Kitabı oku: «Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?», sayfa 18

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Siehe hierzu Freud Massenpsychologie und Ich-Analyse, S. 13.

[59]

Siehe zu diesem von Le Bon als erstem erforschten Feld der Massenpsychologie Le Bon Psychologie der Massen, 11 ff., 111 ff.; 127 ff.; sowie die Darstellung dessen in Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 29 ff. m. w. N.

b) Unternehmen als Kontext der Tatgelegenheiten: die „organisierte Unverantwortlichkeit“ und „kriminelle Verbandsattitüde“

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Der viel zitierte Ausdruck der organisierten Unverantwortlichkeit stammt von Beck und bezog sich als Untertitel seines Buches[1] auf den übergeordneten Topos der Risikogesellschaft. Vielfach als Argument für eine Unternehmensstrafe benutzt, suggeriert er aber, dass sich Unternehmen „vornehmlich in der Veranlassung oder Duldung von Straftaten betätigen“,[2] sich also im Hinblick auf eine Rechtsgutsgefährdung oder -verletzung organisieren. Vermutet man wie Beck im Unternehmen ein „weitverzweigtes Labyrinth-System, dessen Konstruktionsplan nicht etwa Unzuständigkeit oder Verantwortungslosigkeit ist, sondern die Gleichzeitigkeit von Zuständigkeit und Unzurechenbarkeit, genauer: Zuständigkeit als Unzurechenbarkeit [...]“,[3] mag man darin eine weitere kriminogene Wirkung des Unternehmens erblicken. Geht man von perfiden Organigrammen und Zuständigkeitsanweisungen aus, die inkriminiertes Verhalten gezielt auf mehrere Mitarbeiter aufteilen,[4] sodass jedem Einzelnen kein (strafrechtlicher) Vorwurf gemacht werden kann, dann vermutet man, dass Kriminalität durch das Unternehmen produziert wird. Bei genauerer Betrachtung erscheint es aber so, als ob auch – oder zumeist – Beweisschwierigkeiten thematisiert würden, mit denen Strafverfolgungsbehörden konfrontiert sind.[5] Im Vordergrund steht dann die These, dass Unternehmen sich so organisieren, dass sie letztlich einer strafrechtlichen Verantwortung entgehen könnten. Mit Bierces Worten also: „Corporation: An ingenious device for obtaining individual profit without individual responsibility“?[6]

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Die bisher genannten Beispiele können hier nicht wegweisend sein, gelang es in diesen Fällen ja offensichtlich nicht, sich so zu organisieren, dass eine strafrechtliche Haftung ganz entfällt. Ein oder mehrere Verantwortliche wurden benannt, wenn auch der Eindruck entstehen mag, dass es nicht „die Richtigen“ waren. Dieser Eindruck und auch die verbreitete Hypothese einer „organisierten Unverantwortlichkeit“ hängen womöglich weniger mit der Unternehmensstruktur, als vielmehr mit der Struktur des Strafrechts und Strafprozesses zusammen und der klassischen Herangehensweise, die stets „die“ konkrete und individuelle Pflichtverletzung des Mitarbeiters nachweisen will und damit eine Beweisführung belastet.[7]

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Auch spricht einiges für die Annahme einer Überforderung der Strafverfolgungsbehörden, die angesichts einer Fülle von Material, elektronischen Datenbeständen und potentiellen Zeugen Schwierigkeiten haben, eine ökonomische – und damit zumutbare[8] – Beweisführung zu gewährleisten. Angesichts umfangreicher Dokumentationspflichten und dem eigenen Interesse des Unternehmens an transparenter Organisation von Arbeitsprozessen wäre zumindest anzunehmen, dass die Beweisführung durch Urkundsbeweise gewährleistet sein dürfte.[9] Die noch in den sechziger Jahren festgestellte Spurenlosigkeit[10] der Wirtschaftskriminalität überzeugt heute also nicht mehr als allgemeiner Grundsatz. Angesichts einer immer höheren Flexibilität der Arbeitnehmer (Stichwort „job hopping“) ist Schriftlichkeit in jeder Form ein essentieller Bestandteil einer Organisation, die auf Kontinuierlichkeit ausgerichtet ist. Gleichwohl liegt nahe, dass sensible Bereiche, wie Kartellbildung oder Korruption, von informellen und mündlichen Vereinbarungen leben und nicht von deren schriftlicher Fixierung.

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Und dennoch: Die stets betonten Beweisführungsprobleme, die sich auch zugunsten des Unternehmens auswirken mögen, sind zumindest zu relativieren. Manche dieser Schwierigkeiten sind nicht unmittelbar mit der Unternehmensstruktur verbunden, sondern ergeben sich schon ratione materiae: Im Bereich des Umweltstrafrechts geht es beispielsweise um Emissionen, deren Verbreitung nicht stets – wie im Chemie-Störfall[11] der Hoechst AG – als gelber Regen sichtbar nachweisbar ist; oder es geht um Gesundheitsschäden im Zusammenhang mit fehlerhaften Produkten, die zu einer Reihe von Kausalitätsproblemen führen.[12]

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Andere Beweisprobleme unterscheiden sich nicht kategorial von den Schwierigkeiten, die im klassischen Strafrecht im Bereich des Nachweises der subjektiven Tatseite existieren. Die These, dass hierarchische Systeme und Informationswege kaum mehr der Wirklichkeit entsprechen, als schwerfällig empfunden und durch horizontalen Informationsaustausch umgangen werden,[13] liegt nahe und wird weiter untersucht werden. Selbst wenn die Etablierung informeller Informationssysteme plausibel ist und hierdurch eine Rekonstruktion im Strafprozess schwieriger wird,[14] ist dies für das Strafrecht zumindest kein herausragend außergewöhnliches Phänomen. Luhmann folgerte aus ähnlichen Beobachtungen, dass an den „Klippen der Arbeitsteilung“ die klassischen Verantwortungsprinzipien zerschellen.[15] Diese Überlegung wird in den strafrechtsdogmatischen Überlegungen zu verifizieren sein. Die beschriebenen und mit arbeitsteiligen Produktionsprozessen eng verbundenen Beweisschwierigkeiten bedeuten jedoch nicht, dass Unternehmen eine Unverantwortlichkeit organisieren. Wird – wie hier – von dem legalen Unternehmenszweck der produktionsbasierten Profitorientierung ausgegangen, dann organisieren sich Unternehmen nicht bewusst in Richtung einer Verantwortungsdispersion; sie organisieren sich stets aufs Neue im Hinblick auf eine Effektivitätssteigerung, die dem Unternehmenszweck dient. Natürlich folgt hieraus auch eine Verantwortungsdiffusion, ebenso naheliegend droht Becks Risikogesellschaft eine „organisierte Unverantwortlichkeit“, wenn es keinen Ort für Verantwortungsdiskurse mehr gibt. Beides führt womöglich das Strafrecht an den Rand seiner Möglichkeiten, weil es sich um komplexe Probleme handelt – beide „Risiken“ haben allerdings weniger Gemeinsamkeiten, als offenbar gemeinhin angenommen wird.[16]

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Bleibt noch die „kriminelle Verbandsattitüde“,[17] die eine Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder meint und letztlich deliktsfördernde Verhältnisse im Unternehmen unterstellt, mit der Folge, dass jenes „wie ein Rückfalltäter“ immer wieder Quelle für die Verletzung von Rechtsgütern ist.[18] Neben der besonderen Tatmotivation, die zu ungenügender Rechtstreue führt und bereits untersucht wurde, ist eine günstige Gelegenheit[19] – die zunächst nicht mehr als eine physikalisch beschreibbare Ausgangslage darstellt – Ausgangspunkt für die Begehung einer Wirtschaftsstraftat.[20] Die „Gelegenheit“ wird mitunter als durch das Unternehmen beeinflussbare Größe gewertet,[21] sodass im Umkehrschluss die „Tatgelegenheit“ ein Hinweis auf einen kriminogenen Aspekt des Unternehmens darstellen könnte.[22] Spiegelbildlich zur Tatgelegenheit ist ein Kontext, in dem die Folgen der Tat leicht verwischt werden können, ein der Wirtschaftskriminalität zuträglicher Aspekt.

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Gelegenheit macht Diebe und dies – wie Schwind[23] hervorhebt – nicht nur in Slums, sondern auch im wirtschaftskriminellen Bereich. Wie bereits mehrfach erwähnt, bedarf die unter Anomiedruck stehende Person auch des Zugangs zu illegitimen Mitteln, um sich abweichend zu verhalten. Ansonsten würde unterstellt, dass „illegitime Mittel frei verfügbar sind – so, als wenn der Einzelne, nachdem er zum Schluss gekommen ist, dass man auf legitime Weise zu nichts kommt, sich einfach den illegitimen Mitteln zuwendet, die leicht greifbar zur Verfügung stehen, unabhängig von der Stellung innerhalb der sozialen Struktur“.[24]Cloward und Ohlin entwickelten aus dieser Überlegung die Theorie der differentiellen Gelegenheiten, die Elemente der Anomietheorie, der Subkulturtheorie und der Theorie der differentiellen Kontakte enthält. Der nach dieser Auffassung ebenso essentielle Zugang zu legitimen Mitteln ist in Anbetracht der Befunde zu den Wirtschaftsstraftätern[25] eine weniger naheliegende Kriminalitätsursache als der Zugang zu illegitimen Mitteln. Diesbezüglich ist zudem zwischen Führungskräften und den übrigen Mitarbeitern zu differenzieren:

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Im Hinblick auf den Gelegenheitskontext, insbesondere den Tatzugang, scheinen Führungskräfte privilegiert. Dies hat schon mit dem von Terstegen herausgearbeiteten Merkmal des Vertrauensvorschusses zu tun, der mit herausgehobenen Positionen einhergeht: Eine solche, mit Vertrauen – und daher mit Einflussmöglichkeiten – ausgestattete Position zum eigenen Vorteil zu nutzen wird nicht jedem geschenkt. Diese Einflussmöglichkeit ist aber der entscheidende Zugang zur besonders vorteilsträchtigen, kriminellen Handlung.[26] Auch die Schwierigkeit der Entdeckung und Überführung – das „schwer Erfassbare“ der Wirtschaftsdelikte als geradezu typischem Merkmal – hängt unmittelbar damit zusammen. Durch Macht und Einfluss an den entscheidenden Stellen lassen sich Tatvorgänge verdunkeln und ausnahmsweise Offensichtliches leichter rechtfertigen. Dies belegen die empirischen Erkenntnisse im Bereich der Wirtschaftskriminalität: Die Tendenz der ungenutzten strafrechtlichen Instrumente tritt verstärkt auf der Ebene des Topmanagements auf und setzt sich auch auf der Ebene der geringen Strafverfolgung fort.[27] Die Reaktionen auf die Kriminalität fallen in der Regel arbeitsrechtlich aus und richten sich aus Gründen wie den befürchteten Imageschäden oder dem Reputationsverlust seltener gegen Täter aus dem Topmanagement als gegen andere Täter.

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Weiter werden auf dieser Ebene Tatmodalitäten möglich, die keine (strafrechtlich erfassbare) Unrechtsausübung darstellen, sondern lediglich das Ausüben vorhandenen Ermessens zugunsten des Täters. Nur eben jenen Mächtigen ist also der Zugang zu diesen (illegalen) „Vorteilsquellen“ eröffnet und eben dies unterscheidet ihr kriminelles Verhalten von anderem. So kann sich Kriminalität durchaus auch aufgrund eines Konsenses der Mächtigen und „fast Mächtigen“ sich gegenseitig und zur rechten Zeit zu unterstützen, in der Erwartung die eigene Macht zukünftig durch wiederkehrende Unterstützung ebenfalls erhalten zu können, manifestieren.

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Um es am Beispiel des Mannesmann-Verfahrens[28] zu verdeutlichen: eine derart leichtgängige Verknüpfung eines so komplexen Deals – mit 180 Milliarden Euro war der „Mannesmann-Vodafone-Deal“ vor AOL/Time Warner (rund 150 Mrd Euro) die teuerste Firmenübernahme überhaupt – mit Anerkennungsprämien[29] für die ehemals Angeklagten[30] in einer 30-minütigen Sitzung ist eine Situation, die nur in einem Kontrollvakuum entstehen kann. Der größte Mannesmann-Minderheitenaktionär Hutchinson Whampoa[31] drängte am 2.2.2000 die Mannesmann-Spitze einer Übernahme zuzustimmen und bot Esser auch für den Fall der Übernahme eine Prämie aufgrund der großen Wertsteigerung der Aktien an. Für jede Mannesmannaktie wurden 58,9646 Vodafone-Aktien ausgegeben; durch die Übernahme verdiente alleine Hutchinson Whampoa ca. 5 Milliarden Euro. Die strafrechtlich relevanten Beschlüsse,[32] die die Höhe der Anerkennungsprämien beinhalteten, wurden in einer Weise getroffen, die der Wahrung des Scheins durch einen pro forma Beschluss zumindest sehr nahe kommt: Essers Beschlussvorlage wurde von ihm selbst formuliert – Funk und Ackermann stimmten zu. Darauf folgte der Wunsch Funks, als früherer Vorstandsvorsitzender ebenfalls eine Anerkennungsprämie zu erhalten. Die Einigung auf 3 Millionen britische Pfund erfolgte umgehend im Anschluss und unter telefonischer Hinzuschaltung von Zwickel, der mit den Anerkennungsprämien „keine Probleme habe“. Da der Beschluss vom 4.2.2000 bezüglich der Anerkennungsprämie Funks aufgrund der Selbstbeteiligung Funks an der Abstimmung nicht durchging, wurde der Beschluss am 17.4.2000, ohne Anwesenheit Funks, wiederholt.[33]

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Das Unternehmen war hier in mehrfacher Hinsicht conditio sine qua non: schon die privilegierte Stellung des Vorstandsvorsitzenden, eine Übernahme zu beschließen, die enorme Auswirkungen auf Wirtschaft und Kapitalmarkt hat, ist nur mittels Unternehmen – den zentralen Organisationseinheiten des Wirtschaftslebens – denkbar. Eine Transaktion, die dem größten Minderheitenaktionär, der zudem selbst die Anerkennungsprämie anbieten kann, einen enormen Gewinn beschert, ist ebenfalls von den privilegierten Positionen im Unternehmen abhängig. Schließlich steht der konkrete Vorgang der Beschlussfassung, der weder eine zusätzliche Kontrolle der Angemessenheit noch eine – den Prozess verlangsamende – Komponente enthielt oder zu einer transparenten Kriterienbestimmung gezwungen hätte, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Unternehmen. Das als „checks and balances“-System gedachte Zusammenspiel von Aufsichts- und Kontrollgremien[34] gegenüber den Vorständen und Geschäftsführern hat in diesem Fall versagt. Im Vordergrund steht aber gleichwohl eine Gruppe von „respektablen Geschäftsleuten“[35], die in einer (überwältigenden) Situation der Tatgelegenheit zu ihrem eigenen Vorteil handelten. Es handelte sich hier also um kollektives Handeln zum eigenen Vorteil – um Handlungen, die als white collar-Kriminalität bezeichnet werden können.

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Die Kernfrage lautet nun: Handelt es sich (schon) hier um eine Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder? Jakobs fasste die kriminogene Situation im Fall Mannesmann pointiert wie folgt: „den Aktionären ging es sehr gut, dem Unternehmen gut, und es stand zu erwarten, dass sich demnächst niemand mehr um die einzelnen Modalitäten der Überleitung kümmern würde. Eine solche Lage mag dazu verführen, manches nicht so genau zu nehmen“;[36] beschrieb er damit aber schon bzw. auch Unternehmenskriminalität?

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Legt man das ebenfalls etablierte Kriterium des Handelns zu Gunsten des Unternehmens zugrunde, müsste die Frage bejaht werden. Die durch die Absprachen bedingte Abwehrhaltung von Mannesmann gegenüber einem „freundlichen Übernahmeangebot“ durch Vodafone und den immer wieder scheiternden Verhandlungen mit Vivendi bedeutete nämlich einen deutlichen Kursanstieg der Mannesmannaktien; die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone Airtouch für 190 Milliarden Euro in Aktien war für die Aktionäre also sehr profitabel. Andererseits gab es das Unternehmen Mannesmann nach der Übernahme bald nicht mehr; mit entsprechenden Konsequenzen für die Arbeitnehmer. Entscheidender: Die formelle Organisation ermöglichte die Tat und das Unternehmen war conditio sine qua non. Die fraglichen Taten waren in eine normale Geschäftshandlung des Unternehmens eingekleidet, ließen sich womöglich aber eher mit der Sozialstruktur[37] denn mit der Unternehmensstruktur erklären.

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Induktive Schlussfolgerungen erlaubt erst ein Abgleich mit dem zuvor dargestellten Fall Siemens: Auch im Fall Siemens konnten deviante oder illegale Abläufe in übliche Unternehmensabläufe integriert werden; hinzu traten dort aber weitere Besonderheiten. Insbesondere die soziologische Analyse[38] des Falles Siemens verdeutlicht dies. Schon die veröffentlichten Details[39] zeigen nämlich, dass nicht einzelne Mitarbeiter sich an korruptiven Geschäften beteiligten, sondern das besagte „Netz schwarzer Kassen“ oder in Leyendeckers Worten das „System Siemens“[40] eine weitaus größere Dimension aufwies. Es spricht sogar vieles dafür, dass Korruption im Sinne von Ashforth und Anand in Organisationsstrukturen eingebettet ist und infolgedessen von den Mitgliedern „als zulässiges oder gar wünschenswertes Verhalten internalisiert und an nachkommende Generationen weitergereicht“[41] wurde.[42] Es handelte sich gerade nicht um Fälle singulärer Korruption, sondern um Formen kollektiv-korrupten Handelns, das die Kooperation von Akteuren als Täter voraussetzt und zudem impliziert, dass sie das korrupte Handeln durch soziale Beziehung auf Gegenseitigkeit abstützen.[43] Die kriminogene Wirkung des Unternehmens könnte dann bejaht werden, wenn die korrupten Handlungen nicht nur institutionalisiert wurden, d. h. routinemäßig angewendet werden und eine entsprechende Rationalisierung durch die genannten Neutralisierungsmechanismen durchgreift, sondern zudem eine Sozialisation zu bejahen ist, d. h. diese Geschäftspraxis auch an neue Unternehmensmitglieder weitergegeben wird. Dies war auch im Fall Siemens zu bejahen, wo beispielsweise das Schweizer System schwarzer Kassen, das noch von der durch die Siemens AG übernommenen früheren KWU AG stammte, von Kleys Vorgänger unmittelbar übernommen worden war. Es hing nicht mehr von einer aktuellen Entscheidung eines Mitarbeiters ab, den Geschäftserfolg mittels Schmiergeldern zu sichern. Die Schmiergeldpraxis war vielmehr arbeitsteilig organisiert und durch die Verwendung von Formularen[44] routinisiert. Dies gelang nicht zuletzt deswegen leicht, weil die Bestechung ausländischer Entscheidungsträger nach deutschem Strafrecht bis 1997 nicht pönalisiert war, wenngleich sie in den Zielländern meist gegen das Gesetz verstieß und somit geheim gehalten werden musste. Doch auch nach der Einführung der Strafbarkeit der Auslandsbestechung waren die Neutralisierungsmechanismen nicht ohne weiteres aufzubrechen, wie die Aussage Siekaczek zeigt: „Wir haben es gelesen und abgeheftet. Wir dachten, wenn mal was passiert, wird es sowieso Schutz geben.“[45] Statt einer Veränderung der Normverfolgungsbereitschaft wurden „Provisionen“ nun „Beraterverträge“ genannt und auf buchhalterisch anspruchsvollerem Niveau verwaltet. Dieses „System“ wurde schließlich – und auch hier ist das Beispiel Siemens besonders anschaulich – nicht „von ein paar randständigen Kriminellen, sondern von lauter bewährten Mitarbeitern aus der Mitte des Unternehmens“[46] getragen. Die „Siemensianer“ fingen klein an und arbeiteten sich durch das sogenannte „Kaminsystem“ nach oben, was nach einigen journalistischen Darstellungen an Beschreibungen der Makrokriminalität erinnert: „fast alle späteren Vorstände [fingen] so bei Siemens an, ganz klein. Sie fügten sich ein, fühlten sich ein. Der typische Anlass für Zug im Kamin war dann die Pensionierung des Vorgängers. Man übernahm den Stuhl, mit dem Stuhl die Aufgaben und mit den Aufgaben auch die Spezialaufgabe. (...) Deshalb sind die, die es erwischt hat, auch nicht die Erfinder des (Korruptions-R.D.) Systems gewesen. Sie waren nur die Erben, gewöhnt daran nichts anzuzweifeln, schon gar nicht ihre Vorgänger (...) Wer sich daran nicht hielt, geriet dagegen in den Verdacht der Anarchie (...) So uniformiert im Geiste, zog die Armee der Siemensianer dann in den Krieg.“[47]

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Weniger journalistisch ausgedrückt führten die genannten Faktoren zu dem, was GraeffPrinzipalinteressenverwirrung nennt und in der ökonomischen und soziologischen Analyse als „paradox“ oder „mixed messages“ untersucht wird.[48] Diese widersprüchlichen Botschaften übersetzt Dombois in Bezug auf den Fall Siemens wie folgt: (1) Du darfst nicht schmieren. (2) Du darfst (oder musst) schmieren, wenn anders der Auftrag nicht zu bekommen ist. (3) Du darfst über die Widersprüchlichkeit der beiden Anforderungen nicht offen sprechen.[49] Insbesondere der letzte – als Doppelbindung bezeichnete – Aspekt hemmt eine Beeinflussung des einmal installierten Neutralisierungskontextes, da der Widerspruch nur unter Inkaufnahme beträchtlicher persönlicher Risiken thematisiert werden kann.[50] Hierin ist eine signifikante Einschränkung der individuellen Handlungsmöglichkeiten zu sehen, die als kriminogener Einfluss des Unternehmens bezeichnet werden muss. Ein Individuum, das im „Privatbereich“ durchaus ungerechtfertigte Vorteile ablehnt, kann im Unternehmenskontext eine Bestechungshandlung für eine „angemessene Geschäftspraktik“ halten.

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Dies ist nicht nur auf die Korruption beschränkt: Ein Vorstandsmitglied, das Unternehmenskosten durch unerlaubte Abfallentsorgung und dadurch bedingter Gewässerverunreinigung senken will, wird ebenso im Regelfall seinen Müll in einem Mülleimer entsorgen.[51]Insbesondere wenn es sich um Risiken handelt, die durch schleichende Entwicklungen und langfristige Prozesse geschaffen werden – und auf ebenso nachhaltige Weise erst minimiert werden können –, müsste das Individuum seine eigene Handlung immer wieder in den viel größeren Kontext des Unternehmens setzen, um sich der Tragweite seines Beitrages bewusst zu werden. Auf diesen Umstand weist auch Rotsch hin, der zum einen die „Neutralisation aufgrund der Begrenztheit des menschlichen Erfassungs- und Reflexionsvermögens“ herausstellt und zum anderen die Identifikation mit dem Kollektiv, welche Verantwortungsdiffusion oder -delegation führt.[52] In Bezug auf Gefahren, die nicht unmittelbar in eine Rechtsgutsverletzung umschlagen, sondern lediglich als Risiko erkennbar sind, das sich in entfernterer Zukunft zu realisieren droht, sei die menschliche Reaktion „kognitiv träge“ und „affektiv schwach“.[53] Es sind also, mit Fassauer und Schirmer „Diskrepanzen zwischen immer anspruchsvolleren Ergebnisvorgaben einerseits und schwächeren Vollzugsnormen andererseits“[54] festzustellen, die zur Destabilisierung der Orientierungsfunktionen von Leistungssteuerung und zur „Normenschwäche in Organisationen“ beitragen.[55] Und dies ist nicht in allen Fällen nur auf ein permissives Klima zurückzuführen, das eine zu nachsichtige Geschäftsführung hat entstehen lassen und das eine Enthemmung der Wirtschaftsstraftäter im Unternehmen bedeutete.[56] Die kollektive Konstruktion der „Normalität“ devianten Verhaltens hat vielmehr einen impermeablen Mikrokosmos geschaffen, der die Selbstbezogenheit der Mitglieder fördert[57] – einen social cocoon.[58] Dies könnte zurecht als „kriminelle Verbandsattitüde“ bezeichnet werden – als kriminogene Wirkung, die unmittelbar mit der Unternehmensstruktur zusammenhängt. Einem solchen „überindividuellem Geist“[59] gegenüber mag dann tatsächlich nur „geringe Widerstandskraft“[60] entgegenzubringen sein. Stellt man lediglich auf die Kombination von unzulänglicher formeller Organisation und ungenügender Rechtstreue der Mitglieder[61] ab, wären hiernach sowohl der Fall Mannesmann als auch der Fall Siemens einzubeziehen. Im ersten Fall stellte das Unternehmen „nur“ eine optimale Tatgelegenheit, im zweiten hingegen eine Kriminalität tolerierende Struktur dar. Es wird im Folgenden zu überlegen sein, ob das Unternehmen als physikalisch beschreibbare „günstige Ausgangslage“ einerseits und als „kriminogene Unternehmensstruktur“ andererseits unter einem Begriff der Unternehmenskriminalität erfasst sein sollte, da die Übergänge fließend erscheinen. Jedenfalls wird aber auf der Ebene der strafrechtlichen Verantwortung eine Differenzierung angebracht sein.

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