Peggotty schien sich diese Zumutung sehr zu Herzen zu nehmen, wie mir vorkam.
»Und mein lieber Junge«, schrie meine Mutter, kam zu mir in den Lehnstuhl und liebkoste mich. »Mein einziger kleiner Davy! Lasse ich es vielleicht an Liebe für mein Herzblatt fehlen? Für den allerbesten kleinen Jungen, den es je gegeben hat?«
»Kein Mensch hat das behauptet«, sagte Peggotty.
»Ja du, Peggotty«, gab meine Mutter zurück, »du weißt es ganz gut. Was soll ich denn anderes aus deinen Worten schließen, du unfreundliches Geschöpf, wo du doch recht gut weißt, dass ich mir bloß seinetwegen keinen neuen Sonnenschirm gekauft habe, obwohl der alte, grüne ganz abgeschoben ist und gar keine Fransen mehr hat. Du weißt es, Peggotty, und kannst es nicht leugnen.« Dann wandte sie sich wieder zärtlich zu mir, legte ihre Wange an meine. »Bin ich dir eine nichtsnutzige Mama, Davy? Bin ich eine hartherzige, grausame, selbstsüchtige, schlechte Mama? Sag Ja, mein Kind, und Peggotty wird dich lieben, und Peggottys Liebe ist viel besser als meine, Davy. Ich liebe dich gar nicht, nicht wahr?«
Darüber fingen wir alle an zu weinen. Ich glaube, ich war der lauteste von ihnen, aber ich weiß sicher, wir meinten es alle gleich aufrichtig. Ich war tief unglücklich und habe, fürchte ich, in der ersten Aufwallung verletzter Zärtlichkeit Peggotty ein »Biest« genannt. Ich erinnere mich noch, das ehrliche Geschöpf geriet in die tiefste Betrübnis und muss bei dieser Gelegenheit ganz knopflos geworden sein, denn eine ganze Salve dieser Geschosse flog ab, als sie vor meinem Stuhle niederkniete, um sich mit meiner Mutter und mir zu versöhnen.
Wir gingen sehr niedergeschlagen zu Bett. Mein Weinen hielt mich lange wach, und wenn mich ein besonders heftiges Schluchzen in die Höhe riss, sah ich, dass meine Mutter auf dem Bettrand saß und sich über mich beugte. Dann schlummerte ich in ihren Armen fest ein.
Ob schon am folgenden Sonntag der Herr wieder kam, oder ob ein längerer Zeitraum dazwischen lag, ist mir nicht mehr erinnerlich. In der Zeitrechnung bin ich meiner nicht ganz sicher. Aber er war in der Kirche und begleitete uns dann nach Hause.
Er trat auch zu uns herein, um ein schönes Geranium anzusehen, das im Fenster stand. Es kam mir nicht so vor, als ob er es besonders beachtete, aber ehe er ging, bat er meine Mutter, ihm eine Blüte davon zu geben. Sie bat ihn, sich selbst eine auszusuchen, aber das wollte er nicht – warum, war mir unbegreiflich –, und so pflückte sie ihm denn eine Blüte und gab sie ihm in die Hand. Er sagte, er werde sich niemals im Leben davon trennen, und ich dachte mir, er müsse sehr dumm sein, weil er nicht wisse, dass die Blätter in ein oder zwei Tagen ausfallen würden.
Peggotty fing an, uns abends weniger Gesellschaft zu leisten als früher. Meine Mutter gab ihr in sehr vielen Dingen nach, mehr noch als gewöhnlich, wie mir schien, und wir blieben alle drei die allerbesten Freunde.
Aber doch war es zwischen uns anders geworden, und es war uns nicht mehr so behaglich zu Mute. Manchmal kam es mir so vor, als ob Peggotty nicht recht zufrieden wäre, wenn meine Mutter die schönen Kleider anzog, die sie im Schrank hängen hatte, und so oft die Nachbarn besuchen ging. Aber ich war ganz froh, dass ich mir keine Gedanken darüber zu machen brauchte.
Allmählich gewöhnte ich mich daran, den Herrn mit dem schwarzen Backenbart zu sehen. Er gefiel mir nicht besser als am Anfang, und ich fühlte immer noch dieselbe unbestimmte Eifersucht. Aber wenn ich später einem instinktiven, kindlichen Widerwillen und dem Gedanken im Allgemeinen, dass Peggotty und ich vollkommen ausreichen müssten, meine Mutter ohne weitern Beistand glücklich genug machen zu können, noch einen anderen Grund dafür hatte, war es doch gewiss nicht der, den ich im reifern Alter für meine Abneigung herausgefunden hätte. Nichts Derartiges fiel mir ein. Ich konnte wohl stückweise beobachten, aber aus solchen Fäden ein Netz zu machen und darin jemand zu fangen, das ging und geht noch jetzt über mein Können hinaus.
An einem Herbstmorgen stand ich mit meiner Mutter in dem Vorgarten, als Mr. Murdstone, ich kannte jetzt seinen Namen, vorbeigeritten kam. Er hielt sein Pferd an, um meine Mutter zu begrüßen, und sagte, er ritte nach Lowestoft, um einige Freunde zu besuchen, die dort eine Jacht hätten, und machte den lustigen Vorschlag, mich vor sich auf den Sattel zu nehmen, wenn ich reiten wollte.
Das Wetter war so wunderschön, und das Pferd schnaubte und stampfte so munter vor der Gartentür, dass ich große Lust dazu hatte. Meine Mutter schickte mich daher zu Peggotty hinauf zum Anziehen, und mittlerweile stieg Mr. Murdstone ab und schritt, die Zügel über dem Arm, langsam vor der Rosenhecke auf und ab, während meine Mutter an der innern Seite neben ihm herging. Ich erinnere mich noch, wie Peggotty und ich aus dem kleinen Fenster hinabsahen, erinnere mich auch noch, wie eifrig meine Mutter und Mr. Murdstone die Rosenhecke zwischen sich zu betrachten schienen, während sie daran entlangschlenderten, und wie Peggotty, die vorher in wahrer Engelslaune gewesen, plötzlich ganz ärgerlich wurde und mein Haar wütend gegen den Strich bürstete.
Mr. Murdstone und ich waren bald unterwegs und trabten auf dem grünen Rasen neben der Landstraße dahin. Er hielt mich leicht mit einem Arm, und ich glaube nicht, dass ich besonders unruhig war. Aber ich konnte mich nicht enthalten, von Zeit zu Zeit den Kopf zu wenden und ihm ins Gesicht zu sehen.
Er hatte jene Art seichter schwarzer Augen – ich finde keinen bessern Ausdruck dafür –, die, wenn sie nachsinnen, durch irgendeine sonderbare Lichtbrechung zu schielen scheinen. Verschiedene Male, wenn ich ihn ansah, bemerkte ich das mit einer Art Scheu und hätte gern gewusst, worüber er so tief nachdenke. Sein Haar und sein Bart waren in der Nähe noch schwärzer und dichter, als ich geglaubt. Das starke Kinn und die schwarzen Punkte, die von dem sorgfältig rasierten Barte übrig blieben, erinnerten mich an eine Wachsfigur, die vor einem halben Jahr in unserer Gegend gezeigt worden war. Dieses, seine regelmäßigen Augenbrauen und das reiche Weiß, Schwarz und Braun seines Teints verwünscht sei sein Teint und verwünscht sein Andenken – machten, dass ich ihn trotz meiner Abneigung für einen schönen Mann hielt. Ich zweifle nicht, dass meine arme, liebe Mutter ganz derselben Meinung war.
Wir gingen in ein Gasthaus am Meere, wo zwei Herren in einem Zimmer Zigarren rauchten. Jeder von ihnen lag auf mindestens vier Stühlen und hatte eine weite zottige Jacke an. In einer Ecke lagen auf einem Haufen übereinander Röcke und Bootsmäntel und eine Flagge. Beide Herren richteten sich schwerfällig auf, als wir eintraten, und riefen: »Hallo, Murdstone! Wir dachten schon, du wärest tot.«
»Noch nicht«, sagte Mr. Murdstone.
»Was ist das für ein Gelbschnabel?« fragte einer der Gentlemen und fasste mich am Arm.
»Das ist Davy«, antwortete Mr. Murdstone.
»Was für ein Davy?« fragte der Herr Jones.
»Copperfield«, sagte Mr. Murdstone.
»Was? Der himmlischen Mrs. Copperfield Beigabe? Der reizenden kleinen Witwe?«
»Quinion«, sagte Mr. Murdstone, »nimm dich in acht, man ist schlau.«
»Wer denn?« fragte der Gentleman lachend.
Ich blickte rasch auf, denn ich hätte es auch gern gewusst.
»Bloß Brooks von Sheffield«, sagte Mr. Murdstone.
Ich fühlte mich ordentlich erleichtert, dass es bloß Brooks von Sheffield sei, denn anfangs hatte ich wirklich geglaubt, man meine mich.
Mr. Brooks von Sheffield musste wohl jemand sehr Komisches sein, denn die beiden Gentlemen lachten herzlich, als sein Name fiel, und Mr. Murdstone war auch sehr belustigt. Nach längerem Lachen sagte der Herr, der Quinion hieß: »Und wie ist Mr. Brooks’ von Sheffield Meinung in betreff des geplanten Geschäftes?«
»Hm, ich weiß nicht, ob Brooks vorderhand viel davon versteht«, entgegnete Mr. Murdstone, »aber ich glaube, im Allgemeinen ist er ihm nicht besonders günstig.«
Darüber wurde noch viel mehr gelacht, und Mr. Quinion sagte, er wolle nach Sherry klingeln, um auf Brooks Gesundheit zu trinken. Das tat er dann, und als der Wein kam, gab er mir ein wenig davon und ein Biskuit, und bevor ich trank, stand er auf und sagte: »Verwirrung komme über Brooks von Sheffield.«
Der Toast wurde mit großem Beifall und so herzlichem Gelächter aufgenommen, dass ich selbst mitlachen musste, worüber sie dann noch mehr lachten. Kurz, es war sehr lustig.
Wir gingen hierauf an den Klippen des Strandes spazieren und setzten uns ins Gras und schauten durch ein Fernrohr – ich konnte nichts sehen, als sie es mir vor das Auge hielten, behauptete aber, ich könnte es – und dann gingen wir zurück in das Hotel, um zeitig zu Mittag zu essen.
Während unseres Spazierganges rauchten die beiden Herren unaufhörlich, was sie – nach dem Geruch ihrer zottigen Röcke zu schließen – wohl seit dem ersten Tage an gemacht haben mussten, seit sie sie vom Schneider bekommen hatten. Ich darf nicht vergessen, dass wir auch an Bord der Jacht gingen, wo sie alle drei in die Kajüte hinunterstiegen und sich eifrig mit verschiedenen Papieren beschäftigten. Ich sah sie angestrengt arbeiten, wenn ich durch das offene Lukenfenster hinunterblickte.
Die ganze Zeit über ließen sie mich in Gesellschaft eines sehr netten Mannes mit einem großen Kopf voll roter Haare und einem sehr kleinen lackierten Hut. Er hatte ein buntgestreiftes Hemd an, mit dem Worte »Feldlerche« in großen Buchstaben quer über der Brust. Ich dachte, es sei sein Name und er schreibe ihn auf die Brust, weil er auf dem Schiffe wohnte und kein Haustor hatte, worauf er ihn hätte anschlagen können. Als ich ihn aber Mr. Feldlerche nannte, sagte er, das Schiff hieße so.
Den ganzen Tag über bemerkte ich, dass Mr. Murdstone ernster und verschlossener war als die beiden anderen Herren. Diese waren sehr lustig und ungezwungen, scherzten miteinander, aber selten mit ihm. Er kam mir gescheiter und kühler vor als sie, und sie mochten ziemlich meiner Meinung sein. Ich bemerkte nämlich, dass Mr. Quinion ein- oder zweimal, wenn er sprach, Mr. Murdstone von der Seite ansah, wie um sich zu überzeugen, ob ihm nicht irgendetwas missfiele, und dass er einmal, als Mr. Passnidge, der andere Herr, besonders ausgelassen war, diesem auf den Fuß trat und ihm heimlich mit den Augen zuwinkte, auf Mr. Murdstone zu achten, der stumm und verdrossen dasaß. Ich erinnere mich auch nicht, dass Mr. Murdstone den ganzen Tag über einmal gelacht hätte, außer über den Sheffield-Witz, den er ja übrigens selber gemacht hatte.
Wir gingen abends zeitig nach Hause. Es war ein sehr schöner Abend, und meine Mutter und Mr. Murdstone gingen wieder an der Rosenhecke auf und ab, während ich hineingeschickt wurde, um meinen Tee zu trinken.
Als er weggegangen war, fragte mich meine Mutter aus über die Tageserlebnisse. Ich erzählte, was sie über sie geäußert hatten, und sie lachte und sagte, es seien unverschämte Burschen, die Unsinn schwatzten, aber ich merkte ganz gut, dass es ihr gefiel. So genau, wie ich es jetzt weiß. Ich benutzte die Gelegenheit, sie zu fragen, ob sie einen gewissen Brooks aus Sheffield kenne, sie erwiderte, nein, aber es müsse ein Messer- und Gabelfabrikant sein.
Kann ich von ihrem Gesicht, sosehr es sich später veränderte, so verblüht ich es weiß, sagen, es sei nicht mehr, wenn es hier in diesem Augenblick so deutlich mir vor Augen tritt, wie jedes beliebige Gesicht, das auf belebter Straße an mir vorbeigeht? Kann ich von ihrer unschuldsvollen, mädchenhaften Schönheit sagen, sie sei verwelkt und dahin, wenn ihr Atem jetzt meine Wange berührt, wie er es an jenem Abend tat? Kann ich sagen, sie habe sich jemals verändert, wenn meine Erinnerungen sie nur mit diesen Zügen ins Leben zurückrufen?
Ich schildere sie genau so, wie sie war, als ich nach dieser Unterhaltung zu Bett gegangen und sie zu mir kam, um mir gute Nacht zu sagen. Sie kniete neben meinem Bett nieder, legte ihr Kinn auf ihre Hände und fragte lachend:
»Was sagten sie, Davy? Sag es noch einmal. Ich kann’s nicht glauben.«
»Der himmlischen –« fing ich an.
Sie legte mir die Hand auf den Mund.
»Himmlisch gewiss nicht«, sagte sie lachend. »Himmlisch kann es nicht gewesen sein, Davy. Jetzt weiß ichs, dass es nicht wahr ist.«
»Doch! Der himmlischen Mrs. Copperfield«, wiederholte ich standhaft, »und der reizenden –«
»Nein, nein, reizend gewiss nicht. Nicht reizend«, unterbrach mich meine Mutter und legte mir wieder die Finger auf die Lippen.
»Ja, es war so. Der reizenden kleinen Witwe.«
»Was für närrische, unverschämte Menschen!« rief meine Mutter lachend und bedeckte ihr Gesicht, »was für alberne Burschen, nicht wahr, mein lieber Davy?«
»Jawohl, Mama.«
»Sag Peggotty nichts. Sie könnte böse drüber werden. Ich bin auch sehr böse drüber, aber es ist besser, Peggotty erfährt nichts davon.«
Ich versprach es natürlich, und wir küssten uns noch viele Male, und bald lag ich in festem Schlaf.
Nach der langen inzwischen vergangenen Zeit kommt es mir jetzt so vor, als ob mir bereits am Tage darauf Peggotty den sonderbaren Vorschlag machte, von dem ich sogleich erzählen will, – aber wahrscheinlich lagen zwei Monate dazwischen.
Wir saßen wieder eines Abends, als meine Mutter auf Besuch war, in Gesellschaft des Strumpfes, des Ellenmaßes, des Wachsstückchens, des Kastens mit der St.-Pauls-Kirche und des Krokodilbuchs beisammen, Peggotty und ich, als sie (nachdem sie mich mehrmals angeblickt und den Mund aufgerissen, als wollte sie sprechen, – ich hielt es für bloßes Gähnen, sonst hätte es mich beunruhigt, –) endlich mit einschmeichelnder Stimme sagte: »Master Davy, wie wäre es, wenn du mit mir auf vierzehn Tage meinen Bruder in Yarmouth besuchtest? Wär das nicht fein?«
»Ist dein Bruder ein angenehmer Mann?« fragte ich vorsichtig.
»O was für ein angenehmer Mann!« rief Peggotty und streckte die Hände in die Höhe. »Und dann ist das Meer da und die Boote und die Schiffe und der Strand und Ham zum Spielen.«
Ham war Peggottys Neffe, wie bekannt. Ich war ganz aufgeregt über die in Aussicht gestellten Freuden von Yarmouth und erwiderte, dass es freilich herrlich sein müsste, aber was wohl die Mutter dazu sagen würde.
»Ich möchte eine Guinee wetten, dass sie uns die Erlaubnis dazu gibt. Wenn du willst, frage ich sie, sobald sie nach Hause kommt. Abgemacht.«
»Aber was wird sie anfangen, wenn wir fort sind?« fragte ich und legte meine Ellbogen auf den Tisch, um die Sache gründlich zu besprechen. »Sie kann doch nicht allein bleiben?«
Wenn Peggotty ganz plötzlich jetzt nach einem Loche in der Strumpfferse spähte, muss es wahrhaftig ganz klein und des Stopfens nicht wert gewesen sein.
»Peggotty! Hör doch. Sie kann doch nicht allein bleiben.«
»Ach Gott, richtig«, sagte Peggotty und sah mich endlich wieder an. »Weißt du es noch nicht? Sie geht auf vierzehn Tage auf Besuch zu Mrs. Grayper. Mrs. Grayper bekommt eine Menge Gäste.«
Da die Sache so stand, war ich ganz bereit zur Reise. In größter Ungeduld wartete ich, bis meine Mutter von Mrs. Grayper, unsrer Nachbarin, nach Hause kam, um sie zu fragen, ob sie mit dem großen Plan einverstanden sei. Gar nicht so überrascht, wie ich vermutet hatte, ging meine Mutter bereitwillig darauf ein, und die Sache wurde diesen Abend noch abgemacht und Wohnung und Kost für mich für die vierzehn Tage bezahlt.
Der Tag unserer Abreise kam bald heran. Er war so nahe angesetzt, dass er selbst für mich bald kam, wo ich doch förmlich vor Erwartung fieberte und immer fürchtete, ein Erdbeben oder ein feuerspeiender Berg oder eine andere große Katastrophe könnte alles hinausschieben.
Wir sollten mit einem Fuhrmann reisen, der diesen Morgen nach dem Frühstück aufbrach. Ich würde etwas darum gegeben haben, wenn man mir erlaubt hätte, mich schon über Nacht in den Mantel wickeln und mit Hut und Stiefeln schlafen zu dürfen. Es erschüttert mich jetzt noch, wenn ich es so leichthin erzähle und bedenke, wie ungeduldig ich mich von dem glücklichen Heim wegsehnte, ohne zu ahnen, was ich für immer verließ.
Es steht wie eine frohe Erinnerung vor mir, als der Wagen vor der Türe hielt und meine Mutter mich küsste, und ich freue mich, dass ich vor zärtlicher Liebe zu ihr und dem alten Hause, das ich noch nie verlassen, weinen musste, freue mich über die Erinnerung, dass auch meine Mutter weinte und ich ihr Herz an meinem schlagen fühlte.
Und als der Wagen davonfuhr, da kam meine Mutter noch einmal zur Gartentür heraus und ließ halten, um mich noch einmal zu küssen. Ich verweile gern in Gedanken bei der Innigkeit und Liebe, mit der sie mir ins Gesicht blickte und mir noch einen letzten Abschiedskuss gab.
Als sie mitten auf der Straße stand und uns nachsah, trat Mr. Murdstone zu ihr und schien ihr Vorstellungen wegen ihrer großen Rührung zu machen. Ich sah um die Wagenplache herum zurück und war mir nicht klar darüber, was ihn denn eigentlich die ganze Sache anginge.
Peggotty, die auf der anderen Seite herausschaute, schien nichts weniger als zufrieden zu sein, wie ihr Gesicht verriet, als sie den Kopf wieder zurückzog.
Ich saß eine Zeit lang stumm neben ihr in Träumerei versunken über die Lösung der Frage: ob ich, ähnlich wie der Däumling im Märchen, wohl imstande sein würde, mit Hilfe ihrer Knöpfe wieder heimzufinden.
Das Pferd des Fuhrmanns war das faulste Pferd der Welt, kam mir vor. Es trottete mit gesenktem Kopf die Straße entlang, als gefiele es ihm, die Leute, denen es Pakete brachte, möglichst lange warten zu lassen. Ich bildete mir ein, es manchmal deutlich kichern gehört zu haben, aber man sagte mir, es hätte bloß Husten.
Der Fuhrmann ließ ebenfalls den Kopf hängen wie sein Gaul und nickte schläfrig beim Kutschieren, die Arme auf das Knie gestützt. Ich sage »kutschieren«, aber es scheint mir, der Wagen wäre ebenso gut ohne ihn nach Yarmouth gekommen, denn das Pferd besorgte es ganz allein. Und was die Unterhaltung betrifft, so konnte er nichts als pfeifen.
Peggotty hatte einen Korb mit Esswaren auf dem Knie, die reichlich bis London gelangt hätten. Wir aßen viel und schliefen viel.
Peggotty schlief immer mit dem Kinn auf dem Korbhenkel, den sie nie losließ. Ich würde nie geglaubt haben, wenn ich es nicht selbst gehört hätte, dass ein einziges schutzloses Weib so viel zusammenschnarchen könne.
Wir machten Umwege und brachten so lange Zeit damit zu, eine Bettstelle in einem Wirtshaus abzugeben und an verschiedenen Orten vorzusprechen, dass ich ganz müde und sehr froh war, als Yarmouth in Sicht kam.
Es sähe schwammig und vollgesogen aus, meinte ich, als ich meine Augen über die große, langweilige Einöde jenseits des Flusses schweifen ließ; ich konnte mir nicht helfen, aber ich staunte, wie das Geografiebuch behaupten konnte, die Welt sei wirklich so rund, wenn ein Teil derselben so flach war. Dann überlegte ich mir, dass Yarmouth möglicherweise an einem der beiden Pole liegen könnte, und gab mich mit dieser Erklärung zufrieden.
Als wir etwas näher kamen und die ganze Landschaft wie eine gerade niedrige Linie unter dem Himmel liegen sahen, bemerkte ich zu Peggotty, dass ein kleiner Hügel oder dergleichen verschönernd wirken müsste, und dass es hübscher wäre, wenn das Land etwas deutlicher von der See geschieden und die Stadt und die Flut nicht so sehr untereinander gemischt wie Mehl und Wasser sein würden. Aber Peggotty sagte mit größerem Nachdruck als gewöhnlich, dass wir die Dinge eben nehmen müssten, wie wir sie fänden, und dass sie ihrerseits stolz sei, ein »Hering von Yarmouth« zu sein.
Als wir in die Straße einbogen und den Fisch-, Pech-, Werg- und Teergeruch einsogen und die Seeleute umhergehen, und die Karren über die Steine schwanken sahen, fühlte ich, dass ich einem so geschäftigen Orte Unrecht getan hatte. Ich gestand es Peggotty ein, die meine Ausdrücke des Entzückens sehr wohlgefällig aufnahm und mir sagte, es sei allgemein bekannt (wahrscheinlich unter denen, die das große Glück haben, geborene Yarmouth-Heringe zu sein), dass Yarmouth überhaupt die schönste Stadt der Erde sei.
»Da ist mein Ham«, schrie sie plötzlich auf, »in Gelehrsamkeit aufgewachsen.«
Wirklich erwartete Ham uns beim Gasthause und erkundigte sich nach meinem Befinden wie ein alter Bekannter. Anfangs schien es mir nicht, als ob ich ihn so gut kenne, wie er mich, weil er seit der Nacht, als ich geboren wurde, nicht in unser Haus gekommen war.
Begreiflicherweise hatte er in dieser Hinsicht einen Vorsprung vor mir. Aber unsere Vertraulichkeit wuchs sehr, als er mich auf den Rücken nahm und nach Hause trug. Er war jetzt ein großer, starker Bursche von sechs Fuß Höhe, entsprechender Breite und massiven Schultern, aber mit einem Dummenjungengesicht, und krausem hellem Haar, das ihn etwas schafartig aussehen machte. Sein Anzug bestand aus einer Segeltuchjacke und einem Paar so steifer Hosen, dass sie ganz allein hätten aufrecht stehen können. Dass er einen Hut trüge, hätte niemand so recht behaupten dürfen. Es schien eher ein altes Haus mit ein wenig Pech darauf zu sein.
Ham trug mich auf dem Rücken und unsere kleine Schachtel unter dem Arm, während Peggotty einen Handkoffer schleppte. So gingen wir durch schmale Gässchen, die mit Abfall von Zimmerholz und kleinen Sandhäufchen bedeckt waren, an Gasanstalten, Seilerstätten und Werften, wo Schiffe und Boote gebaut, zerlegt, kalfatert und aufgetakelt wurden, an Schmieden und Kalköfen vorbei, bis wir auf die öde Fläche kamen, die ich schon von weitem gesehen hatte. Da rief Ham: »Dats unser Hus, Masr Davy.«
Ich sah mich nach allen Seiten um und ließ meine Augen über die öde Ebene, über das Meer und den Fluss hinschweifen, aber nirgends konnte ich ein Haus entdecken. Nicht weit von uns auf einer kleinen Anhöhe erblickte ich wohl ein schwarzes Boot, eine Art ausgedienter Barke, aus dem ein Stück eisernes Rohr als Schornstein herausragte und sehr gemütlich rauchte, aber sonst war nichts da, was nach einer Wohnung ausgesehen hätte.
»Es ist doch nicht das dort?« fragte ich. »Das Ding, das wie ein Schiff aussieht?«
»Djewoll, Masr Davy«, antwortete Ham.
Ich glaube, wenn es Aladins Palast gewesen wäre oder das Ei des Vogels Roc, hätte ich nicht entzückter sein können, als über den romantischen Gedanken, hier wohnen zu dürfen.
In die Seitenwand war eine köstliche Tür geschnitten, mit einem Dach darüber, und kleine Fenster sahen heraus; aber der wunderbarste Reiz für mich lag darin, dass es ein wirkliches Boot war, das gewiss hunderte Mal auf dem Wasser geschwommen und niemals dazu bestimmt gewesen war, auf festem Lande zur Wohnung zu dienen. Das fesselte mich ganz und gar. Wenn es jemals von Anfang an hätte ein Haus sein sollen, würde es mir vielleicht klein oder unbequem oder einsam vorgekommen sein. So aber erschien es mir vollkommen in jeder Art.
Innen war alles außerordentlich reinlich und so hübsch wie möglich.
Ein Tisch und eine Schwarzwälderwanduhr und eine Kommode, und auf der Kommode stand ein Teebrett, darauf war eine Dame mit einem Sonnenschirm gemalt, und neben ihr spazierte ein militärisch aussehendes Kind mit einem Reifen. Das Teebrett wurde durch eine Bibel am Herunterfallen gehindert und hätte, wenn es abgerutscht wäre, eine Menge Tassen und eine Teekanne, die alle um das Buch herumstanden, zerschlagen. An der Wand hingen ein paar roh gemalte Bilder aus der Heiligen Schrift, wie ich sie seitdem nie in Trödelläden sehen kann, ohne dass nicht sofort das ganze Innere jenes Hauses klar vor meinen Augen steht. Ein roter Abraham, im Begriff einen blauen Isaak zu opfern, und ein Daniel in gelb unter grüne Löwen geworfen, stachen am meisten hervor.
Über dem Kaminsims hing ein Bild des Luggers »Sarah Jane«, in Sunderland gebaut, mit einem wirklichen kleinen, hölzernen Schiffshinterteil daran, ein Kunstwerk, das Gemälde und Zimmermannsarbeit vereinigt zeigte und mir als eines der neidenswertesten Besitztümer der Welt erschien. Im Deckbalken staken ein paar Haken, deren Bestimmung mir rätselhaft war, und einige Schiffskisten und Koffer standen umher und dienten als Stühle.
Dies alles übersah ich auf den ersten Blick, wie es nach meiner Ansicht Kinder zu tun pflegen; dann öffnete Peggotty eine kleine Tür und zeigte mir mein Schlafzimmer. Es war das vollkommenste und wünschenswerteste Schlafzimmer, das ich jemals gesehen habe, im Hinterteil des Schiffes mit einem kleinen Fenster, – da, wo früher das Steuer durchgegangen, – mit einem kleinen Spiegel, gerade in der rechten Höhe für mich an die Wand genagelt und mit Austernschalen eingerahmt, einem kleinen Bett und gerade genug Platz davor, um hinaussteigen zu können, und einem Strauß von Seegras in einem blauen Krug auf dem Tisch. Die Wände waren so weiß getüncht wie Milch. Die Bettdecke, aus Flecken kunterbunt zusammengesetzt, blendete meine Augen fast durch ihre Farbenpracht.
Ganz besonders gefiel mir in diesem herrlichen Hause der Fischgeruch, der so durchdringend war, dass mein Taschentuch, als ich es einmal herauszog, gerade so roch, als ob ein Hummer darin eingewickelt gewesen wäre. Als ich diese Entdeckung Peggotty anvertraute, belehrte sie mich, dass ihr Bruder mit Hummern, Krabben und Krebsen handelte.
Später fand ich heraus, dass ein Haufen dieser Geschöpfe in wunderbarer Verknäuelung, in der sie nicht wieder losließen, was sie einmal mit ihren Scheren gefasst hatten, draußen in einem kleinen hölzernen Schuppen, in dem Töpfe und Kessel hingen, aufbewahrt wurden.
Eine sehr höfliche Frau mit weißer Schürze, die ich schon draußen in der Türe hatte knixen sehen, als ich auf Hams Rücken noch eine Viertelmeile vom Hause entfernt war, empfing uns. Desgleichen ein sehr schönes, kleines Mädchen – so kam sie mir wenigstens vor, – mit einem Halsband aus blauen Glasperlen.
Die Kleine ließ sich nicht küssen, als ich sie dazu aufforderte, sondern rannte fort und versteckte sich. Später, als wir ein prächtiges Mittagessen, bestehend aus gekochten Fischen, geschmolzener Butter und Kartoffeln, sowie einer Hammelrippe für mich, zu uns genommen hatten, kam ein stark behaarter Mann mit sehr gutmütigem Gesicht nach Hause. Er nannte Peggotty »Mächen« und gab ihr einen herzhaften Schmatz auf die Wange, woraus ich bei der sonstigen Züchtigkeit ihres Wesens schloss, dass es ihr Bruder sein müsste. Er war es auch und wurde mir als Mr. Peggotty, der Herr des Hauses, vorgestellt.
»Freut mich, Sie zu sehen, Sir«, sagte Mr. Peggotty »– werden uns rau finden, aber stets bereit.«
Ich dankte ihm und gab zur Antwort, dass ich mich an so einem angenehmen Ort gewiss wohlbefinden würde.
»Wie geits to Hus, Sir?« fragte Mr. Peggotty, plötzlich in seinen Schifferdialekt verfallend. »Haben Sie Ihre Mama frisch und munter verlassen?«
Ich teilte Mr. Peggotty mit, dass sie so munter und frisch sei, wie ich nur wünschen könnte, und dass sie sich ihm empfehlen ließe, was eine kleine, höfliche Lüge meinerseits war.
»Ick bünn Ehr sehr verbunnen«, antwortete Mr. Peggotty. »Wenn Sej et hier fortein Dag uthollen könt mit der da«, er nickte seiner Schwester zu, »und Ham und lütt Emly, sünn wi stolz op Ehr Gesellschaft.«
Nachdem Mr. Peggotty in so gastfreundlicherweise die Honneurs seines Hauses gemacht hatte, ging er mit der Bemerkung, kaltes Wasser richte gegen Dreck nichts aus, hinaus, um sich warm zu waschen.