Kitabı oku: «"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"», sayfa 2

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Darin unterscheidet sich die in München betriebene Theaterwissenschaft von anderen Entwicklungstendenzen der Disziplin, welche sich etwa in Berlin, Leipzig und Köln durchsetzen konnten. Auch wenn es stimmt, dass fast alle Bahnbrecher der Theaterwissenschaft die These vertraten, der Theoriediskurs sei parallel zum Praxisbezug zu entwickeln,3 muss man jedoch Stefan Hulfeld (2007) und Corinna Kirschstein (2009) darin zustimmen, dass die neue Wissenschaft des Theaters schon in ihrer Anfangsphase einen inneren Zwiespalt zwischen theatergeschichtlicher Forschung und erfahrungsnaher Praxis durchmachen sollte. Der sogenannte „Geburtsfehler“ der Disziplin im deutschsprachigen Raum, d.h. die genannte Trennung von Historiographie und Praxis, habe seinen Grund in der Notwendigkeit, im Universitätssystem die Eigenständigkeit der Theaterwissenschaft zu legitimieren und genau deshalb die philologische Methodik anzuerkennen.4 Die Bestrebung, sich auch mit der Praxis wissenschaftlich zu beschäftigen, richte sich also nicht auf die Auseinandersetzung mit dem tatsächlich aufgeführten Theater oder mit ästhetischen Fragen der Gegenwart, sondern auf »technisch-organisatorische Faktoren des Theaterbetriebs wie Theaterrecht, -technik oder Regieübungen (auf einer Probebühne)« (Kirschstein 2009: 91). Erhellend ist hierzu der Vortrag, den Max Herrmann am 14. Januar 1917 vor den Mitgliedern der „Vereinigung künstlerischer Bühnenkunst“ hielt.5 Dem Zweck dienend, die Bedeutung der Theatergeschichte – »im weiteren Sinne dann Theaterwissenschaft« – für die Theaterpraxis zu erklären, führte der Berliner Professor zwei anschauliche Beispiele an: Das erste betraf die Übertragungsaufgabe des Regisseurs in jeder Aufführung, das zweite seine vielberühmten Forschungen über die Hans-Sachs-Bühne. Der Spielleiter sei »gewissermaßen ein Übersetzer«, der oftmals ältere Dichter »in die Bühnensprache« der Gegenwart übertragen muss. Wenn der Regisseur damit ein Kunstwerk herstellen will, müsse er sowohl die Theatersprache der Vergangenheit als auch die der Gegenwart beherrschen:

Da kein Theater mit nur modernem Spielplan auskommen kann, sondern immer auf klassische Stücke zurückgegriffen werden muß, so wird der Spielleiter das jedesmalige innere Verhältnis des Dichters zur Bühne seiner Zeit kennen, geschichtlich erfassen müssen. […] Theatergeschichte […] ist für ihn ebensowenig überflüssig, wie seine Theaterbegabung notwendig.

Man könne den Nutzen der Theatergeschichte anhand der Forschungen weiter beobachten, weil sie eine entscheidende Hilfe für die Regisseure leisten, die in ihren Inszenierungen den »Hans-Sachsischen Theatersinn« treffen wollen. Obwohl solche Ansichten Max Herrmanns Neubestimmung seiner theaterwissenschaftlichen Positionen nach 1920 nicht entsprechen,6 zeigen sie immerhin eine Verengung des Konzepts Praxis innerhalb der Theatertheorie. Herrmanns Rückgriff auf den Praxisbegriff in seiner Darstellung der Aufgaben eines theaterwissenschaftlichen Institutes scheint also weniger der aktiven Partizipation am gegenwärtigen Theaterleben das Wort zu reden, als die Selbstständigkeit der Theaterwissenschaft zu behaupten, die darum ein eigenes Institut braucht: »[D]er Theaterhistoriker soll nicht alles das lernen brauchen, was der Germanist zu lernen hat. / Andererseits muß der Theaterwissenschaftler wieder das lernen, was der Germanist nicht zu lernen braucht«, und zwar muss er in der Lage sein, »alle technischen und künstlerischen Eindrücke« zu beurteilen, die nur von Theaterfachmännern unterrichtet werden können (1974: 353).

In Max Herrmanns Vorstellung ist die Praxis – als ästhetischer Ausdruck und als Verwirklichung eines mehr oder minder idealen Theatermodells – vom historisch-akademischen Wissen beeinflusst, doch umgekehrt übt sie gar keinen Einfluss auf den Theoriediskurs aus. Mit Hulfelds Worten, die praktische Relevanz der neuen theaterwissenschaftlichen Erkenntnisse geht mit der Umsetzung der genetischen Methode verloren (2007: 280). Diesbezüglich sei es nur noch angemerkt, dass Herrmann anders als Kutscher die volkstümlichen Theaterformen sowie das Laientheater negativ bewertete,7 weil sie zur Realisierung des gewünschten dichterischen Theaterideals nicht beitragen könnten, und dass er sich vorwiegend dem alten Theater widmete.8 Ebenfalls überaus skeptisch äußerte sich Carl Niessen gegenüber Dilettantenvereinen und Studentenbühnen, denn der Mangel an künstlerischen Ambitionen hätte die Theaterwissenschaft belasten können.9 Der kulturgeschichtliche Blick des Theaterwissenschaftlers solle sich zwar den mimisch-spielerischen Theaterformen aller Völker hinwenden, zugleich aber mit einem gewissen akademischen Abstand.

Herrmanns und Niessens lediglich theoretische Berücksichtigung der Theaterpraxis, die dann jedoch faktisch ignoriert wurde, fand einige Jahrzehnte später bei Heinz Kindermann und Hans Knudsen ihre Fortsetzung. Der Wiener Germanist Kindermann, der sich erst in den 1940er Jahren der Theaterwissenschaft zuwandte, versuchte bis zum Ende des Krieges eine nationalsozialistische Traditionslinie von Goethe, Klopstock, Hebbel, Raimund bis hin zur Gegenwart – eigentlich: Wagner – herzustellen, wobei der Forschungsfokus ausschließlich auf der Theatergeschichtsschreibung lag. Die Praxis scheint auch später in Kindermanns Auffassung der Theaterwissenschaft keine Rolle zu spielen, da er in seinen Aufgaben und Grenzen der Theaterwissenschaft (1953) den Praxisbezug der Disziplin überhaupt nicht erwähnte. Hans Knudsens »Blick auf die Praxis« verriet seinerseits einen schon bekannten Ansatz: Die »rein theaterwissenschaftliche Ausbildung« an der Universität muss »durch Vermittlung auch der praktischen Lösungen, soweit so etwas lehrbar ist« ergänzt werden (1951: 16f.). »Immer wieder: Begabung für das Theater ist die Voraussetzung alles dessen, was wir hier aussprechen […]. Wir setzen jenes Maß künstlerischer, schöpferischer Fruchtbarkeit für das Theater voraus, das man in der Theaterwissenschaft unter allen Umständen haben muß«. Nach dieser generellen Festlegung erklärte Knudsen näher: »Dieser Vorbereitung für die Praxis, für das lebendige Theater, dienen die Vorlesung und Übungen zur Regie« (17) – mit derartigen Lehrveranstaltungen war der Praxisbezug der Theaterwissenschaft erschöpft.

Wenn man das ganze erörterte Spektrum theaterwissenschaftlicher Positionen berücksichtigt, dann kann man Marvin Carlson nicht zustimmen, der in Anlehnung an Erika Fischer-Lichtes Interpretation von Max Herrmanns Konzept der Theaterwissenschaft feststellt, die im deutschsprachigen Raum geförderte Disziplin habe nie an der Spannung zwischen Theater und Performance bzw. Praxis gelitten, welche in den USA deutlich gespürt wurde und noch heute gespürt wird (Carlson 2008: 4). Die Spuren dieser Spannung waren in den ersten fünfzig Jahren der deutschen theaterwissenschaftlichen Forschung eigentlich beseitigt, denn die eingehende Untersuchung der sogenannten „Wissensverkörperung“ und der Praxis sowie die Erforschung eines Wissensgebietes, das nur durch die ständige Berührung mit anderen Feldern und durch die unmittelbare, sinnliche Erfahrung das theatrale Phänomen erfassen kann, hätte die Etablierung der Disziplin an den Hochschulen verhindert. In Berlin, Leipzig, Köln und Wien sowie an kleineren Instituten für Theaterwissenschaft lag die praxisbezogene Lehre oder das praxisbezogene Lernen nur in programmatischen Reden und Schriften vor. Außer Regieübungen, gelegentlichen Exkursionen und der Sammlungstätigkeit fand die Theaterpraxis keinen Zugang zum Universitätssystem.

Wissenstheorie

Die strenge Unterscheidung zwischen intellektuellem Wissen und praktischer Vernunft wurden erkenntnistheoretisch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stufenweise aufgegeben. Nach der bahnbrechenden Arbeit von Gilbert Ryle auf dem Gebiet der Philosophie des Geistes (The Concept of Mind, 1949), in welcher der Philosoph zwei komplementäre Bestandteile des Wissens erkannte und die Begriffe knowing-what als deklaratives Wissen und knowing-how als prozedurales Wissen bzw. Fertigkeit, soziale Expertise prägte, muss die Lehre von Michael Polanyi erwähnt werden. Aufschlussreich ist in The tacit dimension, dass sich Polanyi auf Dilthey und Lipps beruft, um in der Philosophiegeschichte die ersten Schritte zur Anerkennung und Beschreibung des so genannten taciten Wissens zu finden (Polanyi 1967: 16f.). Mit „tacitem“ oder implizitem Wissen meinte Polanyi ein gesellschaftlich vermitteltes Wissen intuitiver Art, welches immer subjekt- und kontextbezogen bleibt und nicht sprachlich artikulierbar ist – d.h. auch kaum reproduzierbar. Es bilde den komplementären Pol zum expliziten Wissen, welches kognitive Wahrnehmungen, abstrakte Repräsentationen, Theorien und Modelle umfasst. Wilhelm Diltheys Erlebnis ebenso wie Theodor Lipps’ Einfühlung traten sonach als erste Versuche hervor, das zu interpretieren, was Menschen tatsächlich wissen, doch in Worten nicht ausdrücken können. Schon am Anfang des sog. „Zeitalters der Extreme“ hätten Geisteswissenschaftler versucht, das erworbene Erfahrungswissen mit einem theoretischen Wissen zu verbinden. Polanyi stellte aber zum ersten Mal deutlich fest, dass implizites Wissen nicht den Geisteswissenschaften allein angehört, sondern jedem wissenschaftlichen Wissen:

[A] true knowledge of a theory can be constructed only after it has been interiorized and extensively used to interpret experience. Therefore: a mathematical theory can be constructed only by relying on prior tacit knowing and can function as a theory only within an act of tacit knowing, which consists in our attending from it to the previously established experience on which it bears. (1967: 20)

Tacites Wissen sei demzufolge ein unentbehrlicher Bestandteil des menschlichen Lernprozesses, der zur Modell- und Theorieentwicklung beitrage, weil er jeder Erkenntnis oder Entdeckung zugrunde liege: Wissenschaftliches Wissen gleiche insoweit dem Wissen einer sich nähernden Entdeckung, die Menschen dank ihres impliziten Wissens vorhersehen. Dies bedeutet fernerhin, dass jede Entdeckung mit einem subjektiven Engagement gekoppelt ist, was jedes positivistische Ideal der Objektivität in der Forschung zerstört (25). Durch die Einfühlung in das Forschungsobjekt schließt der Mensch die Einzelheiten einer Struktur oder eines Phänomens zu einem übergeordneten Ganzen unmittelbar zusammen, ohne die einzelnen am Prozess beteiligten Details kognitiv wahrzunehmen. Das implizite Wissen artikuliere sich demnach im Handeln, im Können. Implizites und explizites Wissen sind folglich nach Polanyi parallele Dimensionen des Wissenserwerbs, die erkenntnistheoretisch gleichwertig sind – auch wenn der Fokus mehr auf dem „stillschweigenden“ Wissen liegt. Polanyi schuf somit den ersten umfassenden praktischen Wissensbegriff, in dem Handeln und kritische Reflektion einander ergänzen. Der Kunsttheoretiker Carr beschrieb Jahre später das praktische Wissen »as a matter of some interplay between phronesis and techne« (1999: 244), wobei er die aristotelische phronesis zur Basis der Beziehung zwischen ästhetischer Empfindung und künstlerischem Wissen machte. Die phronesis beruhe auf erfahrungsbasierten praktischen Prinzipien, welche menschliche Empfindlichkeiten – oder Prädispositionen – pflegen und entwickeln. Sie sei ein Modus des praktischen erfahrungsbasierten Weltwissens, das sich nicht durch theoretische Aussagen oder Thesen ausdrücken lasse, sondern durch eine gewisse Organisation der Erfahrung im Einklang mit einer bestimmten Anschauung oder Idealvorstellung von Schönheit, Form oder Ausdruck (254). Das ästhetische Wissen wurde hierdurch zu einer Form des praktischen Wissens.

Ein letzter Versuch zur Versöhnung der zwei Erkenntnismodi, d.h. zwischen dem Objektivismus realistischer sowie materialistischer Prägung und dem idealistischen Subjektivismus, wurde in der Sozialwissenschaft von Pierre Bourdieu unternommen. Er plädierte nämlich für eine praxeologische Erkenntnisweise, welche die regulierende Logik des praktischen Wissens, das auf der Primärerfahrung der Subjekten beruhe, und die Eigenlogik des theoretisch-wissenschaftlichen Erkenntnismodus, das hingegen einen konstruktivistischen Charakter aufweise, kombinieren könnte. Erst diese neue Erkenntnisform sei in der Lage, die Welt zu erfassen (2001: 174). Deswegen entwickelte Bourdieu seine nach der Forschungspraxis orientierte Habitustheorie. Mit dem Begriff Habitus verknüpfte er ein dauerhaft wirksames System von unauflöslich miteinander verwobenen, (vor)strukturierten Dispositionen, welche das Subjekt dazu bringen, in einer bestimmten Weise zu agieren: Sie bilden also den praktischen Sinn, befähigen die Menschen, an der sozialen Praxis teilzunehmen und diese zugleich hervorzubringen. Solche Dispositionen werden während der Sozialisation erworben, d.h. als Ergebnis der Inkorporierung gesellschaftlicher Strukturen. Der Habitus generiert Praktiken, wiederkehrende Sozialhandlungen, die ihrerseits gesellschaftliche Regelmäßigkeiten bzw. Strukturen konstituieren. Diese werden vom Subjekt verinnerlicht, in einer Wechselbeziehung, in der der Habitus die Strukturen (re)produziert und die Strukturen den Habitus. Der Habitus wirkt demzufolge als Vermittler zwischen den externen materiellen, kulturellen und gesellschaftlichen Existenzbedingungen – oder den objektiven Strukturen des sozialen Feldes – und den von einzelnen Akteuren ausgeführten Praktiken, die mit ihrer persönlichen Wahrnehmung und Anschauung in die Umwelt verflochten sind. Daraus folgt, dass der Habitus dem Subjekt die Grenzen möglicher Praktiken zur Verfügung stellt, dass das agierende Subjekt nicht vollständig determiniert ist.1 Der Habitus wirkt als »Erzeugungsmodus der Praxisformen« (1987: 136), nicht als Erzeugungsmodus einzelner Praktiken. Besonders wichtig für die Kunstpraxis und -forschung scheint allerdings die Tatsache zu sein, dass die von Bourdieu theorisierte Verinnerlichung von äußerlichen Existenzbedingungen weniger durch die Sprache hindurch geschieht, als vielmehr auf Körperebene: Die soziale Ordnung wird verkörpert, inkorporiert, einverleibt. Sprache und Leib haben beide die Aufgabe, praktische Erfahrungen, Fakten oder Normen zu speichern, wobei sie als treibende Kräfte für die Herausbildung sozialer Praxen fungieren – sie sind sowohl Speicher als auch Träger (1987: 127). Doch ist die praktische Erkenntnis eher an den Körper gebunden, weil sich die Menschen der Eigenschaften ihres eigenen Habitus nicht bewusst sind und in ihrem praktischen Handeln von einer vorbewussten, vorreflexiven Kraft getrieben werden. Der Körper ist ein »Gedächtnis« (1976: 199), das Regungen, Bewegungen oder Handlungen nicht nur ausführt, sondern auch bestimmt. Die Körperlichkeit bestimme die Praxis sowohl im Hinblick auf die Bildung des körperlich verankerten Habitus als auch im Hinblick auf dessen Anwendung: »Einzelne Körperbewegungen bilden die kleinste Einheit jeglicher Praxis. Da sowohl Körper als auch soziale und materielle Welt formbar sind, können sie intensiv miteinander verschränkt sein« (Fröhlich/Rehbein 2009: 201). Auf diese Weise hat jede menschliche Bewegung nicht nur einen sozialen, sondern auch einen individuellen Aspekt; das Äußere wird immer von Menschen in mentalen Repräsentationen verinnerlicht bzw. inkorporiert. Als Folge einer solchen Anerkennung forderte Bourdieu eine neue Wissenschaft, welche auch die Körperlichkeit der Akteure berücksichtigt:

Im Gegensatz zu den scholastischen Welten verlangen bestimmte Universen wie die des Sports, der Musik oder des Tanzes ein praktisches Mitwirken des Körpers und somit die Mobilisierung einer körperlichen Intelligenz, die eine Veränderung, ja Umkehrung der gültigen Hierarchien herbeiführen kann. Man sollte die hier und da, vor allem in der Didaktik dieser Körperpraktiken – des Sports natürlich und insbesondere der Kampfsportarten, aber auch des Theaterspielens und des Musizierens – verstreuten Notizen und Beobachtungen einmal methodisch zusammenstellen; sie würden wertvolle Beiträge zu einer Wissenschaft dieser Erkenntnisform liefern. (Bourdieu 2001: 185)

Diese Wissenschaft habe also die Funktion, die Wissensbestände und -inhalte aus dem jeweiligen sozialen Feld mit denen aus der direkten körperlichen Erfahrung zu ergänzen. Das bedeutet außerdem, dass das Subjekt die soziale Welt erkennen kann, auch wenn es keine objektivierende Distanz zu den Wissensobjekten hat; um eine systematische, sprich wissenschaftliche, Analyse seiner Handlungspraxis durchzuführen, braucht es aber eine kritische (Selbst)Reflexion. Die Reflexivität in der Theorie Bourdieus dringt darauf, »die theoretische Beobachterposition zur zu beobachtenden Praxis zu machen« (Fröhlich/Rehbein 2009: 203f.). Die Verwandlung vom unbewussten Sinnvollen der Praxis in das bewusste, reflexive Sinnvolle der theoretischen Wissenschaft muss sich daher auch in der Kunstforschung vollziehen.

Die Theaterwissenschaft zwischen Theorie und Praxis

Schon in den 1970er Jahren hatte eine vielstimmige Methodendiskussion in der Theaterwissenschaft eingesetzt, welche sich aber mehr auf die semiotische Wende in der Aufführungsanalyse konzentrierte und die theaterwissenschaftliche Verflechtung zwischen Theorie und Praxis kaum betrachtete. Im folgenden Jahrzehnt konnte die Theaterpraxis das Interesse der an den deutschen Hochschulen etablierten Disziplin wecken: 1982 wurde das Institut für Angewandte Theaterwissenschaft an der Universität Gießen gegründet, das unter der Leitung von Andrzej Wirth die theatertheoretische Forschung zusammen mit dem Studium der theatralen Praxis pflegte. Das Ende der 1980er Jahre fällt außerdem mit der Hinwendung der Theaterwissenschaft zu den Paradigmen Theatralität und Performativität zusammen, was eine Neubestimmung der Forschungsstrategien und des Fachbereiches nötig machte.1 In dieser Phase der wissenschaftlichen Re-Konzeptualisierung erlangten der Körper sowie der performative Erzeugungsprozess der Identität große Bedeutung, so dass sich die »Wissenschaft von der Aufführung« (Fischer-Lichte 2005: 351) endlich als produktive Verkopplung von Semiotizität und Theatralität verstehen konnte. Die Entwicklung der Disziplin in dieser Richtung setze sich dabei relativ stabil fort und der Mittelpunkt des Forschungsinteresses »shifted to the processes of making, producing, creating, doing, and to the actions, processes of exchange, negotiation, and transformation as well as to the dynamics which constitute the agents of these processes, the materials they use and the cultural events they produce« (Fischer-Lichte 1999: 168).

Im Bereich der creative and performing arts und der gegenwärtigen Theaterwissenschaft ist die Debatte über die epistemologische Bedeutung des Zusammenhangs von wissenschaftlicher Forschung mit künstlerischer Praxis ab den 1990er Jahren immer lebhafter geworden.2 Der Begriff Praxis wurde dann von den neuen Konzepten „research as cultural practice“ und „practice as research“ maßgeblich geprägt. Praxis ist, so definiert Robin Nelson, »theory imbricated within practice«, und zwar eine Untersuchungsmethode, die an der Schwelle zwischen Rationalität und verkörpertem Wissen operiert (2006: 108). Zugleich ist Praxis ein (Selbst)Verständnismodell, welches unreflektierte, spontane, kreative Prozesse durch das Zusammenwirken von unterschiedlichen Fachleuten sowie Künstlern in einem transdisziplinären Kontext erklärt und interpretiert. An erster Stelle profiliert sich also die Forschungsarbeit als eine kulturelle Praxis, welche rein akademische Bestrebungen überwindet und andere kultu­relle Praktiken überschneidet. Gerade diese Überschneidung bildet das Hauptmerkmal jeder Untersuchung, die weit über die Grenzen einzelner Disziplinfelder hinaus geht. Die Forschung ist selbst eine hybride Kulturtätigkeit, weil sie verschiedene Wissenssegmente und Tätigkeiten, die ihrerseits mit anderen soziokulturellen Kenntnissen verkettet sind, zu einem Netz zusammenfasst. Die Besonderheit von „research as cultural practice“ liegt demnach in seiner gesellschaftlichen und kulturellen Einbettung: Das dabei ermittelte Wissen ist nicht absolut, abstrakt, unmarkiert oder delokalisiert, sondern partiell, konkret, verkörpert und verortet – kurzum: situiert. Erst durch die Verkörperung des Wissens, durch die Kontextbedingtheit aller Forschung ebenso wie jedes Untersuchungsprozesses kann die Forschung zu einer generativen Matrix werden. Bezeichnenderweise wird die Reflexion über „research as cultural practice“ von Wolmark und Gates-Stuart (2002) an Donna Haraways’ Konzept des situierten Wissens angeschlossen. Die amerikanische Forscherin hatte Ende der 1980er Jahre im Bereich der feministischen Wissenschaftskritik ihr Plädoyer für eine verkörperte Objektivität und eine kritische Positionierung, eine bewusste Infra­gestellung des Wissens formuliert. Der naiv gläubigen, vom Sozialkonstruktivismus und von einigen Postmodernisten verbreiteten Darstellung einer „wirklichen“, völlig kodierten Welt und einer „objektiven“ Wissenschaft, die man erst betreiben kann, wenn man eine entkörperte Perspektive von außen, eine Perspektive von oben herab einnimmt, setzte Haraway eine »feministische Objektivität« entgegen, welche zeitlich, gesellschaftlich, örtlich und geschlechtlich markierten Feldern des Wissens entspreche: »[O]nly partial perspective promises objective vision. […] Feminist objectivity is about limited location and situated knowledge, not about transcendence and splitting of subject and object. It allows us to become answerable for what we learn how to see« (1988: 583). Als einzig mögliche Alternative zum Relativismus sowie zur Totalisierung des unmarkierten Blicks betrachtete Donna Haraway die partielle, situierte und kritische wissenschaftliche Perspektive, die allein ein Geflecht von Verbindungen gestatte. Die Positionierung sei also das entscheidende wissensbegründende Vorgehen:

I am arguing for politics and epistemologies of location, positioning, and situating, where partiality and not universality is the condition of being heard to make rational knowledge claims. These are claims on people’s lives. I’m arguing for the view from a body, always a complex, contradictory, structuring, and structured body, versus the view from above, from nowhere, from simplicity. (589)

Die traditionelle Epistemologie stütze sich auf eine Art Gottesstandpunkt, was die Rolle des wissenserzeugenden Subjekts außer Acht lasse. Da aber das Wissen von Menschen erzeugt ist und da jeder Mensch situiert ist, müssen alle Dimensionen der Einbettung in der Umwelt zum Bestandteil des epistemologischen Kontexts werden. Die kontextuelle Betrachtungsweise erlaubt fernerhin, das allgemeine Wissensgut jedes Mal erneut nachzuprüfen, zu interpretieren und letztlich zu übertragen. Das dadurch ausgehandelte Wissen bestehe dann aus einer Vielfalt von Sichtweisen, Standpunkten, sozialen Beziehungen und kulturellen Praktiken, die immer vom Individuum und dessen Umfeld geprägt ist: »Knowledge bears marks of its producer« (Paraviainen 2002: 12). In diesem Forschungs- und Lernprozess sind sowohl das Subjekt als auch das Objekt des Wissens Akteure, Agenten: Das untersuchte Objekt sei also handlungsfähig. Die Wissenschaft hänge daher nicht von einer „Logik der Entdeckung“ ab, d.h. von der Leistung eines Meisters, der Objekte dekodierert, die einfach still darauf warteten, gelesen zu werden, sondern von »a power-charged social relation of „conversation“« (Haraway 1988: 593). In dieser Beziehung findet immer eine Aushandlung statt – eine Aushandlung von Wissensbeständen und -erwerb sowie von Praktiken. Aktive Subjekte in der Forschungsarbeit seien sowohl die Forscher als auch die erforschte Welt. Der Forscher wird somit zum Teilnehmer am Wissensprozess, der das allgemeine Wissensgut aufzeigt und zugleich erweitert.3 Seine Forschungsarbeit bleibt innerhalb des soziokulturellen Beziehungsgewebes ständig verkörpert und das erworbene Wissen ist demzufolge nicht präskriptiv: Kulturelle Hybridität, Netzwerke unterschiedlicher Positionierungen, Zusammenwirkung von Medien und Wissensbereichen, unberechenbare Ergebnisse sind im Forschungsprozess nicht fehl am Platz, sondern Grundsteine der gemeinsamen Praxis. Die situierte Perspektive und die gemeinsame Praxis befähigen die Individuen, das ausgehandelte Wissen in einer dynamischen Umwelt zu nutzen und zu bereichern. Transdisziplinäre Arbeitsweisen, transkulturelle Verbindungen, Experimente als wissenserzeugende Praktiken bringen Wissenschaftler und Künstler immer näher zueinander: Wissenschaftler erzeugen Wissen, indem sie andauernd durch die konkrete Partizipation an ihrem Umfeld, durch ihre vielfältigen Beziehungen Kenntnisse erwerben, sammeln und markieren. Aus ihrer Position heraus positionieren sich die Künstler in der performativen Praxis als Forscher unter der Bedingung, dass sie eine »critical meta-practice« ausüben (Melrose 2002). Der practitioner muss, anders gesagt, sowohl die Konventionen seiner eigenen Aktivität und Disziplin berücksichtigen als auch einige von ihm angewandte Praktiken infrage stellen. Als aktiver Untersuchungsprozess verkörpert der kreative Schaffensprozess selbst das Wissen, das der Künstler durch seine Arbeit erworben hat und das er in einer erfassbaren Form ausdrückt.4 Künstler und deren Kunst werden zu Wissenssubjekten, insofern die Praktiker den subjektiven Prozess verstehen, durch den sie Wissen erzeugen und verwenden.5 Wissensobjekte stellen nur Gegenstände dar, über die man Untersuchungen vornimmt und dadurch Wissen erweitert; dagegen sind Wissenssubjekte »subjects both in the sense of being subject to and shaped by the social forces constituting particular forms of knowledge, and in the sense of intentionally creating and using new forms of knowledge to transform those social forces« (Crowley/ Himmelweit 1992: 1).

Das Forschungsverfahren durch die Praxis hindurch ist unter dem Namen „practice-based research“ (PBR) bekannt, während der Begriff „practice-as-research“ (PAR) eine gründliche Untersuchung zur performativen Praktik bezeichnet.6 Die Verwandtschaft beider Namen und Forschungsmethoden verweist natürlich auf ihre gegenseitige Abhängigkeit: Erst die Verbindung beider Ansätze kann kognitive und ästhetische Bereiche in Kontakt bringen und neues Wissen produzieren. Angela Piccini formuliert eine Definition von „practice-as-research“, welche die zwei wissenschaftlichen Perspektiven umfasst:

It is perhaps more useful to think of practice as research as formalizing an institutional acceptance of performance practices and processes as arenas in which knowledges might be opened. Practice as research acknowledges fundamental epistemological issues that can only be addressed in and through practice […]. (2002: 2)

Künstlerische, kreative Tätigkeiten und die wissenschaftliche Reflexion finden in PAR eine Balance: Praxis im Sinne eines hybridisierten, dynamischen und situierten Forschungsprozesses bedeutet mithin Wissenserzeugung und zugleich Wissensaustausch, weil sie die inneren Vorgänge, die Instrumente, die soziale Einbettung einer Kunstpraxis aufzeigt und ständig neu bestimmt. Sie produziert und vermittelt Wissen. Akademische Institutionen konnten folglich die Funktion nicht mehr ignorieren, welche die kontextuelle, praxisorientierte Kunstforschung für den Lern- und Wissensprozess hat: Von Beginn der 1990er Jahre an haben zuerst britische, dann australische, skandinavische und US-amerikanische Hochschulen die Gültigkeit praxisbasierter Forschungsprojekte anerkannt.7 Die Legitimierung dieser Form des verkörperten Wissens stellt allerdings eine doppelte Herausforderung an das akademische Wissenssystem des Abendlandes dar: Zum einen verliert der Geist, der menschliche Verstand seine Bedeutung als einziger locus der sicheren Kenntnis, weil der Körper zum gleichberechtigten Mittel des Wissens wird; zum anderen werden das geschriebene Wort und die Publikation als einzig anerkannte Methoden hinterfragt, die Ergebnisse einer Forschungsarbeit zu speichern und zu verbreiten. Was die praxisorientierte Kunstforschung darüber hinaus in Frage stellt, ist der Auftrag an die Forschung, unbedingt zu festen Ergebnissen zu führen. Jede performative Praktik ist in die aktuellen Fragen derart eingespannt, dass sie einen fundamentalen Beitrag dazu leistet, die Strukturen und Abläufe der Gegenwart zu interpretieren. Die »immanente und performative Perspektive« dieser Art von Kunstforschung bringt aber ein offensichtliches Paradox für die etablierte wissenschaftliche Forschung mit sich: Es handelt sich um eine Untersuchung, »die nicht von einer Trennung zwischen Subjekt und Objekt ausgeht und folglich keine Distanz des Forschenden zur Kunstpraxis voraussetzt. Stattdessen ist die künstlerische Praxis ein wesentlicher Bestandteil sowohl des Forschungsproze­sses als auch der Forschungsergebnisse« (Borgdorff 2009: 30). Der practitioner ist derjenige Wissenschaftler, der aus seiner pragmatischen Perspektive die Probleme identifiziert, die in der Praxis selbst entstanden sind, und der dafür Lösungen sucht, die ihrerseits von der Praxis geprägt sind. In einer von Praktikern-Wissenschaftlern betriebenen Forschung werden Aspekte wie Subjektivität, Selbstreflexivität und Interaktion mit Forschungsmaterialien zur Kenntnis genommen und Wissen ergibt sich als ausgehandelt, kontextbezogen und intersubjektiv. Henk Borgdorff erklärt diesen Ansatz näher, indem er die Übereinstimmung von Theorie und Praxis in der Kunst ins Gedächtnis ruft: Die direkte Interdependenz von Konzepten, Denk- und Interpretationssystemen, Erfahrungen und Auffassungen in Kunstpraktiken findet in PAR ihr Pendant, denn diese Kunstforschung versucht, »einen Teil dieses im kreativen Prozess oder im Kunstobjekt enthaltenen Wissens zu artikulieren« (Ebd.). Das Ziel der praxisbasierten Forschung unterscheidet sich also nicht prinzipiell von dem der akademischen Forschung, weil sie immer einen Wissens- und Erkenntnisgewinn in verschiedenen Bereichen des menschlichen Lebens anstrebt. PAR geht jedoch ein antipodisches Verhältnis zum Logozentrismus der Forschung im Universitätsbereich ein: Der Versuch zur Legitimierung der Praxis an Hochschulen kollidiert einerseits mit dem Konzept des wissenschaftlichen Wertes der Forschung und andererseits mit dem Dokumentationsbedarf. Der traditionelle Forschungsbegriff ist von bestimmten akademischen Standards, Gebräuchen und Protokollen geprägt, welche am Ende zu einem schriftlichen Text zusammenfließen. Der Wert einer Forschungsarbeit lässt sich anhand der Originalität des Beitrags zum kollektiven Wissen sowie anhand der Beweisbarkeit der Forschungsergebnisse durch ein kohärent angewandtes theoretisch-methodologisches Instrumentarium abschätzen. Im Falle von praxisbasierten Untersuchungen gelten jedoch andere Gesetze, die die Kunstforschung leiten, weil die Infragestellung der Forschungsprozesse, das Hervorbringen von unerklärtem, nicht-begrifflichem Wissen und die bewusste Reflektion über schon etablierte Kunstpraxen hier viel wichtiger als empirisch überprüfbare Ergebnisse sind.