitete den Tee, welches verantwortliche Amt mir bereits übertragen war, und da sich alle etwas verspätet hatten und sich noch nicht sehen ließen, wollte ich den Garten ein wenig kennenlernen. Wie allerliebst, vorn die hübsche Allee und die Auffahrt, hinten der Blumengarten, und meine liebe Freundin oben am Fenster mir zulächelnd, als ob sie mich aus der Ferne küssen wolle. In der Auffahrt waren die tiefen Einschnitte der Räder, die wir gestern bei der Ankunft mit dem Wagen gemacht hatten, noch sichtbar, und ich bat den Gärtner, den Sand wieder zu glätten. Hinter dem Blumengarten befanden sich Gemüsebeete, ein Grasplatz und hübsche kleine Ökonomiegebäude. Das Haus selbst mit seinen drei Giebeln auf dem Dach, seinen abwechslungsreich geschnittenen Fenstern – einige ganz groß, einige winzig klein, aber alle entzückend –, mit seinem Spalier aus Rosen und Jelängerjelieber an der Südfront und seinem heimlichen, behäbigen, gastfreundlichen Aussehen war, wie Ada sagte, als sie mir am Arm des Hausherrn entgegenkam, ihres Vetters John würdig. Ein gewagter Ausspruch, aber er kniff sie nur dafür in die Wange.
Mr. Skimpole war beim Frühstück wieder so gewinnend wie gestern abend. Es stand Honig auf dem Tisch, und er knüpfte daran eine Bemerkung über die Bienen. Er habe nichts gegen Honig einzuwenden – und das schien sehr wahr zu sein, denn er ließ sich ihn sehr gut schmecken –, aber er wolle den übermäßigen Fleiß der Bienen nicht als Vorbild gelten lassen. Jedenfalls müsse die Biene Gefallen am Honigsammeln finden, sonst würde sie sich doch damit nicht abgeben; es verlange es ja niemand von ihr. Es sei gar nicht notwendig, daß sie soviel Aufhebens von ihren Neigungen mache. Wenn jeder Zuckerbäcker in der Welt herumschwärmen und egoistischerweise alle Leute auffordern wolle, ihn ja nicht zu stören, würde die Welt zu einem ganz unerträglichen Aufenthalt werden. Im übrigen sei es doch wirklich eine lächerliche Sache, sich aus seinem Besitz, kaum daß man ihn erworben, herausräuchern zu lassen. Von einem Fabrikanten in Manchester würde man sehr gering denken, wenn er zu keinem andern Zweck Baumwolle spänne. – Die Drohne halte er dagegen für die Verkörperung einer viel schöneren und weiseren Idee. Die Drohne sage ganz ohne Ziererei: »Ihr müßt mich schon entschuldigen, ich kann mich wirklich nicht ums Geschäft bekümmern. Ich befinde mich in einer Welt, wo es so viel zu sehen gibt und so wenig Zeit dazu ist, daß ich mir schon die Freiheit nehmen muß, mich umzuschauen und zu bitten, daß jemand für mich sorgt, dem nichts daran liegt, sich umzuschauen.«
Das war nach Mr. Skimpole die Drohnenphilosophie, und sie erschiene ihm als eine sehr gute Philosophie – vorausgesetzt, daß es der Drohne passe, mit der Biene auf gutem Fuß zu stehen, und das sei, soviel er wisse, immer der Fall, wenn nur nicht der wichtigtuende fleißige Knirps zuweilen seinerseits Späne machen und sich soviel auf seinen Honig einbilden wolle. – Er malte das Bild bis ins Kleinste aus, und es belustigte uns sehr, obgleich er die Sache ungemein ernst zu nehmen schien. – Die andern hörten ihm noch zu, als ich mich entfernte, um meinen neuen Pflichten nachzukommen. Sie nahmen mich einige Zeit in Anspruch, und ich ging, das Schlüsselkörbchen am Arm, durch die Korridore, da rief mich Mr. Jarndyce in ein kleines Stübchen, das neben seinem Schlafzimmer lag und zum Teil eine kleine Bibliothek mit Büchern und Papieren war, teils ein kleines Museum von Stiefeln, Schuhen und Hutschachteln.
»Setzen Sie sich, liebes Kind«, sagte er. »Sie müssen wissen, das ist mein Brummstübchen. Wenn ich schlechter Laune bin, gehe ich hierher und brumme.«
»Dann müssen Sie also sehr selten hier sein, Sir«, sagte ich.
»O, Sie kennen mich noch nicht. Wenn ich enttäuscht bin oder verstimmt – es liegt am Wind –, so flüchte ich mich hierher. Das Brummstübchen wird von allen Zimmern im Hause am meisten benützt. Sie kennen meine Launen noch nicht zur Hälfte, aber Gott, wie Sie zittern, mein Kind.«
– Ich konnte nichts dafür, ich nahm mich sehr zusammen, aber als ich mich allein sah mit diesem gütigen Menschen und in seine wohlwollenden Augen blickte und mich so glücklich, so geehrt und mein Herz so voll fühlte, küßte ich ihm die Hand. –
Ich weiß nicht, was ich sagte, überhaupt nicht, ob ich sprach. Er geriet ganz außer Fassung und ging ans Fenster – ich glaubte fast in der Absicht hinauszuspringen –, dann drehte er sich um, und ich sah in seinen Augen, was er hatte verbergen wollen. Er streichelte mir sanft das Haar, und ich setzte mich.
»Gut, schon gut!« sagte er. »Es ist schon vorbei. Bah, seien Sie doch kein Kind!«
»Es soll nicht wieder geschehen, Sir«, stotterte ich, »aber anfangs ist es so schwer...«
»Unsinn, Esther. Es ist leicht, ganz leicht. Warum auch nicht? Ich höre von einem guten kleinen verwaisten Mädchen ohne Beschützer und setze mir in den Kopf, ihm beizustehen. Sie wächst, übertrifft noch meine gute Meinung, und ich bleibe ihr Vormund und ihr Freund. Was ist da weiter? Also! Jetzt haben wir die Geschichte erledigt.«
Ich sagte zu mir: Esther, ich wundere mich über dich. Das hätte ich nicht von dir erwartet. Und die gute Wirkung war, daß ich die Hände über mein Körbchen faltete und wieder ganz ruhig wurde. Mr. Jarndyce sah sehr froh darüber aus und fing an, so vertraulich mit mir zu sprechen, als ob wir schon seit langem jeden Morgen beisammen gewesen wären.
»Diese Kanzleigerichtsgeschichte verstehen Sie natürlich nicht, Esther?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, wer sie überhaupt versteht«, fuhr er fort. »Die Advokaten haben sie so bodenlos verwirrt, daß die ursprüngliche Prozeßangelegenheit längst von der Erde verschwunden ist. Es handelte sich um ein Testament oder eine Hinterlassenschaft. Jetzt handelt es sich nur noch um Kosten. Wir werden beständig vorgeladen und wieder entlassen, müssen schwören, Eingaben machen und Gegeneingaben, irgend etwas beweisen, besiegeln, beantragen und berichten, uns um den Lordkanzler und alle seine Trabanten drehen und uns nach bestmöglicher Rechtsform in einen staubigen Tod walzen lassen. Alles nur wegen der Kosten. Darum handelt es sich jetzt. Alles übrige ist auf wunderbare Weise spurlos verschwunden.«
»Aber es handelte sich um ein Testament«, erinnerte ich ihn, da er wieder anfing, sich durch die Haare zu fahren.
»Nun ja, es handelte sich um ein Testament, wenn überhaupt um irgend etwas Greifbares. Ein gewisser Jarndyce erwarb sich in einer bösen Stunde ein großes Vermögen und machte ein langes Testament. Über der Frage, wie die durch dieses Testament gestifteten Legate zu verwalten seien, verfliegt das Vermögen selbst in der Luft; die Erben geraten in eine so jämmerliche Lage, als ob sie sich eines großen Verbrechens schuldig gemacht hätten, und das Testament selbst sinkt zu einem toten Buchstaben herab. In dem ganzen beklagenswerten Rechtsstreit wird alles, was jeder der Beteiligten mit Ausnahme eines einzigen bereits weiß, an diesen einzigen, der es nicht weiß, gewiesen, um es herauszufinden. Jeder einzelne muß immer und immer wieder Abschriften des ganzen Falles bekommen, was sich zu Wagenladungen von Papier aufhäuft, und muß sie bezahlen, auch wenn er sie nicht bekommt, was gewöhnlich der Fall ist, denn niemand verlangt danach, muß aber den höllischen Tanz von Kosten und Spesen und Unsinn und Korruption durchtanzen, wie ihn noch kein Hexensabbat je ausgeheckt hat. Das römische Recht fragt das bürgerliche Recht, und das bürgerliche Recht fragt wieder das römische. Das bürgerliche Recht entdeckt, daß es dies, und das römische Recht, daß es jenes nicht tun kann. Beide entschließen sich aber nicht zu sagen, daß sie beide zusammen nichts tun können, ehe nicht für A ein Solizitor bestellt ist und ein Advokat erscheint und für B desgleichen. So geht es das ganze Alphabet hindurch. Auf diese Art dauert es Jahre und Menschenalter und fängt immer wieder von vorne an und wird nie fertig. Und wir können uns unter keinen Umständen von dem Prozeß freimachen, denn man hat uns zu Parteien gepreßt, und wir müssen Parteien sein, ob wir wollen oder nicht... Aber es ist nicht gut, daran zu denken. Als mein Großonkel, der arme Tom Jarndyce, daran zu denken anfing, war es der Anfang vom Ende.«
»Derselbe Mr. Jarndyce, dessen Geschichte ich gehört habe?«
Er nickte ernst.
»Ich war sein Erbe, und dies ist sein Haus gewesen, Esther. Als ich hierherkam, war es wirklich unheimlich hier. Darum heißt es Bleakhaus, das unheimliche Haus. Er hatte die Zeichen seines Jammers allerwärts hier aufgedrückt.«
»Wie verändert muß es jetzt sein«, sagte ich.
»Es hat vordem das Hohe Haus geheißen. Er gab ihm seinen jetzigen Namen und wohnte hier ganz zurückgezogen. Tag und Nacht brütete er über den niederträchtigen Aktenhaufen des Prozesses und wähnte, allem gesunden Menschenverstand entgegen, ihn entwirren und zu Ende bringen zu können. Dabei verfiel das Haus. Der Wind pfiff durch die gesprungenen Mauern, der Regen strömte durch das baufällige Dach, und das Unkraut verwehrte den Weg zu den verfaulenden Türen. Als ich seine Leiche hierherbrachte, schien auch dem Hause das Gehirn aus dem Kopf geschossen zu sein, so zerfetzt und trümmerhaft sah es aus.«
Er ging ein Weilchen auf und ab, nachdem er dies mit einem Schauder mehr zu sich selbst gesagt hatte... Dann sah er mich an, seine Mienen hellten sich auf, und er setzte sich wieder hin, die Hände in die Taschen gesteckt.
»Ich sagte Ihnen, dies sei das Brummstübchen, mein Kind. Wo bin ich stehen geblieben?«
Ich erinnerte ihn an die wohltätige Veränderung in Bleakhaus.
»Ja richtig, Bleakhaus. In der City von London haben wir auch noch eine Besitzung, die jetzt so aussehen muß wie damals Bleakhaus. Ich sage, wir haben eine Besitzung, das heißt, der Prozeß hat sie, denn die Kosten sind die einzige Macht auf Erden, die jemals etwas anderes davon bekommen wird als Augenweh oder Herzeleid. Der Besitz besteht aus einer Straße verfallender blinder Häuser, denen die Augen ausgeschlagen sind – ohne Glasscheiben, ohne Fensterrahmen, nur mit kahlen Läden versehen, die aus ihren Angeln herunterhängen und auseinanderfallen. Der Rost schält sich in Flocken von dem Eisengitter ab; die Schornsteine fallen zusammen, die steinernen Stufen vor jeder Tür sind mit grünem Moder überzogen, und selbst die Stützen, die die Ruinen am Zusammenstürzen hindern, fangen schon an zu faulen. Obgleich Bleakhaus keinen Kanzleiprozeß hatte, so führte doch sein Herr einen, und es ist gebrandmarkt mit demselben Siegel. Das sind die Abdrücke des Großen Siegels, das in ganz England jedes Kind kennt.
»Wie verändert es ist«, sagte ich wiederum.
»Nun ja, das ist es«, antwortete er viel heiterer jetzt als vorhin, »und es ist sehr weise von Ihnen, mich immer wieder auf die Lichtseite des Bildes aufmerksam zu machen. Übrigens, das sind Angelegenheiten, von denen ich nie spreche, an die ich kaum denke, außer im Brummstübchen hier. Wenn Sie es für angezeigt halten, Rick und Ada davon zu erzählen, so überlasse ich es ganz Ihrem Urteil, Esther.«
»Ich hoffe, Sir, daß...«
»Wollen Sie mich nicht du und Vormund nennen, liebe Esther?«
Ich fühlte wieder, daß mir etwas die Kehle zuschnürte. Aber er gab sich den Anschein, als sage er es nur so leichthin, als bloße Laune und nicht als überlegte, aus Herzensgrund kommende Güte.
Ich ließ meine Wirtschaftsschlüssel klingeln, um mich an meine Schuldigkeit zu erinnern, und faltete meine Hände noch ein wenig entschlossener über dem Körbchen und zwang mich, ihn ruhig anzusehen.
»Ich hoffe, Vormund«, sagte ich, »du wirst auf meine Klugheit nicht zu viel bauen, und ich hoffe, ich werde dich nicht enttäuschen. Ich fürchte immer, du wirst unangenehm überrascht sein, wenn du herausfindest, daß ich nicht besonders gescheit bin – aber es ist wirklich so, und du würdest selbst bald dahinterkommen, wenn ich es dir jetzt nicht selbst eingestünde.«
Er schien von meinen Worten durchaus nicht unangenehm überrascht zu sein; ganz im Gegenteil. Er sagte mir, und sein Gesicht strahlte dabei vor Lächeln, daß er mich recht gut kenne und ich gescheit genug für ihn sei.
»Nun, so will ich hoffen, daß es wahr ist, aber ich fürchte doch, du irrst dich, Vormund.«
»Du bist gescheit genug, um unsre gute kleine Hausfrau hier zu sein, Kind«, versetzte er gutmütig, »kleine Alte aus dem Kinderlied.« Er trällerte:
'Kleines altes Weibchen, und willst so hoch hinaus?
Willst die Spinnenweben fegen im blauen Himmelshaus?'
»Du wirst sie im Lauf deiner Haushaltung, Esther, so rein von unserm Himmel fegen, daß wir einmal eines schönen Tages das Brummstübchen werden räumen und seine Tür zunageln müssen.«
Bei dieser Gelegenheit erhielt ich zuerst die Namen »altes Weibchen«, »kleine Alte« und »Spinnweb« und »Mutter Hubbard«, »Mütterchen Durden«, »Mrs. Shipton« und dergleichen, so daß »Esther« darüber ganz vergessen wurde.
»Um auf unsere frühere Rede zurückzukommen«, begann Mr. Jarndyce wieder. »Da haben wir Rick, einen vielversprechenden hübschen Jungen. Was sollen wir mit dem anfangen?«
– O du meine Güte, was für ein Einfall, mich deswegen um Rat zu fragen! –
»Er muß doch etwas lernen, Esther«, Mr. Jarndyce steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine aus. »Er muß sich einen Beruf wählen. Das wird noch eine lange komplizierte Zopfflechterei werden, das ahne ich schon, aber es muß geschehen.«
»Eine lange komplizierte... was, Vormund?«
»Zopfflechterei. Es ist das einzige Wort, mit dem man die Sache benennen kann. Er ist ein Kanzleigerichtsmündel, liebe Esther. Kenge & Carboy werden etwas davon zu erzählen wissen; Assessor Soundso – eine Art lächerlicher Totengräber, der in einem Hinterstübchen am Ende der Quality-Court, Kanzleigerichtsgasse, Gräber für Prozeßakten schaufelt – wird etwas dreinzureden haben; die Advokaten desgleichen; der Kanzler wird etwas drüber sagen, die Trabanten werden hineinreden, und jeder wird sich ein Honorar dabei machen, und die ganze Sache wird ausnehmend feierlich, wortreich, unzulänglich und kostspielig sein. Das nenne ich so im allgemeinen Zopfflechterei. Wie das Menschengeschlecht zu dieser Plage gekommen ist oder wessen Sünden diese jungen Leute abzubüßen haben, weiß ich nicht; aber es ist so.«
Er fing wieder an, sich wütend durch die Haare zu fahren und anzudeuten, daß er Ostwind zu spüren beginne. Es gab mir ein Beispiel seiner Herzensgüte, daß sein Gesicht, mochte seine Stimmung wechseln, wie sie wollte, mich immer mit gleich wohlwollendem Ausdruck ansah. Er wurde gleich wieder ruhig, steckte die Hände in die Taschen und streckte die Beine aus.
»Vielleicht wäre es das Beste, man würde Mr. Richard fragen, wozu er selbst am meisten Lust hat«, sagte ich.
»Sehr richtig. Das meine ich auch. Ich dächte, es wäre das Beste, wenn du mit ihm und Ada mit deinem angebornen Takt und deiner stillen Weise darüber sprechen würdest. Wir werden gewiß in dieser Angelegenheit durch deine Hilfe zum Ziele kommen, Frauchen.«
– Mir machte der Gedanke an die Verantwortung, die mir jetzt auferlegt wurde, und die vielen andern Dinge wirklich Sorge. –
Ich hatte das doch nicht gemeint; ich hatte gemeint, er solle mit ihm sprechen.
Natürlich sagte ich weiter nichts, als daß ich mein Bestes tun wolle, gab jedoch meiner Befürchtung Ausdruck, er halte mich für viel klüger, als ich in Wirklichkeit sei, aber er lachte nur herzlich darüber.
»Komm«, sagte er, stand auf und schob den Stuhl zurück. »Ich glaube, wir können das Brummstübchen für einen Tag zusperren. Und noch ein Wort zum Schluß, Esther: Wünschest du vielleicht irgend etwas von mir zu wissen?«
– Er sah mich aufmerksam an, und ich mußte ihm ebenso gespannt ins Auge schauen und fühlte gut, was er meinte. –
»Über mich selbst, Vormund?«
»Ja.«
»Vormund«, sagte ich und fühlte, daß meine Hände plötzlich kälter wurden, »Vormund, ich bin fest überzeugt, daß ich dich nicht erst zu bitten brauche, mir etwas zu sagen, wenn du es für nötig oder gut befindest. Wenn ich nicht meinen ganzen Glauben und mein ganzes Vertrauen auf dich setzte, müßte ich wahrhaftig wenig Gefühl haben. Ich habe dich wirklich nichts zu fragen. Gar nichts.«
Er zog meinen Arm durch den seinen, und wir gingen hinaus, nach Ada zu sehen. Von dieser Stunde an fühlte ich mich ihm gegenüber ganz unbefangen, war ganz zufrieden, nicht mehr zu wissen, und ganz glücklich.
Anfangs ging es in Bleakhaus ziemlich lebhaft zu, denn wir hatten Bekanntschaft mit den vielen nahen und entfernten Nachbarn, die Mr. Jarndyce kannten, zu machen. Es schien Ada und mir, als ob ihn jeder kenne, der etwas mit fremder Leute Geld anfangen wollte. Es setzte uns nicht wenig in Erstaunen, als wir frühmorgens anfingen, seine Briefe zu sortieren und im Brummstübchen einige derselben zu beantworten, daß das große Lebensziel fast aller seiner Korrespondenten zu sein schien, Komitees zu bilden und Geld zu sammeln und auszugeben. Die Damen waren darauf so versessen wie die Herren, ja, übertrafen sie noch bei weitem. Sie taten sich in leidenschaftlichster Weise zu Komitees zusammen und veranstalteten mit wahrer Wut Kollekten. Einige von ihnen schienen ihr ganzes Leben mit dem Verteilen von Subskriptionslisten, Schillingskarten, Halbkronenkarten, Halbsovereignkarten, Pennykarten usw. an das ganze Adreßbuch zuzubringen.
Sie baten um alles.
Sie baten um Kleider, um alte Leinwand, um Geld, um Kohlen, sie baten um Suppe, um persönliche Verwendung, sie baten um Autographen, um Flanell, kurz um alles, was Mr. Jarndyce hatte – oder nicht hatte. Ihre Zwecke waren so mannigfaltig wie ihre Wünsche. Sie wollten neue Gebäude errichten, Schulden von alten abzahlen, den mittelalterlichen Marienorden in einem malerischen Gebäude wieder aufleben lassen, sie wollten Mrs. Jellyby ein Ehrengeschenk überreichen, sie wollten den Sekretär des betreffenden Unternehmens malen lassen und das Porträt seiner Schwiegermutter schenken, deren große Verehrung für ihn allgemein bekannt sei; sie hatten vor, alles mögliche anzuschaffen, von fünfhunderttausend Traktätchen bis zu einer Leibrente und von einem Marmordenkmal bis zu einer silbernen Teekanne.
Und welche Menge von Namen sie annahmen. Da gab es: die Frauen von England, die Töchter von Britannien, die Schwestern jeder einzelnen Kardinaltugend, die Frauen von Amerika, die »Damen« von dem und jenen. Sie schienen beständig vor lauter Stimmwerben und Wählen außer sich vor Erregung zu sein. Unserm geringen Einblick und ihren eigenen Berichten nach schienen sie fortwährend Leute zehntausendeweis für ihre Wahlliste zu werben, aber nie ihre Kandidaten durchzubringen. Wir bekamen Kopfweh schon bei dem bloßen Gedanken, in welch fieberhafter Erregung ihr Leben vergehen müsse.
Unter den Damen, die sich ganz besonders durch solch habgierigen Wohltätigkeitstrieb auszeichneten, befand sich auch eine gewisse Mrs. Pardiggle, die, aus der Anzahl ihrer Briefe an Mr. Jarndyce zu schließen, eine ebenso gewaltige Briefschreiberin wie Mrs. Jellyby zu sein schien. Es fiel uns auf, daß sofort Ostwind eintrat, sowie die Rede auf Mrs. Pardiggle kam, und stets Mr. Jarndyce am Weiterreden hinderte. Er pflegte zu bemerken, daß es zwei Klassen wohltätiger Leute gäbe; die einen, die wenig tun und viel Lärm machen, die andern, die gar keinen Lärm machen und viel tun.
Wir waren daher sehr neugierig auf Mrs. Pardiggle, die wir für einen Typus der ersten Klasse halten mußten, und freuten uns sehr, als sie uns eines Tags mit ihren fünf jungen Söhnen einen Besuch abstatten kam.
Sie war eine Dame in gewaltigem Stil, mit einer Brille, einer Adlernase und einem lauten Organ behaftet, die den Eindruck machte, als habe sie sehr viel Platz nötig. Das war übrigens auch der Fall, denn sie verstand es, mit ihrer Schleppe kleine Stühle, selbst wenn sie in ziemlicher Entfernung standen, umzuwerfen. Da nur Ada und ich zu Hause waren, empfingen wir sie schüchtern, denn sie schien wie kaltes Wetter in das Haus zu kommen und den kleinen Pardiggles, die ihr nachfolgten, blaue Nasen zu machen.
»Hier sind, meine jungen Damen«, sprach Mrs. Pardiggle mit großer Geläufigkeit nach den ersten Begrüßungsphrasen, »meine fünf Knaben. Sie haben vielleicht ihre Namen auf einer der gedruckten Subskriptionslisten im Besitze unseres geschätzten Freundes Mrs. Jarndyce gelesen. Egbert, mein Ältester (zwölf), ist der Knabe, der sein ganzes Taschengeld, 5 sh. und 3 d., den Tokahupo-Indianern geschickt hat. Oswald, mein Zweiter (zehnundeinhalb), hat zu dem großen Nationalehrengeschenk für Smithers 2 sh. und 9 d. beigetragen; Francis, mein Dritter (neun), 1 sh. und 6½ d., mein Vierter (sieben) 8 d. für die altersschwachen Witwen, Alfred, mein Jüngster (fünf), ist freiwillig dem Kinderverein 'Die Freude' beigetreten und hat gelobt, sich sein ganzes Leben hindurch des Tabaks in jeder Gestalt zu enthalten.«
Noch nie in meinem Leben sind mir so mißvergnügte Kinder vorgekommen. Sie waren nicht bloß schwächlich und welk, sondern sahen geradezu verbissen und haßerfüllt vor Unzufriedenheit aus. Bei der Erwähnung der Tokahupo-Indianer hätte ich wirklich Egbert für eines der wildesten Mitglieder dieses Stammes halten können, so wütend sah er mich an. Als die Beitragssumme der Kinder erwähnt wurde, nahm wohl das Gesicht jedes einzelnen einen besonders bösartigen Ausdruck an, aber bei ihm war es weitaus am schlimmsten. Nur den kleinen Rekruten des Kinderordens »Die Freude«, der sein Unglück in stumpfsinniger Ruhe zu tragen schien, muß ich ausnehmen.
»Sie haben Mrs. Jellyby einen Besuch gemacht, höre ich.«
Wir sagten ja, wir hätten eine Nacht dort zugebracht.
»Mrs. Jellyby«, fuhr die Dame in ihrem demonstrativen lauten harten Ton fort, so daß es mir vorkam, ihre Stimme habe auch eine Art Brille auf – ich möchte nicht zu bemerken versäumen, daß ihre Brille auf der Nase dadurch nicht verschönend wirkte, daß Mrs. Pardiggle gestielte Augen hatte, wie Ada sich ausdrückte –, »Mrs. Jellyby ist eine Wohltäterin der Menschheit und verdient hilfreiche Unterstützung. Meine Knaben haben zu dem afrikanischen Unternehmen beigetragen: Egbert 1 sh. und 6 d., das ganze Taschengeld für neun Wochen; Oswald 1 sh. und 1½ d., ebenfalls neunwöchentliches Taschengeld; die übrigen ihren bescheidenen Mitteln angemessen. Dessenungeachtet kann ich nicht in jeder Hinsicht mit Mrs. Jellyby übereinstimmen. Ich bin mit Mrs. Jellyby, was die Behandlung ihrer jungen Familie anbetrifft, nicht einverstanden. Es fängt übrigens an, die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Man hat bemerkt, daß ihre junge Familie von der Teilnahme an der Sache, der sie sich widmet, ausgeschlossen ist. Sie kann recht haben, sie kann unrecht haben; aber ob sie nun recht oder unrecht hat, ich verfahre mit meinen Kindern anders. Ich nehme sie überallhin mit.«
Ich kam später zu der Überzeugung – ebenso wie Ada –, daß diese Worte es waren, die dem bösgelaunten Ältesten ein scharfes Geheul erpreßten. Er versteckte es schnell unter einem Gähnen, aber es fing als Geheul an.
»Sie gehen mit mir in die Frühmesse um halb sieben, das ganze Jahr hindurch mit Einschluß des tiefen Winters«, fuhr Mrs. Pardiggle im Galopp fort, »und sind um mich während der wechselnden Pflichten des Tages. Ich bin bei dem Schulkomitee, ich bin beim Besuchskomitee, ich bin beim Lehrkomitee, ich bin bei dem Almosenverteilungskomitee, ich bin Mitglied der lokalen Leinwandverteilungsgesellschaft und vieler allgemeiner Gesellschaften, und mit dem Wahlgeschäft hat vielleicht niemand soviel zu tun wie ich. Aber überall sind sie meine Begleiter und eignen sich auf diese Art die Kenntnis der Armen an und die allgemeine Geschäftskenntnis in Wohltätigkeitssachen – mit einem Wort, den Geschmack für diese Dinge, die ihnen im spätem Leben zur Befriedigung und ihren Nebenmenschen zur Hilfe gereichen werden. Meine Jungen sind nie leichtsinnig, sie verwenden ihr gesamtes Taschengeld unter meiner Anleitung zu Subskriptionen und haben so vielen öffentlichen Versammlungen beigewohnt, so viele Vorlesungen, Reden und Diskussionen mitangehört wie nur wenig Erwachsene. Alfred (fünf), der, wie Sie wissen, aus freier Wahl dem Kinderorden 'Die Freude' beigetreten ist, war eins der wenigen Kinder, das nach einer zweistündigen, eindringlichen Anrede von dem Vorsitzenden des Abends bei dieser Gelegenheit noch bewußtes Empfinden an den Tag legte.«
– Alfred glimmerte uns so böse an, als ob er die Schmach dieses Abends nie vergessen könne noch wolle. –
»Sie werden bemerkt haben, Miß Summerson, daß auf einigen der erwähnten Listen im Besitz unseres geschätzten Freundes Mr. Jarndyce die Namensreihe meiner jungen Familie mit O. A. Pardiggle F. R. S. = 1 £ – schließt. Das ist ihr Vater. Wir beobachten meistens immer das gleiche Verfahren. Ich lege zuerst mein Scherflein hin, dann zeichnen meine Jungen ihre Beiträge je nach dem Alter und den bescheidnen Mitteln jedes einzelnen, und dann schließt Mr. Pardiggle den Zug. Mr. Pardiggle schätzt sich glücklich, unter meiner Anleitung seine kleine Gabe beizusteuern, und so gestalten wir die Sache nicht bloß für uns angenehm, sondern auch, schätze ich, erhebend für andere.«
Gesetzt, Mr. Pardiggle speise bei Mr. Jellyby und Mr. Jellyby schütte nach Tisch Mr. Pardiggle sein Herz aus, würde Mr. Pardiggle sich auch zu einer vertraulichen Mitteilung gegenüber Mr. Jellyby bewogen fühlen? Ich wurde ganz wirr, als ich mich bei diesem Gedanken ertappte; er kam mir so von selbst in den Kopf.
»Das Haus liegt sehr hübsch hier«, bemerkte Mrs. Pardiggle.
– Wir waren froh, daß die Rede auf etwas anderes kam, traten ans Fenster und machten die Dame auf die Schönheiten der Aussicht aufmerksam, aber ihre Brillengläser schienen mir mit auffallender Gleichgültigkeit hinzusehen. –
»Kennen Sie Mr. Gusher?«
Wir mußten leider eingestehen, daß wir nicht das Vergnügen von Mr. Gushers Bekanntschaft hätten.
»Da verlieren Sie viel«, versicherte uns Mrs. Pardiggle mit gebieterischem Blick. »Er ist ein höchst eindringlicher, leidenschaftlicher Redner – voller Feuer! In einem Wagen auf dieser Wiese hier, die nach der ganzen Terrainbildung von der Natur wie zu einer öffentlichen Versammlung geschaffen scheint, würde er fast jede mögliche Gelegenheit stundenlang benutzen! Nun, meine jungen Damen!« Mrs. Pardiggle trat von ihrem Stuhl zurück und warf wie durch unsichtbare magische Kraft das ziemlich entfernte runde Tischchen, auf dem mein Arbeitskörbchen stand, um... »Nun, meine jungen Damen, haben Sie mich jetzt ganz ergründet?« – Das war eine so verwirrende Frage, daß mich Ada ganz fassungslos ansah. Mein eignes Schuldbewußtsein nach dem, was ich gedacht hatte, muß sich in der Farbe meiner Wangen ausgesprochen haben. – »Ich meine, meinen hervorstechendsten Charakterzug ergründet. Ich weiß, er ist so hervorstechend, daß er auf der Stelle zu entdecken ist. Ich breite ihn selber offen hin. Ja, ich gestehe es frei und frank, ich bin eine Frau der Tat. Ich liebe anstrengende Arbeit, ich finde Genuß an anstrengender Arbeit. Aufregung tut mir gut. Ich bin anstrengende Arbeit so gewöhnt, daß ich nicht weiß, was Müdigkeit heißt.«
– Wir murmelten etwas, daß das erstaunlich und sehr hübsch sei, oder etwas derart. Wir wußten zwar nicht den Grund, warum es erstaunlich oder hübsch sei, aber taten es aus Höflichkeit. –
»Ich weiß nicht, was es heißt, müde zu sein. Sie können mich nicht müde machen, versuchen Sie es nur einmal!« fuhr Mrs. Pardiggle fort. »Die Menge von Anstrengungen, die mir keine sind, die Unsumme von Geschäften, die mir obliegen, setzen mich manchmal selbst in Erstaunen, aber sie werden für mich zu nichts. Manchmal sind meine Jungen und Mr. Pardiggle schon vom bloßen Zusehen aufs äußerste erschöpft, während ich mich noch rühmen kann, frisch wie eine Lerche zu sein.«
– Der finstere älteste Junge sah womöglich jetzt noch böswilliger aus als vorhin. Ich bemerkte, daß er die rechte Faust ballte und damit dem Deckel seiner Mütze, die er unter dem linken Arme trug, einen heimlichen Schlag versetzte. –
»Diese Eigenschaft kommt mir bei meinen Rundgängen vortrefflich zustatten. Wenn jemand nicht hören will, was ich ihm zu erzählen habe, so sage ich nur: Ermüdung kenne ich nicht, guter Freund; ich werde nie müde und werde fortreden, bis ich fertig bin. Dieses Verfahren versagt nie! Miß Summerson, ich hoffe, ich werde sogleich das Vergnügen Ihrer Begleitung auf meinem Rundgang haben, und Miß Clare wird doch auch mitkommen?«