Kitabı oku: «Ring der Narren»

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Chris Inken Soppa

RING DER NARREN

Kostüm und Offenbarung

Roman

edition karo, neue literatur, Band 5

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über www.dnb.ddb.de abrufbar. Chris Inken Soppa

RING DER NARREN. Kostüm und Offenbarung

Verlag Josefine Rosalski, Berlin 2012

1. Auflage

© 2012 edition karo

im Verlag Josefine Rosalski, Berlin

www.edition-karo.de Alle Rechte vorbehalten Umschlagrafik: © Ljiljana Pavkov, iStockphoto.com

1. Digitale Auflage 2012 Zeilenwert GmbH

ISBN 9783937881850

Chris Inken Soppa arbeitete nach ihrem Studium als Nachrichtenredakteurin, u. a. für den Mitteldeutschen Rundfunk.

Im Jahr 2010 erschien ihr Roman Unter Wasser in der edition karo, 2011 wurde sie Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg, und 2012 erhielt sie für ihre englische Kurzgeschichte Victor den Daniil-Pashkoff-Prize 2012. Sie lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Konstanz.

Für Ralf

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Für Ralf

Die Macht der Schlafenden

Saison Nummer Fünf

Katerstimmung

Parallelwelten

Gefundene und Vermisste

Verkleidung: Familie

Brillen in Rosa

Einfache Vergangenheit

Hüllen in Schwarz

Enttarnt

Die Macht der Schlafenden

Ein akademischer Nichtsnutz, ein Müßiggänger, ein eckiger Bolzen, der mit den amorphen Rundungen seiner Welt nicht zurecht kam. Ein Laberkopf, ein Unpünktlicher. Er kehrte Laub auf dem Friedhof. Er verkaufte fettglänzende Leberkässemmeln an übergewichtige Kinder. Er brachte gehbehinderten Großmüttern ihre Fertigmahlzeiten. Doch seine Zeit verging in Schüben, neckte ihn, schlich sich hinterrücks davon, ließ sich nicht einfangen, und dann war er schon wieder zu spät, obwohl er genau wusste, dass es ungehobelt war, einsame alte Damen warten zu lassen.

Milton Meier war zweiundvierzig. Der Ernst des Lebens hatte sich bis heute nicht bei ihm gezeigt. Einstige Gespielinnen heirateten andere Männer. Seine Freunde hatten anspruchsvolle Jobs, urlaubten in streng gestalteten Familienhotels und trafen sich regelmäßig mit ihren Golfpartnern. Milton beantwortete Werbeanrufe und las bunte Reklamebriefe. Die Fast-Food-Restaurants, in denen er aß, waren ebenfalls bunt, mit prahlerisch direkten Farbfotos anstelle von Speisekarten. Das Internet steckte voller leuchtender Bilder, die sich entfalteten, sobald seine elektronische Hand ein Symbol berührte. Selbst die fordernden Briefe vom Arbeitsamt waren von ihrem früheren Beamten-Graugrün abgekommen und mitleidslos knallig geworden.

Morgens lag Milton lange im Bett und redete mit den Astlöchern auf den Holzpaneelen seiner Zimmerdecke. Sie waren seine Mitbewohner, er mochte sie, erzählte Anekdoten und rätselte mit ihnen, was der Sinn seines Lebens sein könnte. Das runde Loch oben sah aus wie ein Puttenkopf, er nannte es Albert Einstein. Das längliche mit dem dunklen Punkt in der Mitte hieß Richard Dawkins und die Hundeschnauze mit der leuchtenden Nase Charles Darwin. Das kleine tiefschwarze Loch ganz links war die Unendlichkeit. Eine Zeit, in der niemand zu spät kam.

Vor zwei Jahren arbeitete Milton als Hausmeister im Feuerwehrmuseum. In der ehemaligen Schlosstorkel standen etwa fünfzehn Spritzenwagen aus anderthalb Jahrhunderten so eng beieinander, dass ein interessierter Besucher kaum genügend Abstand erreichte, um die goldenen Schriften auf den Seiten der Fahrzeuge zu lesen. Der älteste Wagen aus dem Jahr 1858 glich einer Kanone. Der neueste war ein Kübelwagen mit aufgerollten Schläuchen, der den Zweiten Weltkrieg unversehrt überstanden hatte. Im Stockwerk darüber lagen Helme hinter Glas. Einige waren mit brennbaren Federpuscheln bestückt; sie hatten den ranghöchsten Feuerwehrleuten gehört, samt dem Privileg, ihren Untergebenen aus sicherer Entfernung bei den Löscharbeiten zuzusehen. Ein anderer Helm war praktischer, mit dem sogenannten Ziegelspalter aus Stahl, der vertikal nach oben stand wie ein Hahnenkamm.

Es gab auch Uniformen. Eine stammte aus dem Jahr 1944. Sie hing an einem Bügel hinter den Vitrinen, blau mit roten Paspeln, Blechknöpfen und Hakenkreuz am Gürtel. Milton hatte sich gefragt, ob solche Klamotten wohl für die allgemeine Verblendung mitverantwortlich gewesen waren und ob man heute noch etwas davon spüren würde, eine verborgene Schwingung, die sich von der Uniform auf den darin steckenden Menschen übertragen und mörderisches Tun auslösen konnte. Nachdem sich Milton einmal aus Neugier in den kratzigen Anzug hineingewunden hatte, spürte er brennende Verlegenheit. Die Hosenbeine waren unten zu eng. Der Reißverschluss ging nicht zu. Die Jacke war so knapp geschnitten, dass sie ihm die Schultern nach oben zog. Nur der Gürtel ließ sich schließen. Ein Museumsbesucher hörte lautes Schnaufen, spähte durch den Raum und entdeckte einen schwitzenden Feuerwehr-Nazi mit offenem Hosenstall, der mit seiner Uniformjacke kämpfte und sich beinah selbst strangulierte. Gerade noch rechtzeitig gelang es dem Besucher, Milton mit einem kräftigen Ruck aus dem kompromittierenden Kostüm zu befreien. Ein Ärmel riss, es knackte in Miltons Ohren. Als er wieder etwas sehen konnte, nahm er seinen Helfer wahr, einen rosigen älteren Herrn im Trenchcoat, der ihn vorwurfsvoll anblickte und die derangierte Uniformjacke am ausgestreckten Arm weit von sich hielt.

Nach diesem Auftritt war es kaum einzusehen, dass Milton seinen Hausmeisterjob behielt. Immerhin gab es genügend andere, die für Arbeit jeglicher Art dankbar waren und bereit, sich mit Herz und Hand einzusetzen. Das erklärte ihm der Museumsdirektor beim Entlassungsgespräch. Miltons Retter erstattete Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und beklagte Miltons fehlende Achtung vor historischen Exponaten. Als die Polizei vor Miltons Wohnungstür stand, hatte der längst begriffen, dass es besser war, sich von Einheitskleidung fernzuhalten.

„Was wollten Sie mit der Uniform? Offen für rechtes Gedankengut?“

„Ich dachte bloß …“ Vor allem dachte Milton an seine unaufgeräumte Bude, in der die exakte Geradlinigkeit der vor ihm wartenden Polizeikluft deplatziert gewesen wäre.

„Sie hätten sich schon vor zwei Wochen bei uns auf dem Revier melden sollen. Haben Sie einen Anwalt?“

„Der Stoff“, sagte Milton. „Es war Worsted Tweed. Das ist interessant. Den trugen damals nur die Engländer.“

Der Polizist war noch jung, seine Kollegin besaß einen Vorbau, der sich aufrichtig gegen ihre unnachgiebige Jacke stemmte, und einen hellen Pferdeschwanz aus freundlichen großen Locken. Wieso eigentlich landeten vor allem die molligen Mädels beim Polizeidienst – diejenigen, deren Kurven sich mit dem straffen Schnitt der Uniform so gar nicht vertrugen? War es Masochismus? War es der Wunsch, einen schweren Frauenkörper in eine stromlinienförmige Waffe zu verwandeln? Oder stand etwa, wie bei Milton selbst, das Verlangen dahinter, die Autorität zu spüren, die solch strenges Material seinem Träger vermittelte? Dann müsste sie ihn eigentlich verstehen.

„Kenne ich nicht“, sagte der Polizist.

„Die deutschen Uniformen wurden damals aus Drillich gemacht“, erklärte Milton. „Drillich ist sehr robust. Die engmaschige Gewebestruktur kann bis zu zwanzigtausend Reiberunden aushalten, ohne auch nur zu pillen. Die engen Maschen bewirken allerdings auch noch etwas anderes.“

Die Polizistin griff sich mit beiden Händen in den Pferdeschwanz und riss ihn mit einem Ruck auseinander.

„Sie bewirken, dass sich das Material zunehmend steifer anfühlt“, fuhr Milton fort. „Vor allem Feuchtigkeit bringt die Fäden dazu, sich noch enger zusammenzuziehen. Drei Wochen Dienst im Nebel oder ein versehentlicher Guss aus der Feuerwehrspritze und schon ist der Stoff hart wie ein Brett.“

„Ah ja“, bemerkte die Polizistin mit aufkeimender Einfühlungskraft. „Das ist sicher unbequem.“

„Heute haben Sie diese Uniformen aus Chinotwill“, sagte Milton. „Seien Sie froh und dankbar.“

Auf dem beigefarbenen Oberschenkel des männlichen Polizisten entdeckte er Überreste fetter Bratensoße, dicht und dreidimensional wie ein abgestorbenes Stück Hornhaut.

„Bis zu einem gewissen Grad sind solche Hosen wasser- und fleckabweisend.“ Milton bückte sich und schabte den Fettrest von der Bügelfalte des Polizisten. „Hier.“

Auf der Hose war jetzt nur noch ein blasser Punkt zu erkennen. Milton präsentierte dem Polizisten den Fettpopel auf dem Handteller. „Ihr Stoff kann das ab. Selbst ein deftiges Mittagessen in der Polizeikantine, wo immer mal was daneben geht, hinterlässt keinen bleibenden Schaden.“

Der Polizist fegte Miltons Hand beiseite und stieß ihn mit dem Rücken gegen den Türrahmen. „Sie haben uns immer noch nicht gesagt, was Sie mit dieser Uniform wollten.“

„Zacharias“, mahnte seine Kollegin. „Keine Gewalt.“

Milton rieb sich die Schulter, die mit dem Schlüsselkasten kollidiert war. „Ich weiß ja nicht, worauf Sie so stehen. Latex? Gummi? Silikon? Merino? Oder doch lieber Ihre Twill-Hosen? Schließlich sind Sie ein Schutzmann, oder? Jeder hat seinen Fetisch, obwohl das viele nicht mal wissen. Bei mir ist es der Worsted Tweed. Ich konnte einfach nicht anders.“

„Sie konnten nicht anders als sich als Nazi zu verkleiden?“ Der Polizist Zacharias rang sichtlich um Selbstbeherrschung.

„Irgend jemandem bei der Feuerwehr muss es damals ähnlich gegangen sein“, sagte Milton. „Sonst hätte er die Klamotten ja aus Drillich machen lassen. Wie die ganzen anderen deutschen Uniformen auch.“

Die Wangen des Polizisten Zacharias ließen sich in sympathische Falten legen, sobald er lächelte, doch das Lächeln war ihm vergangen. Er glotzte Milton nur noch an, verständnislos, wie ein Fisch.

„Vielleicht hatten sie ja kein Drillich mehr“, flötete die Polizistin hilfsbereit dazwischen.

„Ach ja.“ Milton nickte. „Das Ende des Krieges. Die Befreier hatten bereits alle Ebenen unterwandert. Der Worsted Tweed war nur der Anfang. Dann kamen die Jeans und heute also diese Chinotwill-Hosen. Ich möchte wetten, die sind irgendwo in Asien hergestellt worden. Von putzigen unterernährten Kleinkindern mit braunen Augen. Ich an Ihrer Stelle würde mich schämen, so etwas zu tragen.“

Die Faust des Polizisten knallte gegen Miltons Nase. Mit dem Rücken zum Türrahmen ging Milton zu Boden.

Verständlicherweise betrachtete er sein unsicheres Expertentum mit Misstrauen. Es ging darum, im richtigen Moment den Mund zu halten. Da aber Milton wenig Gefühl für unregelmäßige Zeitverläufe besaß, wusste er auch nicht, wie sie sich zum eigenen Vorteil nutzen ließen. Der Sinn für fremde Rhythmen fehlte ihm. Die Synchronisation mit anderen Menschen blieb unvollständig, bruchstückhaft. Es fiel ihm oft schwer zu begreifen, was die Leute von ihm wollten. Sobald er die Botschaften anderer zu ergründen versuchte, wurde er in Gespräche verwickelt, aus denen er nur schwer wieder herausfand. Er gab immer zu viel oder zu wenig von sich preis. Und zum Schluss überwog das Gefühl, sinnlos Zeit vergeudet und sich dabei selbst gedemütigt zu haben.

„Irgendwann wird dir jemand einen Nagel durchs Hirn jagen, nur damit du endlich still bist“, prophezeite seine Schwester später, während sie ihm mit einem Wattebausch die blutende Nase abtupfte. „Du wirst enden wie Sisera im alten Testament. Der war wahrscheinlich ein großer Prediger. Genau wie du.“

„Sisera war kein Prediger, sondern ein Tyrann“, entgegnete Milton. „Ein Unterjocher der Israeliten. Außerdem hat er dabei geschlafen.“

„Aber bis dahin werden sich noch viele sensible Gemüter über deine Worte ärgern.“ Sie hatte gar nicht zugehört. „Ich frage mich, wie du das immer machst.“

„Ich mache gar nichts“, sagte Milton. „Ich will bloß meine Ruhe.“

Es stimmte, Sisera hatte geschlafen, als ihm Jael ihren Nagel durch den Kopf trieb. Ganz offenbar wollte er sterben. Seit seiner Kindheit bildete sich Milton ein, dass Schlafende eine geheime Macht ausübten. Als ganz kleiner Junge war er oft als erster aufgewacht und hatte dann seine schlafende Schwester beobachtet. Er verfolgte das leichte Auf und Ab ihres Atems im Stockbett unter ihm, lauschte ihren Geräuschen, die sich mit den Geräuschen im Haus und draußen auf der Straße zu einem Klangnetz verwoben. Das Quietschen der Straßenbahn, das Scheppern eines Mülleimerdeckels, das Gejohle von Schulkindern, das Ah! Ah! Ah! der Nachbarin störte die Menschen in ihrem Schlaf nicht, vielmehr schien es von ihnen auszugehen. Die Schlafenden waren der Mittelpunkt des Geschehens; sie bestimmten, in welcher Lautstärke und in welchem Rhythmus der kommende Tag heranschreiten sollte. Alles, was ihnen im Schlaf zustieß, hatten sie so geplant. Milton bewunderte die Kunst der Schlafenden, sich mühelos und selbstverständlich zum wichtigsten Teil der Welt zu erheben. Ein paradiesischer Zustand, der nur eine einzige Konsequenz erlaubte.

Im Alter von zwölf Jahren wurde Milton Langschläfer. Von da an war er für sein Schicksal selbst verantwortlich.

Saison Nummer Fünf

Milton steckte in einem Faschingskostüm. Es war nicht irgend ein Kostüm, sondern ein teures Erbstück, ein handgenähtes Kleid aus den Goldenen Zwanzigern mit herabgesetzter Taille und eng anliegenden Ärmeln, das einst einer grobknochigen Frau gehört haben musste. Es passte ihm wie angegossen.

Früher hatte er sich Jahr für Jahr kostümiert ins Getümmel der Straßenfastnacht gestürzt. Superman. Adenauer. Robinson Crusoe. Zeus. Bob Dylan. Und, mit weinrotem Samtsakko, weißen Strümpfen und flaschengrünen Kniebundhosen als König Ludwig von Bayern. Ein Riesenerfolg. Die Hexen und Närrinnen auf den Gassen waren hingerissen. Eine strenge Cleopatra begann sofort, ihre Finger mit den Strähnen seiner schwarzen Lockenperücke zu verflechten, noch ehe er ihr einen Becher Glühwein anbot. Milton hatte die Fremde sanft und entschlossen in den nächsten Hauseingang geschoben, als die Tür nach innen aufging und Milton mit Cleopatra in einen dunklen Flur stolperte. Sambaklänge dröhnten aus der benachbarten Besenwirtschaft. Milton nahm die Fremde bei der Hand und flüchtete mit ihr schmale Holzstufen hinauf in den ersten Stock, um dort die Beschaffenheit ihrer königlichen Leibwäsche zu erforschen. Cleopatra hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und er fühlte sich willkommen. Im Parterre klappte die Tür zur Besenwirtschaft auf. Das Trommeln der Sambagruppe drang lärmend bis zu ihnen hoch, ihre Körper schwangen im Rhythmus mit. Cleopatra riss König Ludwig die Perücke vom Kopf und schrie ihm etwas ins Ohr. Lange Finger zerrten an seiner Samtjacke.

„Was war das?“, fragte Milton in die erlösende Stille hinein, nachdem die Sambagruppe das Haus trillernd und trommelnd verlassen hatte.

„Ich wollte dir nur sagen, ich bin HIV-positiv.“

„Äh.“ Miltons Leidenschaft zerstob mit einem Schlag in graue, herbe Realität.

„Ich kann es selbst noch gar nicht glauben.“ Cleopatra löste ihre Finger aus seiner Samtjacke, gab ihm die Perücke wieder, zwinkerte ihm Abschied nehmend zu und spazierte gelassen die Treppe hinab.

Miltons Besuch beim Hausarzt am darauffolgenden Aschermittwoch verlief unbefriedigend. Der Arzt wollte offenbar so schnell wie möglich zu seinem Mediziner-Fischessen. Zwischenfragen von Laien waren da nur Zeitverschwendung.

„Falls Sie positiv sein sollten, werden wir es Ihnen in der nächsten Woche mitteilen. Sie können ja anrufen.“

„Und Sie wissen noch gar nichts?“, fragte Milton niedergeschlagen.

„Wir werden die Blutprobe einschicken. Ich bin doch kein Haruspex.“

„Wie bitte?“

„Kein Opferschauer, der aus Blut und Eingeweiden die Zukunft eines Menschen abliest. Obwohl ich mir an jedem Aschermittwoch erneut wünsche, einer zu sein.“

„Ich habe wohl ein falsches Bild von euch Medizinern.“ Milton stellte sich vor, wie der Herr Doktor mit Skalpell und Schere einen Karpfen sezierte und sich dabei ausmalte, wieviel er im nächsten Jahr an seinen Privatpatienten verdienen würde.

„Im Labor haben sie nur begrenzt Personal. Besonders in den ersten Tagen der Fastenzeit.“ Mit unbewegtem Gesicht erhob sich der Arzt und öffnete die Tür. „Lassen Sie sich an der Rezeption die Telefonnummer geben!“

Milton hatte Glück. Er durfte sich durch und durch negativ fühlen. Das Damoklesschwert aber, dessen Spitze tagelang auf sein Leben gezielt hatte, verlieh ihm Misstrauen gegenüber verkleideten Menschen. Als er den Job im Feuerwehrmuseum verlor, wurde ihm klar, dass auch andere Leute stutzig wurden, wenn sich einer mit falschen Klamotten hochstapeln wollte. Kein Wunder, dass die Menschen in Sachen Alltagsgarderobe so kleinmütig waren. In nächtlichen Träumen sah Milton sich in knallenger Ledermontur und wehendem schwarzem Mantel durch die Innenstadt schlendern. Zum Glück wachte er immer auf, bevor er zusammengeschlagen wurde.

Das teure Erbstück aus den Goldenen Zwanzigern gehörte seinem Kumpel Viktor, den er gelegentlich zum Trinken und Pfeile werfen in die Kneipe begleitete. Viktor war ein Faschingsnarr im besten Sinne. Nur wenige Wochen im Jahr durfte er seinen glänzenden Billardkugelkopf mit Perücken bedecken, ohne dass sich jemand darüber mokierte. Und das kostete er aus, schamlos und mit kindlicher Freude. Es gab kaum eine Nacht in der Fünften Jahreszeit, in der er nicht unter einem bunten Mop aus Plastikhaaren, die seinem Gesicht etwas engelhaft Weiches verliehen, im schwarzen Anzug um die Häuser zog. War Milton bei ihm, seit Cleopatra stets in Zivil, staunte er über Viktors körperliche Wandlungsfähigkeit. An allen restlichen Tagen des Jahres war Viktor ein bulliger Augenoptiker, dessen Kunden stets damit rechnen mussten, dass er handgreiflich wurde und ihnen genau die richtige Brille auf die Nase drückte. Frauen bewunderten seinen künstlerischen Weitblick und seine rüden Verkaufstechniken. Die Männer beklagten die Preise seiner Gestelle und bezahlten sie trotzdem gern. Viktor gab sich nicht mit Schmeicheleien ab. Er nannte schiefe Nasen, asymmetrische Augenbrauen, fehlende Tränenflüssigkeit, miserable Hell-Dunkel-Reaktionen und unterschiedliche Ohrhöhen beim Namen und fand im Nu die passende Lösung. Er galt als glaubwürdig, der Billardkugelkopf war Teil des Programms. Eine Echthaarperücke hätte seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt. Also blieben Viktor nur die Faschingswochen.

Dieses Jahr hatte er Milton bedrängt, sich mal wieder auf ein Kostüm einzulassen. Das teure Kleid aus den Zwanzigern brachte er eigens für ihn mit. Es hatte Viktors Großmutter gehört, einer lustorientierten Berlinerin mit Faible für Joachim Ringelnatz.

„Wenn man das zierlichste Näschen

Von seiner Braut

Durch ein Vergrößerungsgläschen

Näher beschaut

Dann zeigen sich haarige Berge

Dass einem graut.“

So deklamierte Viktor, nachdem er Milton keine Ruhe gelassen hatte, bis dieser das Kleid endlich überstreifte. Im Spiegel sah Milton eine Drag Queen mit Dreitagebart und zartem Gespitzel über der Brust, das nicht recht wusste, ob es flattern oder spannen sollte. Miltons Haare waren in diesem Winter kinnlang und hingen ihm über die linke Gesichtshälfte, was Viktor Anlass zu Sticheleien über den verzweifelten Charme alternder Boy-Band-Boys gab. Milton hob die Schultern, um zu überprüfen, ob ihm das Kleid etwas Spielraum für Bewegungen ließ, die selbst einer lustorientierten Berlinerin aus den Zwanzigern zu gewagt gewesen wären. Er reckte die Arme, spreizte die Beine, rieb sich am Türrahmen und verfiel schließlich auf eine Josephine-Baker-Parodie. Brüllend vor Lachen rammte ihm Viktor seine groben Optikerfinger in die Seite. Das Kleid hielt es aus.

„Du brauchst noch hohe Schuhe“, riet Viktor, nachdem sich seine Stimmlautstärke wieder normalisiert hatte. „In der Altstadt gibt’s einen Secondhandladen mit Übergrößen.“

„Und wer soll die besorgen?“ Milton stellte sich eine winzige weißgelockte Verkäuferin vor, die ihm mit ängstlichem Blick einen roten Schuhlöffel brachte, damit er seine Füße in schwarze Pumps Größe 46 zwängen konnte. Doch höchstwahrscheinlich würde sie ihm die Schuhe vorher entreißen, um mit den Absätzen stereo auf ihn einzuschlagen. Pfennigabsätze aus Metall verursachten mit Sicherheit höllische Wunden.

„Vögel wie du kommen da in der Faschingszeit öfter vorbei.“ Viktor zog einen Elektrostatik-Staublappen aus der Gesäßtasche seiner Jeans und polierte sich den Kopf. Das angenehm Pappige eines solchen Staubwischers vertrage sich prächtig mit der unendlichen Glätte seines Kopfes, hatte er Milton einmal erklärt. Regelrecht süchtig sei er nach dem Kitzel winziger, wenn auch unsichtbarer Härchen, die sich steil aufrichteten, sobald der Lappen nur in ihre Nähe kam. Im Laden begründete Viktor seine Staublappen-Manie mit hygienischen Vorgaben der Gesundheitsbehörde. Überall standen grüne Swiffer-Kartons, aus denen sich Viktor regelmäßig bediente. Seine Mitarbeiter waren inzwischen zu stoisch für weiterführende Gedanken, den Kunden verbot die Höflichkeit, Fragen zu stellen. Manchmal murmelten sie etwas von „seit zehn Tagen Hitze“ oder „diese Kälte lädt doch alles auf“, um Anteilnahme zu signalisieren. Dann begann Viktor in der Regel mit einer längeren Tirade gegen die irren Dilettanten der Stiftung Warentest und ihre unwissenschaftlichen Methoden, elektrostatische Staublappen zu benoten. „Das sind Laien von der Straße, die von Physik keine Ahnung haben. Die nehmen so ein Tuch und wischen damit ein paar Fussel von einer Metallplatte. Und dann sagen sie, das Material trockne ihre Hände aus und geben dem Produkt ein Ausreichend.“ Nach einer Weile vergaßen die Kunden ihr Mitgefühl und hofften ergeben, der Optiker möge sich wieder mit ihren Sehfehlern beschäftigen.

Lustvoll wischte sich Viktor nun mit dem Lappen auf dem Kopf herum. Milton glaubte förmlich zu hören, wie sich kleine unsichtbare Härchen knisternd reckten. „Ich will kein Aufsehen erregen“, murmelte er.

Viktor lachte. „Was bist du für ein Pessimist!“

Den Secondhandshop in der Altstadt kannte Milton von außen. Die Heimatlosigkeit der hilflos hinter der trüben Scheibe hängenden Klamotten war ihm bisher nie aufgefallen. Die Mäntel, Röcke und Hosen schienen die Formen ihrer früheren Besitzer konserviert zu haben. Hier erinnerte ein überstrapazierter Reißverschluss an ungesunde Bauchfülle, dort hing ein schlaffes Etuikleid, das einmal einer magersüchtigen Fünfzehnjährigen mit zu breiten Schultern gehört haben mochte. Die Träger dieser Sachen hatten ein Stück ihrer persönlichen Geschichte hier zurück gelassen.

Die düstere Stimmung setzte sich drinnen fort. Hinter der Glastür hing ein Windspiel aus bleichen runden Plastikscheiben. Ein schummriger Raum voller fahrbarer Kleiderständer, die unter ihrer Last fast durchbrachen. Überall matte, grauschwarze, staubige Formen aus Stoff, zwischen denen sich eine gedämpfte Stimme vernehmen ließ.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Jemand drückte einen unsichtbaren Lichtschalter. An der Decke kämpften sich blitzende, summende Neonleuchten langsam und widerwillig in ihren Betriebsmodus. Miltons Blick folgte dem unerwarteten Glitzern und Funkeln, das ihm in dieser Vorhölle aus gebrauchten Klamotten unpassend vorkam. Eine verwuschelte Perücke aus roten, langen Haaren stach ihm ins Blickfeld, zwei ausgestreckte Arme. Ein jeansbekleidetes Frauenbein, das der Schwerkraft zu trotzen schien und senkrecht in die Höhe reichte, um sich irgendwo hinter einem Vorhang aus schwarzem Samt zu verlieren. Milton erschrak, als sich die verwuschelten roten Haare auf einmal teilten und dazwischen ein helles Gesicht auftauchte.

„Ich komme runter!“ Das Frauenbein beschrieb einen kleinen Kreis und verschwand im Glitzern und Funkeln. „Ich muss bloß noch … Mist!“

Milton hörte das elastische Aufkommen zweier Schuhsohlen auf dem Holzboden. Das Glitzern und Funkeln rutschte nach unten weg, und vor ihm stand eine sehnige Frau in zerfransten Jeans und Tank-Top. Ihre roten Haare waren echt. „Tschuldigung für den Auftritt.“ Die Frau versuchte, ihre elektrisierte Frisur mit den Händen zu glätten. „Das war nur ein bisschen Vertikalseilakrobatik. Eigentlich haben wir längst zu.“

Miltons Blick folgte dem dicken Seil, das mehrere Meter über ihnen um einen beachtlichen Deckenbalken geschlungen war und dessen Ende die Frau locker in der Hand hielt. „Wollen Sie sich aufhängen?“

„Ja. Aber ich warte noch auf jemanden.“

„Auf Godot?“, schlug Milton vor.

„Nein.“ Ihre Unterlippe verriet Missmut. „Bloß auf irgend einen Idioten, der mir den Schemel unter den Füßen weg stößt. Würden Sie sich das zutrauen?“

„Unbedingt.“ Milton blickte sich um. „Ich sehe aber keinen Schemel.“

„Tja.“ Die Frau hob in gespielter Ratlosigkeit die Hände. „Dann habe ich ihn wohl verkauft. Ich erinnere mich noch, vor zwei, drei Stunden war einer da, der irgendwas für seine Werkstatt wollte. Einen blauen Anton oder so. Vielleicht hat der ihn mitgenommen.“

„Pech für Sie, dann müssen Sie das Aufhängen leider verschieben.“ Milton sah sie bedauernd an.

„Tja, Pech“, stimmte sie ihm zu. „Es gibt so viele Durchgeknallte. Letztens lief hier eine Objektophile ein, die sich in die Motorsense ihres Nachbarn verliebt hatte. Verliebt, verstehen Sie, im Sinne von miteinander-vögeln-und-anschließend-heiraten-wollen. Doch offenbar war die Motorsense nicht interessiert.“

„Wirklich nicht?“

„Nein, und dann stand sie hier. Fünfundvierzig Jahre, mausgrauer Pferdeschwanz. Heulte sich die Augen aus. Sie suchte ein Geschenk.“

„Für den Nachbarn?“

„Für die Motorsense. Etwas zum Wärmen im kalten Schuppen. Ich weiß nicht genau, wie Motorsensen im Allgemeinen so gebaut sind, aber sie suchte eine Art extralangen Schlafsack. Daunengefüttert. Damit konnte ich ihr nicht dienen, doch ein ehemaliger Gebirgsjäger hat mir vor Jahren ein aufblasbares Lawinenzelt dagelassen. Das fand sie toll. Sogar die Farbe hat ihr gefallen.“

„Signalorange?“

„Sepia. Sie gab mir dreißig Euro dafür. Erstaunlich, was die Leute alles brauchen.“

„Ich brauche ein paar Stilettopumps Größe 46“, sagte Milton.

Die Frau bückte sich rasch nach ihrem Umhang und hängte ihn sich über die Schulter. Ihr knisterndes rotes Haar umrahmte sommersprossige helle Haut und aufgeworfene Lippen, die für ihr Alter zu mädchenhaft wirkten. Ihre Augen waren dunkel und engstehend konzentriert. „Na, dann kommen Sie mal mit.“

Ihr funkelnder Umhang schwang im Kreis, als sie entschieden auf der Ferse umkehrte. Milton fühlte sich, als stünde er am Eingang zu Willy Wonkas Schokofabrik. Er merkte, dass er aufgeregt war. Neugierig. Und ein bisschen hungrig.

In den Tiefen des Ladens fanden sich weitere Kleiderständer, auch automatische, ellipsenförmige, von der Sorte, wie man sie in Wäschereien findet. Einer war vollbehängt mit Mänteln. Im Vorbeigehen drückte Milton auf einen roten Knopf, und die Mäntel fuhren ruckelnd an, schaukelten auf ihren Bügeln und bewegten sich zögernd vorwärts, scheinbar ängstlich darauf bedacht, ihre Bahn nicht zu verlassen. Milton drückte erneut auf den Knopf. Die Maschine blieb stehen. Die Mäntel schwangen in perfektem Gleichtakt nach vorne und wieder zurück, wie eine Reihe Funkenmariechen. Milton griff nach einem lodengrünen Ärmel und hielt ihn fest.

„Den hat uns Heino persönlich überlassen“, sagte die Frau. „Deshalb haben wir ihn auch noch nicht gereinigt.“

„Verstehe.“ Milton zerrte den lodengrünen Mantel zwischen den anderen hervor. Das Kleidungsstück war schwer, unansehnlich und so weit, dass ein Schlauchboot darunter Platz finden konnte.

„Nein, wirklich.“ Die Frau hakte den Bügel aus und breitete den Mantel flach über die übrigen. „Dieses Lodenzeug nimmt Haare und Schuppen wunderbar auf. Und es gibt genügend Fans, die verzweifelt auf der Suche sind nach Heino-DNA. Den Mantel hier werde ich demnächst bei eBay versteigern. Für einen guten Preis.“

Jetzt glaubte Milton, ein paar weißblonde Haare auf dem Lodenstoff zu erkennen.

„Das sind Hundehaare.“

„Und wenn schon.“ Die Frau hängte den hässlichen Mantel wieder zwischen die anderen. „Wenn Sie jetzt bitte mit mir kommen wollen.“

Im nächsten Raum standen Wandregale voller Schuhe, bis unter die Decke. Auf mehreren Etagen waren Filzpantoffeln verteilt, die sich wie geduckte Igel erfolglos unsichtbar zu machen versuchten. Schwarze und braune Herrenhalbschuhe, der Größe nach geordnet. Buntere Fußbekleidungen für Damen. Paarweise in Reih und Glied stehende Absätze in Primärfarben, rot, blau, gelb. Dazwischen einige Abweichler in violett und rosa. Die Frau griff sich ein schwarzes Paar Schuhe mit weißen Paspeln und Zehenriemchen aus der obersten Regaletage.

„Das sind die einzigen Damenschuhe in Ihrer Größe, die ich habe.“

Es waren keine Stilettopumps, sondern Sandalen. Immerhin hatten sie Absätze, halbhoch, gewichtig, konkav, mit gewaltiger Trittfläche. Mit denen brauchte sich Milton keine Sorgen zu machen, sie könnten abbrechen.

„Man kann ganz gut darauf stehen.“ Die Frau wies auf einen roten würfelförmigen Hocker, neben dem ein langer silberner Schuhlöffel lag. „Probieren Sie mal!“

In einem Anflug von Scham setzte sich Milton, zog seine schwarzen, unansehnlichen Mokassins aus und schob sie zur Seite. Die Frau hielt ihren Umhang unter dem Kinn zusammen, als fröre sie. Milton überlegte, ob er seine grauen Socken ebenfalls ausziehen sollte, doch in Gegenwart dieser Frau kam ihm der Gedanke demütigend vor.

„Ich hätte nie vermutet, dass Sie so etwas brauchen.“ Sie reichte ihm den linken Schuh. Milton behielt ihn in der Hand. Trotz der Klobigkeit der Absätze wirkte der Schuh zart, die Riemchen waren winzig. Eine silberne Schnalle verschwand zwischen seinen Fingerspitzen. Das helle Leder der Innensohle zeigte einen klaren dunklen Fußabdruck. Die frühere Besitzerin des Schuhs musste einen hohen Spann gehabt haben, bei Größe 46.

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