Kitabı oku: «Tag der Drachen», sayfa 2
Fast wie ein scheues Reh ruckte Hong Li der Mutter nach, um hinter ihrem Umhang Schutz zu finden. Als er den alten Abt sah, gewann auch er Vertrauen und rutschte nach vorn. „Hallo Hong Li, ich habe schon viel von dir gehört. Auch dass du schon einen Bären erlegt hast. Dein Großvater hat mir das voller Stolz erzählt.“ Hong Li antwortete erst zögerlich, dann aber mit fester Stimme: „Nein, ich war es nicht. Die Jäger haben den Bären erlegt. Mein Pfeil und mein Bogen waren zu schwach. Hätte ich aber einen echten Bogen und einen richtigen Pfeil gehabt, dann wäre der Bär gelegen. So musste er durch die Lanzen von 6 Jägern sterben. Ich hätte den Bären lieber gefangen und dressiert, zur Freude meines Großvaters, des Kaisers Kang Xi.“ „Und wie hättest du das machen wollen?“ Der Abt war gespannt. „Die Jäger hatten Netze dabei. Sie hätten den Bären auch fangen können. Aber sie hatten Angst um mein Leben und wohl auch um ihr eigenes. Sie haben in der Not falsch entschieden.“
Chen Zheng Wei war über diese Antwort sehr überrascht. Der Kaiser hatte recht. Ein Knabe mit einem messerscharfen Verstand, großem Mut und schneller Auffassungsgabe. „Lieber Hong Li, dein Großvater möchte dir etwas wirklich Großes schenken. Es ist ein sehr wertvolles Wissen, dass du bei uns erhältst. Wir können es dir aber nur dann vermitteln, wenn du dich im Kloster wie ein ganz normaler Novize verhältst. Dort darf keiner von deiner Herkunft erfahren. Und alle Mönche und Mitschüler werden dich wie ihresgleichen behandeln. Hat dich deine Mutter darüber aufgeklärt?“ „Ja, wir haben die ganze Reise darüber gesprochen. Ich denke, Hong Li ist gut gewappnet für diese Aufgabe.“ Die Mutter nahm ihren Sohn fest in die Arme und drückte ihn, als wäre es das letzte Mal.
Chen Zheng Wei hatte eine passende Mönchsmontur dabei. Er hatte sich an Shi Yans Größe orientiert. Hong Li musste aus dem Bauernkostüm schlüpfen, das für einen echten Landjungen viel zu sauber war. Die Größe des Beinkleides und der Umhang passten. Die Pelzmütze wurde weit über den Kopf gezogen, sodass keiner erkennen konnte, wer hier den Wagen verließ und hinter den Klostermauern verschwand. Die Reisegruppe wollte bis zum Morgengrauen vor den Toren des Klosters rasten und dann den Heimweg antreten. Mutter und Sohn, zwei Seelen, verbunden durch ein starkes Band, mussten nun Abschied nehmen.
Der Abt brachte Hong Li, ohne auf andere Mönche zu treffen, in die Klosterzelle, wo Shi Yan und Baihu schon warteten. Shi Yan konnte sich noch gut an seine ersten Tage im Kloster erinnern. Auch er hatte Angst, war unsicher und hatte großes Heimweh. Er begrüßte Hong Li deshalb sehr herzlich und freundschaftlich. Auch Baihu erkannte die Tränen in Hong Lis Augen, obwohl er diese mit aller Macht unterdrücken wollte. Es war schon wieder sehr spät, und ohne lange Reden verabschiedeten sich alle und gingen in die Kojen. Shi Yan bemerkte, dass Hong Li noch lange am Fenster stand, und dass er ab und zu die Nase hochzog, zeigte Shi Yan, dass Hong Li noch immer mit den Tränen kämpfte.
Mit dem ersten Krähen des Klosterhahnes war Shi Yan wach. Er stand dieses Mal auch gleich auf und sah, dass Hong Li ruhig in der Koje schlief. Er weckte ihn trotzdem, und nur mürrisch wurde Hong Li wach. „Zieh dich an, ich will dir was zeigen“, flüsterte er. Die beiden schlichen aus der Zelle. In der Nähe des Klostertors stiegen sie auf die Mauer. Gerade rechtzeitig, um die Abreise der Reisegruppe zu sehen. Die Karren hatten schon gewendet und aus der Rückwand schaute Hong Lis Mutter sorgenvoll und traurig in Richtung Kloster. Da erkannte sie Hong Li, der auf der Mauer stand, und neben ihm hielt ein Freund seine Hand, Shi Yan. Sie winkten sich zu, und alle wussten, dass das Band der Liebe alle Entfernungen überbrücken würde und je weiter man fortging, umso stärker wurde das Band. Xiao Sheng Xian war beruhigt. Ihr Sohn Hong Li war nicht alleine. Er hatte einen Freund gefunden.
Shi Yan hatte mit dieser einfachen und kleinen Geste Hong Li als Freund gewonnen. Er konnte seiner Mutter noch einmal zuwinken. Mit sehr viel mehr Zuversicht und guten Mutes kamen sie rechtzeitig zum Morgengebet, dessen Texte Hong Li erst noch lernen musste. Offiziell wurde Hong Li den Novizen und Mönchen als einfacher Bauerssohn vorgestellt, der von einem reichen Onkel die aufwendige Ausbildung zum KAN YU Meister geschenkt bekam. Er war damit zwar ein privilegierter, aber doch ein einfacher Schüler, wie jeder andere auch. Baihu und der Abt waren erstaunt, wie schnell zwei Kinder Freundschaften schließen konnten. Die beiden vertrauten sich und halfen sich bei jeder Gelegenheit.
Hong Li war wissensdurstig und lernte schnell. Mantra-Texte schien er aufzusaugen, und die schulischen Ergebnisse waren bald besser als bei Shi Yan. In den Wettbewerben der Kampfkünste WU SHU schloss Hong Li nicht nur in seiner Altersgruppe als Bester ab, auch mancher ausgewachsene Mönch flog durch Hong Li auf die Matte. Die zwei stachelten sich gegenseitig an. Wenn es auf den Berg ging, so nannte Hong Li das Drachennest, dann konnte Baihu schon lange nicht mehr mithalten und kam keuchend eine halbe Stunde später an.
Im Spätsommer erfüllte Baihu sein Versprechen und führte Hong Li und Shi Yan in die heiligen Gewölbe des Klosters. Nur ganz wenige Mönche hatten Zutrittserlaubnis. Chen Zheng Wei war der oberste Wächter dieses Heiligtums, und er ließ es sich nicht nehmen, die drei zu begleiten. Es war kein Misstrauen gegenüber Baihu. Nein, er war selbst schon lange nicht mehr in den Gewölben und wollte dies nun nachholen. Das Erdgeschoss des Klosters war, wie auch die komplette Ummauerung des Klosters, mit Stein und Lehm verbaut. Die Obergeschosse wurden mit Fachwerken auf die schweren Balkendecken aufgesetzt. Die Ausfachungen wurden mit senkrechten, eingeschobenen Stakhölzern gehalten, mit Weidenruten umflochten und dann mit Lehm beworfen. Das Wahrzeichen des Klosters war aber die achteckige, 12stufige Pagode, die mit geschlagenen Bruchsteinen bis unter das Dach gemauert war. Alle Kellerräume des Klosters waren aus dem Fels gehöhlt. Der Zugang erfolgte über die Pagode und war achteckig aus dem Felsen geschlagen. In sieben Meter Tiefe waren nach allen vier Himmelsrichtungen Gewölbebögen ausgeschlagen, die mit schweren Holztoren gesichert waren. Hinter den Toren folgten tiefe Gewölbeaushöhlungen, die in Breite, Länge und Höhe beeindruckend waren. Die Böden der Gewölbe waren noch einmal ein bis zwei Meter tiefer ausgeschlagen und über Treppenstufen zu erreichen. Der Hauptraum war nach Norden orientiert.
Dieser Hauptraum war mindestens dreimal so lange wie die drei übrigen Seitengewölbe. Diese waren zwar auch beeindruckend, aber sie waren mit Holzlattenwänden unterteilt, sodass man nicht sehen konnte, was sich dahinter verbirgt. Jedes Gewölbe hatte einen Mittelgang und auf jeder Seite vier nebeneinander angereihte Archivräume mit Regalen und Tischen. Nur der große Hauptraum war leer und diente wohl für Versammlungen oder Studien. Alle Räume konnten mit Fackeln beleuchtet werden. Entlüftungsschächte sorgten für den Abzug des Rauches.
Chen Zheng Wei war immer wieder beeindruckt, wenn er in die Gruft hinunterging. Es sollte das größte Gewölbe des chinesischen Reiches sein. Am Anfang seiner Amtszeit wollte er diese Räume als Ausstellung nutzen und sie für Pilger aus dem ganzen Reich öffnen. Er bemerkte aber, dass der Fels große Risse aufwies, und er traute der Statik nicht. Die aufsitzende Pagode musste einen großen Druck auf den Fels ausüben, und ab und zu erschütterten kleine Erdbeben die Region. Die Gefahr eines Einsturzes war dem Abt zu groß. Irgendwann würde ein Kaiser die Mittel freigeben und den Fels auf seine Tragkraft hin prüfen. Chen Zheng Wei würde das in seiner verbleibenden Amtszeit wohl nicht mehr schaffen.
Das Kloster FA MEN SI hatte einen sehr hohen Bekanntheitsgrad. Es war das bedeutendste Kloster des ZEN-Buddhismus in China wegen der im südlichen Gewölbe aufbewahrten Reliquien von Buddha. Ein Fingerknochen. Die einzige Reliquie Buddhas in ganz China. Was aber die wenigsten wussten, war die Tatsache, dass in keinem anderen Kloster so umfangreiche Aufzeichnungen über den Drachenkult und über die Drachen selbst gesammelt wurden. Im Ostgewölbe waren Schalenreste von Dracheneiern gelagert, die Ältesten waren mehr als 2320 Jahre alt. Die Jüngsten sollten von den letzten Drachen sein, die FA MEN SI besucht hatten, also 514 Jahre alt, aus dem Jahr 1206. Auch Drachenzähne und Drachenschuppen wurden dort aufbewahrt.
Im Westgewölbe lagerten wertvolle Pilgergeschenke von Kaiser und Königen, aus anderen Klöstern und aus fernen Ländern. Was unter der Pagode ruhte, war ein unbezahlbarer Schatz, und es war der letzte Beweis für lebende Drachen auf Erden und viele Anleitungen, wie diese im Kloster FA MEN SI gezähmt wurden.
Mit jeder Fackel, die Baihu anzündete, leuchteten die Augen der beiden Novizen intensiver. Chen Zheng Wei erklärte alles, was er über den Drachenkult wusste, und er bestätigte das Gesagte, indem er die entsprechenden Aufzeichnungen herausholte und aufrollte. Leider hatten er und viele seiner Vorgänger keine lebenden Drachen mehr gesehen, und seine Chancen schwanden mit jedem Jahr seines Alters.
Die „Regeln des Drachenmeisters“, eine ganze Sammlung von Schriftrollen, erklärten, wie die Drachen zu bändigen waren. Der wichtigste Augenblick war der Zeitpunkt der Prägung. Der Mensch, der dem Drachen aus dem Nest half, den der Drache zuerst erblickte, der wurde von ihm als sein Meister anerkannt. Dem diente er sein Leben lang. Es wurde auch beschrieben, wie sich die Drachen untereinander verhielten und wie man Streitigkeiten unter den Drachen schlichten konnte. Die charakterlichen Eigenschaften, die Stärkeverhältnisse, die Zuordnungen, die Zuständigkeiten und die Abhängigkeiten, all das kam Shi Yan bekannt vor und klang nach der Lehre der fünf Elemente. Eine Lehre, die Hong Li noch nicht kannte.
Der Abt erklärte Baihu, dass er das alles noch ordnen wollte, bevor er sein Amt an seinen Nachfolger übergeben musste. „Baihu, das wäre doch eine interessante Arbeit für unsere Novizen. Zwei Tage in der Woche sind sie auf dem Plateau, zwei Tage im Keller. Da bleiben noch 3 Tage für die Schule. Shi Yan, ist das zu schaffen?“ Hong Li meinte: „Ja, selbstverständlich schaffen wir das. Ich habe noch Reserven. Und du?“ Er meinte Shi Yan. Das waren die kleinen Spitzen, die Hong Li gerne einsetzte, um sich von anderen abzuheben. Keiner wusste, wie viel Arbeit in dieser Aufgabe lag, und er wollte diese Aufzeichnungen nicht nur sortieren und ordnen. Shi Yan wollte sie auch verstehen und erlernen.
Vom ersten Tag an, an dem er mit Baihu den Kraftplatz und das Drachennest gesehen hatte, war es sein erklärtes Ziel, Drachenmeister im Kloster FA MEN SI zu werden. Ihm ging es nicht darum, eine Arbeit so schnell wie möglich zu erledigen. Er wollte sie so gut wiemöglich machen und mit dem größten Nutzen für alle, für seine Mitmenschen, für das Kloster, ja, auch für Chen Zheng Wei und letztlich auch für sich selbst. „O. k., wir werden sehen.“ Damit war es beschlossen.
Für die nächsten Tage war aber erst Nestpflege angesagt. Hong Li wollte, wie immer, der Erste auf dem Berg sein. Baihus Kräfte waren schnell am Ende, und er ließ die zwei vorauslaufen.
Auch er hielt den Ehrgeiz von Hong Li für übertrieben, und er wollte den beiden eine Lehrstunde geben. Bisher waren Shi Yan und er immer die gleiche Strecke zum Plateau gegangen, wenn sie sich nicht verlaufen hatten. Baihu kannte aber auch noch andere Wege zum Plateau. Und als die beiden außer Sichtweite waren, bog er nach rechts ab, um die Strecke abzukürzen. Die Strecke war zwar kürzer, jedoch nicht befestigt, quer durch die Wildnis. Hier musste man sich auskennen. Baihu kannte aber jeden Felsen, jeden Baum, jedes Rinnsal. Oben angekommen, legte er sich auf die Stufe vor den Tempel und stellte sich schlafend. Er hörte die Jungen schon von Weitem.
„Ich bin der Erste“, rief Hong Li. „Stimmt nicht, du hast mir ein Bein gestellt, das ist unfair“, erwiderte Shi Yan. Da erschraken sie. Baihu lag schlafend auf den Tempelstufen. „Baihu, wie hast du das gemacht?“ Baihu dehnte sich und fragte: „Was meint ihr denn?“ „Du warst hinter uns“. „Ja und?“, meinte Baihu gelassen. „Während ihr eure Füße eingesetzt habt, habe ich meinen Kopf eingesetzt und … wer war schneller?“ Hong Li ärgerte sich, weil er verloren hatte. Shi Yan ärgerte sich, weil er Baihus Geheimnis noch nicht kannte.
1.03 Der Tod des Kaisers Kang Xi am 20.12.1722
Reise nach PEKING im Winter 1722
Fast drei Jahre war Hong Li nun schon im Kloster. Es war Winter, in dem sie nur einmal pro Woche nach dem Nest schauten und dafür einen Tag mehr die Drachenaufzeichnungen studierten konnten. Wie Shi Yan vermutete, war diese Aufgabe so komplex, dass es noch Jahre dauern würde, bis sie damit fertig waren.
Der Platz mit dem Drachennest war vom Schnee bedeckt, wie mit einem weißen Tuch. Sie hielten sich heute nicht so lange auf. Nur der Tempel war von einer Schneewehe zu befreien. Der Abstieg vom Berg war wie eine lustige Rutschpartie. Deshalb kamen sie heute rechtzeitig zum Abendgebet ins Kloster. Nach dem Abendessen hatte der Abt Baihu und seine Novizen in die Schreibstube gebeten. Die Knaben brachten dies mit einem Wettstreit im Hof des Klosters in Verbindung, wo sie auf meditierende Mönche Schneebälle warfen und oft auch trafen. Sie erwarteten nun eine Belehrung durch den Abt. Leider war es aber ein anderer Grund.
„Hong Li, ich muss dir eine traurige Nachricht übermitteln. Unser geliebter Kaiser Kang Xi ist vor zwei Tagen verstorben. Er ist sanft eingeschlafen, nachdem er deinen Vater Yong Zheng noch als Nachfolger bestimmen konnte. Es tut mir sehr leid, und wir alle teilen deine Trauer um den Großvater.“ Es wurde drückend still im Raum, bis der Abt mit seiner Nachricht weiterfuhr: „Hong Li, du musst zurück zum kaiserlichen Hof. Dein Vater erwartet, dass du der Trauerfeier beiwohnst sowie der darauffolgenden Inthronisierung des Kaisers.“ Der Abt erklärte weiter: „Baihu und Shi Yan, ihr begleitet Hong Li. Verhaltet euch unauffällig, und beeilt euch. Der Depesche nach, kommt euch eine Truppe Soldaten entgegen.“ Der Abt wirkte sehr aufgeregt. „Bis LINFEN sind es ca. 500 km, diese Strecke müsst ihr zu Fuß schaffen. In 8–10 Tagen trefft ihr dort auf die berittenen Soldaten, die euch die restlichen 750 km nach PEKING bringen.“ Baihu verstand als Erster. „Also, dann auf, wir müssen uns vorbereiten, damit wir morgen mit den ersten Sonnenstrahlen die Reise antreten können.“
Das war ein großes Abenteuer für Shi Yan. Er durfte in die Verbotene Stadt, zu Kaiser Yong Zheng und zu Xiao Sheng Xian, der Mutter von Hong Li. Außer auf dem Berg hatte er die Mauern des Klosters noch nie verlassen, und nun durfte er in die Großstadt PEKING. Er war sehr aufgeregt, aber Baihu, sein Meister, und Hong Li waren dabei. Auch er hatte nicht damit gerechnet, so schnell wieder in die Heimat zu kommen. Natürlich wog die Trauer um seinen geliebten Großvater schwer, aber auch die Freude auf ein Wiedersehen mit seiner Mutter. Hong Li war hin- und hergerissen. Und konnte diese Nacht nur schlecht einschlafen.
Auch für Baihu war das eine großer Herausforderungen. Auch er hatte nur selten die Klostermauern verlassen, und wenn, dann nicht weiter, als bis nach QIAN oder nach XIAN. Das waren 50 oder 100 km. Nun stand eine Reise an, die über 1250 km ging. Im Archiv des Klosters hatte er sich noch über eine Stunde Kartenmaterial angeschaut und sich stichpunktartig die Route nach Peking aufgeschrieben. Bis XIAN kannte er den Weg.
Von da an ging es weiter über WEINAN nach HUAYIN, bis an die Ufer des Gelben Flusses. Den Fluss nach Norden folgen, bis HEJIN. Dort lässt sich der mächtige Fluss gut überqueren. Bis XINJIANG nach Osten, um von dort nach Norden abzubiegen, bis LINFEN, das man früher PINGYANG nannte. Von da an vertraute Baihu auf die berittene Begleitung, die die Strecke ja schon kennen mussten. Nur die groben Richtungen wollte er sich merken. Und … es war ja Winter, und alles war verschneit. So notierte er auch die Erhebung und Landmarken, an denen er sich orientieren konnte.
Von LINFEN aus ging es weiter nach Norden über LINGSHI nach BAYOU, PINGYAO, HEBEI und BAODING und dann nach PEKING. Immer Richtung Nord und Nordost. Hinauf in die klirrende Kälte. Sie mussten sich was Warmes mitnehmen. Endlich legte auch er sich zur Ruhe, und der Hahn ließ ihm nicht viel Zeit zur Erholung.
Der Abt stand schon am Tor, um die drei Reisenden rechtzeitig zum ersten Sonnenstrahl zu verabschieden und ihnen den Segen mit auf die Reise zu geben. „Gebt auf euch acht. Meidet Menschen. In der Nacht löst ihr euch zur Wache ab. In der Provinz SHANXI, um LINFEN herum, soll es aufständische Gruppen geben, die mit der Thronfolge nicht einverstanden sind. Gebt euch also unter keinen Umständen zu erkennen. Hong Li würde sein Leben verlieren. Überlegt euch einen anderen Namen für Hong Li. Je weiter ihr nach Norden kommt, umso bekannter ist dieser Name.“
Baihu verstand die Warnung seines Abtes. Er hörte schon von den Machtkämpfen innerhalb der kaiserlichen Familie. „Hong Li, ab jetzt heißt du „Xiaochanchu“, das bedeutet kleine Kröte … und keine Diskussion darüber.“ Shi Yan grinste über beide Backen, vermied es aber zu lachen. Hong Li kochte innerlich, erkannte aber den Ernst der Lage und schluckte diese „Kröte“.
Sie kamen gut voran. Es hatte schon lange nicht mehr geschneit, und die Wege waren ausgetreten. Im Laufschritt folgten Hong Li und Shi Yan dem Mönch und Meister. Schon vor Mittag kamen sie in QIAN an, wo Baihu seinen alten Meister Shi Yong besuchen wollte. Sie hatten sich schon lange nicht mehr gesehen. Nach der Ausbildung von Baihu hatte sich der Meister aus dem Shaolin-Kloster in DENGFENG zu seiner Familie nach Qian zurückgezogen und sich zur Ruhe gesetzt. Als sie am Haus ankamen, dampfte die Luft über ihren Körpern. Eine alte Frau mit langem Haarzopf öffnete die Tür. „Baihu, welche Ehre, welche Freude, dass du uns wieder einmal besuchst. Ich hoffe, es geht dir gut.“ Baihu bedankte sich und fragte nach seinem SHAOLIN-Meister. Shi Yan und Hong Li waren überrascht. Sie hatten Baihu nie bei Bewegungsübungen für KUNG FU beobachtet. Und selbst bei den Übungen des WU SHU, das in FA MEN SI gelehrt wurde, haben sie Baihu nur selten gesehen. „Er ist in seinem Ahnenraum. Wo sonst könntest du ihn finden.“ Nachdem Baihu seine Begleitung vorgestellt hatte, gingen sie durch die Hütte in einen kleinen, tempelartigen Raum. In der Mitte stand ein alter Mann, der gerade mit einem großen Pinsel Blumen auf ein ebenso großes Seidenpapier zeichnete.
Der Mann war zwar abgemagert, aber doch noch sehnig. Die Haare waren grauweiß und hingen lang und kranzförmig um eine Glatze herum. Ein Bart folgte in der gleichen Länge und rahmte das Gesicht ein. Die Augenbrauen hingen fast ebenso lang nach unten und schienen eins zu werden mit dem Oberlippenbart. Mit fester Stimme grüßte er: „Ich habe dich schon gehört, Baihu, mein liebster Schüler, und ich freue mich über deinen Besuch. Was führt dich zu dieser Jahreszeit nach QIAN? Und wen hast du bei dir?“ Die Bewegungen des alten KUNG-FU-Meisters waren trotz seines Alters von über 85 Jahren noch sehr geschmeidig. „Das ist Shi Yan und das Hong Li, die ich auf einer Reise nach LINFEN begleite. Unser Abt sendet sie zu einer KAN-YU-Prüfung, die zum Jahreswechsel dort stattfindet.“ Mit dieser Notlüge konnte er die Neugier seines früheren Meisters befriedigen.
„Das sind unsere besten Novizen im Kloster, und Chen Zheng Wei, den du ja kennst, möchte auch in diesem Jahr den Sieg nach FA MEN SI einholen.“ „Ach ja, Chen Zheng Wei, der Drachenmeister. Er müsste so alt sein wie ich. Geht es ihm gut?“ Baihu konnte diese Frage bejahen.
Die Frau von Meister Shi Yong lud zu einer wärmenden Tasse Tee ein und anschließend zu einer stärkenden Hühnersuppe. Dabei unterhielten sich Baihu und Shi Yong über die alten Zeiten. Die Novizen erfuhren so, dass Baihu die schwarze Schärpe im höchsten Grad des KUNG FU erworben hatte, im 12. Grad. Aus einem Grund, den keiner wusste, hatte er sich aber dem Drachenkult angeschlossen, um in FA MEN SI das KAN YU zu erlernen. „Ja, so hat Baihu den einen und anderen Muskel verloren und dafür ein Bäuchlein gewonnen, so, als ob man Wissen im Bauch einlagern würde.“ Shi Yong klopfte dabei Baihu auf den wohlgenährten Bauch. Alle lachten über diesen Witz, nur Baihu nicht. Er drängte zum Aufbruch. Nicht weil die Gruppe weitermusste, nein, er wusste, dass sein alter Meister, schon damals bei seiner Ausbildung, nach dem Essen einen Mittagsschlaf pflegte, und diese Tradition wollte er nicht unterbrechen.
„Das war eine schöne Stunde, in der wir uns aufwärmen, stärken und Geschichten hören konnten. Wie geht es euch nun?“ Hong Li wusste, worauf Baihu abzielte. „Uns geht es hervorragend. Wir können gerne im Laufschritt weiter, oder macht Shi Yan schlapp?“ „Von wegen. Ich möchte nur auf Baihu Rücksicht nehmen.“ „Nun, ihr werdet ohne mich nicht weit kommen, oder kennt einer von euch den Weg? Deshalb darf ich den Takt vorgeben. Also marsch!“
Baihu wollte im Norden um die große Stadt XIAN herumgehen. Die Strecke war zwar etwas weiter, aber er wollte nicht durch das Menschengewühl in XIAN, und die Torwächter hätten sie sicher ausgefragt. Es wurde zwar schon Dunkel, aber der Schnee reflektierte das Mondlicht und die Sterne. Baihu war froh, dass bisher kein Schneesturm aufgekommen war. So konnte er sich am Stand der Sterne orientieren. Nachdem sie nun wohl eine Strecke doppelt so weit wie nach Qian hinter sich gebracht hatten, sahen sie die Fackellichter eines Dorfes. „Der Größe nach müsste das JINGYANG sein. Wir werden vorher etwas abseits des Weges im Freien übernachten und bei Morgenanbruch den Ort durchqueren. Wir wollen kein Risiko eingehen.“ Die Nacht war kalt. Eine Feldmauer bot etwas Schutz. Die durchschwitzte Kleidung konnte am Lagerfeuer getrocknet werden. Für das Bettlager sammelten sie Reisig. Die Felldecken schützten vor Bodenkälte, und in die Wolldecken konnten sie sich einwickeln. Die erste Wache übernahm Baihu, dann sollte Shi Yan auf das Feuer achten und dann Hong Li. Wegen der Wildtiere und der Wärme durfte das Feuer nicht ausgehen. Sehr früh wachten sie auf. Die inzwischen trockenen Kleidungsstücke waren schnell übergezogen. Selbst auf eine Katzenwäsche wurde verzichtet. Die Felle und Decken, etwas Werkzeug und ein kleiner Kessel, in dem die spärliche Verpflegung eingelegt wurde, all das musste in den drei Steigen verstaut werden. Wasser wurde aus dem Schnee oder Eis im Kessel über dem Feuer geschmolzen. Sie waren froh, dass sie nun wieder in Bewegung kamen. Schnell war die Kälte aus dem Körper gearbeitet. Baihu überlegte, ob er für die nächste Nacht nicht eine Scheune aufsuchen sollte. Die zwei Novizen waren sehr tapfer, aber die Kälte in der Nacht machte ihnen zu schaffen, auch wenn es keiner zugeben wollte.
Der Ort JINGYANG war noch nicht aufgewacht, so kamen sie unbemerkt auf die andere Seite, in Richtung WEINAN. Sie begegneten nur wenig Leuten, meist Bauern, die nach ihren Feldern oder Tieren schauten. Reisende waren keine unterwegs. Die Strecke, die Baihu ausgesucht hatte, zog sich durch ein weites Tal in Richtung Nordosten. Mehrere kleine Flüsse zwischen den nördlichen und südlichen Bergen haben diese Landschaft geformt. Die Flüsse waren dick zugefroren, sodass die Knaben schlittern konnten. Baihu hat dies auch versucht, war aber wegen des Übergewichtes seiner Steige, zur Belustigung der Buben, hingefallen. Am Ende des weiten Tales mündete alles Wasser im Gelben Fluss HUANG HE, der an diesem Punkt nach Osten abbog. Und genau an dieser weiten Biegung bei HUAYIN mussten sie dem großen Fluss Chinas, gegen seine Fließrichtung, etwas mehr als zwei Tagesstrecken nach Norden folgen. Der HUANG HE war sehr mächtig und mehrere Kilometer breit.
Nur am Rande war er dick genug gefroren, sodass man hier gut vorankommen konnte. Baihu war bisher mit den Tagesstrecken und mit dem Verlauf der Reise sehr zufrieden. Sie hatten kaum Menschenkontakt. Das Wetter hielt bisher. Ein paar Bauern, die sie als wandernde Mönche erkannten, spendeten ihnen Wasser und Reis, der am Abend aufgekocht wurde. Für die Nachtlager haben sie verlassene, halbverfallene Scheunen gefunden, die mehr Wärme boten als der freie Himmel. Rechtzeitig vor dem fünften Sonnenuntergang erreichten sie HANCHENG. Eine bedeutende Grenzstadt mit einer Brücke über den Gelben Fluss. Die westliche Seite gehört zur Provinz SHAANXI, die östliche Seite zur Provinz SHANXI. Hong Lis Großvater, der 4. Qing-Kaiser KANG XI, hatte diese Gebiete reorganisiert und die Grenzen dabei etwas verschoben. Oft geschah das mit dem Einverständnis der verwaltenden Feudalherrschaft, manchmal aber auch gegen deren Willen. Während die Behörden der Provinz SHAANXI dem Kaiserhaus der QING-Dynastie treu ergeben waren, lehnten sich die Behörden der Provinz SHANXI gegen diese Willkür und gegen die dabei entstandene Machteinschränkung auf.
Als Kaiser Kang Xi dann auch noch das alte Machtzentrum PINGYANG in eine bezirksfreie Stadt umwandelte und mit einem neuen Namen LINFEN versehen hatte, war der Protest laut und der Streit bis heute nicht beigelegt. Dieses Gebiet ist ein wahres Pulverfass. Und nun, gerade nach dem Tod des Kaisers Kang Xi, wollten die Feudalherren die Machtverhältnisse neu ordnen.
Baihu war sich im Klaren. Jeder, der über die Brücke, also über die Grenze ging, wurde genauestens untersucht. Er entschloss sich deshalb die Nacht noch in der Provinz SHAANXI zu verbringen. Sie hatten nur noch zwei Tagesstrecken, bis sie die berittene Truppe treffen sollten. Nur noch über XINJIANG und XIANFENG bis nach LINFEN, aber diese Strecke war die gefährlichste. Erschwerend kam hinzu, dass der rebellierende Prinz in SHANXI ein Onkel von Hong Li war. Der ältere Bruder des neuen Kaisers. Hong Li kannte seinen Onkel Yun Reng. Er war der zweite Sohn von Kaiser Kang Xi. Er war aber vor seinem Vater in Ungnade gefallen, weil er einen entscheidenden Befehl nicht befolgt hatte. So wurde ihm der Titel Prinz LI aberkannt. Mit der Reform der Provinzen wurde ihm die nun kleinere Provinz Shanxi zugesprochen.
Vordem war Misihan Fuca der Verwalter von SHANXI. Er war dem Kaiser immer wohlgesonnen und diente ihm lange Zeit als Finanzminister. Er entstammte dem alten und mächtigen Landadel der FUCA. Nachdem nun die Familie Fuca die Verwaltung SHANXIs an den Bruder des Kaisers abgeben musste, diente der Sohn Lirong Bao Fuca als Präfekt der Stadt LINFEN. Er war damit direkt Yun Reng unterstellt und nicht mehr dem Kaiser. Hong Li kannte den Präfekten noch aus Zeiten, wo die Fuca den Kaiser Kang Xi im Palast in TAIYUAN, der Hauptstadt von SHANXI trafen.
Damals war sein Vater noch Prinz Yinzhen, und er mochte den Sohn des Finanzministers Lirong überhaupt nicht. Aber Hong Li mochte seine Tochter, mit der er immer spielen konnte, während die Väter alle vor dem Kaiser saßen, und obwohl er damals erst acht Jahre alt war, hatte er sich in sie verliebt. Sie verstanden sich so gut, und XIAO CHUN, die kleine Reine, wie sie hieß, roch immer so gut nach Blumen, nach Frische. Hong Li wusste, dass die Familie Fuca seit dem Machtwechsel nun in LINFEN wohnte. Gerne würde er sie besuchen. Aber das ging jetzt wohl nicht.
Auf der Brücke über den breiten Fluss sammelten sich schon mehrere Menschengruppen. Offensichtlich war die Grenze auf der gegenüberliegenden Seite gesperrt. Erst nach dem Aufgang der Sonne kam Bewegung in die Menschenschlange. Baihu überlegte sich noch, ob er sich einer größeren Händlergruppe anschließen sollte, ließ diesen Gedanken aber schnell wieder fallen. Genau in der Mitte der Brücke saßen zwei Beamte hinter einem schweren Tisch, der den Durchgang auf die andere Seite des Flusses einengte. Links und rechts des Tisches waren Soldaten postiert, in voller Montur mit Bogen und Lanze. Der Tisch stand genau auf einer breiten schwarzen Linie, die die Grenze darstellte. „Name, Beruf, Zielort“, bellte der rechte Beamte den Menschen entgegen, während der linke die Angaben aufschrieb. Datum und Zeit fügte er mit an. Mindestens 50 m weit hörte man diesen Schreihals.
Endlich waren sie an der Reihe. „Wir sind Mönche auf der Wanderschaft“, sagte Baihu freundlich. Aber noch lauter als vorher schrie der Beamte: „Ich frage nur noch einmal: Name, Beruf, Zielort?“ Mit fester und ebenso lauter Stimme antwortete Baihu: „Ich heiße Baihu. Ich bin Shaolin-Mönch und auf der Reise nach DENGFENG zu meinem Shaolin-Kloster. Und ich möchte heute Morgen keinen Ärger haben.“ Das wirkte. Der Beamte schrak auf. „Entschuldige, Shaolin, ich habe schlecht geschlafen und muss aber doch meine Arbeit hier machen.“ Baihu zeigte eine wohlwollende Geste und fügte an: „Und dies sind meine Novizen Shi Yan und Xiaochanchu. Diese Nichtsnutze sollen im Kloster DENGFENG Abhärtung und Disziplin erfahren.“ Der Beamte blickte kurz auf und musterte die beiden. „Und Sauberkeit. Auch junge Männer müssen lernen sich zu pflegen. Ihr zwei stinkt wie ein ganzer Schweinestall.“ Der Beamte hielt sich dabei die Nase zu.
„Von wo kommt ihr denn? Und über welche Strecke wollt ihr weiter?“ Baihu erschrak nicht. Er hatte mit dieser Frage gerechnet. „Wir kommen aus HUANGLONG und wollen über YUANQU und LUOYANG nach DENGFENG. Oder kennst du einen besseren Weg?“ „Nein, das ist der schnellste Weg, damit die beiden ein Bad bekommen. Ihr dürft weitergehen, bevor sich meine Nase auflehnt und ich diese ‚Kröte‘ ins Wasser werfe.“ Baihu drückte Shi Yan und Hong Li am Tisch vorbei und schritt mit festen, aber nicht zu schnellen Schritten über die Brücke. Der Beamte fragte seinen Schreiber: „Hast du alles aufgeschrieben?“, und schrie weiter: „Name, Beruf, Zielort?“
Baihu war erleichtert. „Das ging leichter als gedacht.“ Shi Yan fragte Baihu. „Du warst mit Shi Yong in DENGFENG?“ „Ja, ich war Shaolin-Mönch und habe dort 15 Jahre KUNG FU erlernt.“ „Und warum bist du zum Drachenkult gewechselt?“ Baihu blieb diese Antwort schuldig. Shi Yan kannte seinen Meister sehr gut und wollte nicht tiefer in eine offenbar größere Wunde bohren. Wenn er darüber reden wollte, dann hätte er es auch getan. Hong Li wollte wissen, wie Baihu auf HUANGLONG kam. „Nun, kleine Kröte, DENGFENG liegt im Südosten, und HUANGLONG ist die einzige Stadt, die ich in Nordwesten kenne. Hätte ich gesagt, dass wir aus XIAN kommen, dann hätten wir ja einen riesen Umweg nach DENGFENG gemacht. Das wäre dem Beamten sicher aufgefallen.“ „Ahhhh … das war sehr klug“, lobte Hong Li, „mich aber ohne Not Xiaochanchu zu nennen, das ist sehr unklug und könnte mal eine blutige Nase kosten. Doch mal im Ernst, stinken wir wirklich so sehr?“ „Ich rieche nichts“, bestätigte Shi Yan. „Na ja, Lotus riecht sicher besser. Wen das aber stört, der kann ja hier gleich im Gelben Fluss baden. Ich könnte euch dann als Eiszapfen hinter mir herziehen.“ Der Gedanke gefiel Baihu. „Aber Spaß beiseite, es könnte wirklich nicht schaden, wenn wir in XIANFENG, kurz vor LINFEN, ein Badehaus besuchen. Eine Rasur meines Kopfes und Bartes wäre auch angebracht.“