Kitabı oku: «Ring der Narren», sayfa 3
„Das hat wohl weniger mit Traditionsbewusstsein als mit Langeweile zu tun“, erwiderte Renée. „Jemanden mit dem Wii-Controller erstechen und den Bildschirm abschalten, sobald die Sauerei zu groß wird. So stellen sie sich das vor. Aber es hat keinen Stil.“
„Von ihren Eltern haben viele nichts anderes gelernt“, gab Milton zu bedenken.
Renée fixierte ihn mit Röntgenaugen und schwenkte gleichzeitig ihr Weinglas, bis der heimische Rote fast den Rand erreichte. „Sie haben keine Kinder, oder? Aber sei’s drum. Die Welt braucht mich heute nicht mehr, und hier wird mich niemand finden. Wir sollten also noch was trinken.“
Milton winkte einer betagten Kellnerin im Varietékostüm, die sich einen großen freundlichen Mund über ihren grimmigen eigenen gepinselt hatte, und bestellte zwei weitere Rote.
„Warum möchten Sie denn nicht gefunden werden?“, wollte er wissen.
„Diese Frage ist mir zu persönlich. Sie hören sich an wie mein Heilpraktiker.“
„Vielleicht bin ich ja einer“, schlug Milton vor.
„Vielleicht. Obwohl, als Sie da neulich in meinen Laden spaziert kamen, da dachte ich eher, der Geheimdienst hätte Sie geschickt.“
„Oh!“ Milton war ehrlich überrascht. „Ich bin eben unauffällig. Ein richtiger PhysioGnom. Aber Sie … Sie haben also etwas zu verbergen. Würde es sich für mich lohnen, Sie zu verraten?“
„Das würden Sie tun?“ Die Elbin betrachtete ihn interessiert.
„Wie hoch ist denn das Kopfgeld, das man auf Sie ausgesetzt hat?“
„Phantastisch hoch“, erwiderte die Elbin. „Allein mit den Zinsen kann man sich ein schönes Leben machen.“
Als Milton am frühen Morgen nach Hause kam, saß eine Frau vor seiner Wohnungstür. Sie war sehr hager, ihr Faschingskostüm erinnerte an Sylphen oder Trollmädchen. Roter Filzrock bis zu den Schuhen, ein lila Hemd, dessen Trompetenärmel ihr über die Hände fielen. Glatte weißkrautfarbene Haare. Ein grünes Halstuch mit schwarzen Sonnensymbolen. Die Farbe ihrer Augen rundete ihren bunten Aufzug perfekt ab.
Ihre Augen waren blau. Geschlagen.
Milton, der gerade seinen Wohnungsschlüssel aus der Handtasche ziehen wollte, sah betreten zu Boden. Misshandelte Frauen kannte er aus der Zeitung und aus den Abendserien im Fernsehen. Er besaß eine kultivierte und wohlausgewogene Meinung zu Frauenhäusern, prügelnden Ehemännern und archaisch-patriarchalischen Ehrenmördern mit deutschem Pass. Doch offenbar hatte Milton bisher ein sicheres Nischenleben geführt, denn aus der Nähe hatte er eine verprügelte Frau noch nie gesehen. In seinem Drag-Queen-Outfit kam er sich auf einmal lächerlich vor.
„Alles in Ordnung?“
Mit Daumen und Zeigefingern drückte sie sich die verquollenen Augenlider auseinander, um ihn anzusehen. Sie wirkte verwirrt. Ihr Mund war ein kleiner, trauriger, dunkelroter Fisch, der in der großen Weite ihres weißen Gesichts nicht mehr nach Hause fand.
„Ich will zu Milton Meier“, flüsterte sie. „Er ist …“ Sie stockte.
„Sind Sie sicher? Milton Meier?“ Die Eindeutigkeit seines Namens überraschte ihn selbst.
„Ich weiß, es ist unhöflich. Zu dieser Zeit …“
„Fast fünf Uhr morgens“, bestätigte Milton. „Doch das hat in den tollen Tagen nichts zu sagen.“ Er tastete erneut nach seinem Schlüssel und bekam ihn endlich zu fassen. „Aber kommen Sie doch herein.“
„Und Sie sind …?“ Die Frau blickte auf seine geöffnete Wohnungstür und hielt sich noch immer mit Daumen und Zeigefingern die Lider auseinander.
„Milton Meier, sehr erfreut.“ Milton streckte ihr seine rechte Hand mitsamt der baumelnden Tasche entgegen. „Ich habe mich heute als Ringelnatz-Anbeterin verkleidet. Fürs wahre Leben finde ich Ringelnatz allerdings zu derb. Ihr Kostüm ist aber auch nicht schlecht. Was soll es darstellen?“
„Derb …“, wiederholte die Frau und stolperte ungelenk gegen den Türrahmen. Sie war ganz offensichtlich am Ende ihrer Kräfte. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, einen vollständigen Satz über die Lippen zu bringen.
Eine halbe Stunde später lag sie fest schlafend in Miltons Bett, während er unerwartet nüchtern und ohne Hintergedanken auf einem seiner Sperrmüll-Sessel saß und sich fragte, was sie bei ihm wollte. Als Schutzschild vor einem Halsabschneider-Ehemann oder einem stechwütigen Vater würde er ihr kaum dienen können, dafür war er zu feige und schwerfällig. Aber sie kannte seinen Namen. Milton Meier war offenbar weniger einzigartig als angenommen. Sonst müsste er sich Sorgen machen. Milton erhob sich leise und holte seinen Laptop, um nachzusehen, was das Internet über ihn wusste. In den Weiten des Netzes gab es zahllose Miltons, doch keine der Suchmaschinen landete einen Treffer. Vielleicht war er tatsächlich nicht auffällig genug. Leute, die sich mit aller Macht daneben benahmen, sich in U-Bahnen entblößten, den Kot ihrer Hunde nicht beseitigten oder sich in Gegenwart ihrer Neugeborenen eine Zigarette anzündeten, solche Leute konnten für den Rest ihres Lebens am Internet-Pranger landen, wenn sie Pech hatten. Dann blieb ihnen nur, vor einen Zug zu springen oder sich von ein paar netzfernen Mönchen in einem abgeschiedenen Kloster aufs Nirwana vorbereiten zu lassen. Die skrupellosesten unter ihnen besorgten sich ein Maschinengewehr und mähten noch eine Schulklasse nieder, ehe sie die Welt verließen.
Kurz kam Milton der Gedanke, sein Wohnhaus via GoogleEarth anzuschauen. Doch dann schaltete er den Rechner wieder ab. Vorgärten von Mietskasernen wirken deprimierend. Irgendwo steht immer ein Mülleimer herum, und die großzügig bereitgestellten Plastikrutschen, mit denen träge Stadtkinder zur körperlichen Ertüchtigung animiert werden sollen, sehen sogar aus der Satellitenperspektive schäbig aus.
Die Frau schnarchte leise. Den hervortretenden Adern ihrer herunterhängenden rechten Hand nach zu urteilen, musste sie um die Vierzig sein, wie er selbst. Sie hatte ihm nicht einmal gesagt, wie sie hieß. Ihr Gesicht verschwand fast zwischen seinen Biber-Bett-Kissen, ein protestantisches Sopranistinnen-Gesicht, dessen Trägerin geschieden ist, Kirchentage besucht, für den Weihnachtsbasar jede Menge Spekulatius bäckt, mit den Kindern vorm Zubettgehen Gebete rezitiert und vom Schutzengel erzählt. Sollte er jetzt zu ihr in sein Bett steigen, sie von hinten umarmen, bis sie sich umdrehte und ihm ihren kühlen evangelischen Atem ins Gesicht blies? In den tollen Tagen passierten die tollsten Dinge. Ihre blauen Augen allerdings waren keine Clownsschminke.
Draußen läutete eine Kirchturmglocke. Bald würden die ersten Streifen der Dämmerung über die Stadt kriechen und den letzten Feiernden neues Licht geben. Milton war aus seinem Kleid gestiegen und hatte sich in einem bequemen dunklen Jogginganzug vergraben. Seine Müdigkeit war weg. Er könnte seine alte Kinder-Plastikknarre aus dem Keller holen und damit eine Bank überfallen. Es war sechs Uhr, Zeit für den Nachtwächter-Schichtwechsel und die ersten Geld-Transporte. Mit seiner alten Skimütze und den Wildleder-Laufschuhen würde er einen glaubwürdigen Bankräuber abgeben. Kurz vor Schichtende würde er die Überwachungskamera mit einer selbst gekauten Packung Orbit White überkleben, dem gähnenden Nachtwächter seine Kinderknarre an den Hinterkopf halten und ihn dazu bringen, ihm eine Plastiktüte voller knitterfreier Banknoten zu überreichen. Damit würde er sich aus dem Staub machen, bevor der Alarm losging. Im Stadtpark würde er sich der Knarre entledigen, die Plastiktüte im hinter einem Baum versteckten Minirucksack verstauen und mit dem Geld auf dem Rücken als harmloser Jogger nach Hause rennen, während die Polizei Straßensperren errichtete und jeden verdächtigen PKW nach großen Scheinen durchfilzte.
Die Frau hieß Silke. Diplompsychologin Silke Weidemann, eine Freundin seiner Schwester Mime. Kein Wunder, dass Milton zunächst nicht wusste, wer sie war. Sie hatte sich verändert. Vor etwa einem Jahr war sie noch eine feiste Frischvermählte gewesen. Inzwischen trug sie deutlich weniger Gewicht mit sich herum und ihr Ehering schien abgefallen zu sein. Dafür hatte sie sich ein neues Problem eingefangen.
„Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Patienten.“ Silke schob sich ein Haarband zwischen die Zähne. „Er ist das große V für Versagen, das an der Decke klebt und zu mir herabgrüßt, sobald ich morgens die Augen aufmache. Ich sollte ihn an einen Psychiater überweisen, damit er Psychopharmaka bekommt. Doch er will das nicht, er sagt, er kriegt Pestbeulen davon. Wenn das so weiter geht, kriege ich noch selber Pestbeulen, weil ich aus schierer Verzweiflung die Mittel schlucke, die eigentlich für ihn sind“, brachte sie undeutlich hervor, während sie ihre Haare zu einem bescheidenen Zopf zusammenraffte und mit dem Band umwickelte. „Er war der Meinung, ich sei nicht seine Mutter.“
„Womit er vermutlich recht hat.“
„Seine Mutter hat ihn früher auf dem Stuhl festgebunden, bis er seinen Teller leer hatte. Selbst Milchreis musste er essen, bis zum letzten Korn.“
„Was ist an Milchreis auszusetzen?“, erkundigte sich Milton.
„Es macht ihm noch mehr Beulen. Laktoseunverträglichkeit. Aber dieses Wort kannten in den sechziger Jahren höchstens ein paar Laborratten. Nicht mal die haben daraus die notwendigen Schlüsse gezogen.“
Milton betrachtete die Milchtüte, die immer noch auf dem Frühstückstisch stand. Einskommafünf Prozent Fett. EU-Öko-Siegel. Pasteurisiert. Homogenisiert. Genau das Richtige, um es sich in den Kaffee zu schütten.
„Danach fängt man an zu schmatzen“, sagte er.
„Bitte?“ Die Frau sah ihn hoffnungsvoll und ein bisschen verängstigt an. Milton fragte sich, was sie von ihm erwartete. Sollte er etwa über sie herfallen und ihr die Reste ihres jämmerlichen Kostüms vom Leib reißen? Oder wollte sie nur mit ihm reden? Über einen Problempatienten, dessen Geisteskrankheit schon dadurch diagnostiziert war, dass er sich ausgerechnet diese Frau als Psychotherapeutin ausgesucht hatte.
„Milch hat eine extreme Oberflächenspannung“, erklärte Milton. „Beim Sprechen löst sich die Zunge schwer vom Gaumen und macht so ein klickendes Geräusch. Ein Schmatzen. Das kann äußerst störend sein, besonders bei Tonaufnahmen. Ist er vielleicht Synchronsprecher?“
„Er ist zwanghaft.“ Silkes Stimme klang weich. „Und in seiner Freizeit dreht er schöne kleine Filme über sein Leben, die keiner sehen will. Ich meine, vielleicht … vielleicht haben Sie ja recht.“
„Was?“
„Er dreht Filme aus der extremen Subjektive und beschreibt gleichzeitig, was er da sieht“, sagte Silke. „Er sagt, er will den Augenblick festhalten zwischen Zukunft und Vergangenheit. Also filmt er einen Baum und sagt: Das ist die Kastanie vor meinem Haus. Eine wunderschöne Idee, sehr künstlerisch. Aber dafür muss er eben laufend ins Mikrophon sprechen.“
Milton versuchte, sich ein Leben vorzustellen, in dem ihm eine innere Stimme pausenlos die Welt erklärte. Er war sich sicher, dass es einen Namen für dieses Leiden gab. Selbst als Film musste es eine quälende Angelegenheit sein, dumpf und schwerfällig, unironisch, wortgetreu, eindeutig, unverblümt. Ein Film für Blinde. Die absolute Wahrheit.
„Woher wussten Sie das?“, fragte Silke.
„Es ist zum Durchdrehen.“ Milton vermerkte enttäuscht, dass sie auf seinen primitiven kleinen Wortwitz nicht reagierte. „Ich wusste es nicht. Ich weiß eigentlich nie etwas. Ich habe bloß geraten.“
Daraufhin begann sie zu lachen, lang anhaltend und atemlos. Es klang, als wollte sie weinen.
Katerstimmung
Quinn Beckstein war kurz davor, die Welt zu hassen. Sein Bluttest ergab vernichtende 2,1 Promille, ihm war schlecht, die tropfende Platzwunde am Kinn hatte seine Kapuzenjacke bis aufs Hemd durchfeuchtet. Man verpasste ihm sieben Nadelstiche ohne lokale Betäubung. Nach dem vielen Alkohol täte ihm ein wenig Realität ganz gut, meinte der sadistische Dreckskerl von einem Arzt. Danach hatten ihn die Bullen nach Hause gefahren, aber seine Mutter war noch nicht da. Wahrscheinlich lag sie im Bett dieses Transvestiten, der ihm ein Bein gestellt hatte. Sie hatte sich keinen Schritt gerührt. Mit ihren albernen spitzen Ohren und den roten Haaren stand sie neben dem tuntigen Kerl und schaute Quinn gleichgültig nach, wie er vom Platz geschleppt wurde.
Die Bullen gaben ihm ein Schreiben für sie mit, in dem sie gebeten wurde, sich auf dem Polizeirevier zu melden; einen grauen Zettel mit grüner Schrift, den er sofort in die Tonne klopfte. Er prüfte die Nachrichten auf seinem Mobiltelefon. In einer teilte ihm Clara mit, sie wolle ihn vorerst nicht mehr sehen. Mit pochendem Kinn erinnerte er sich an ihr Haremskostüm, die Träne in ihrem Bauchnabel, die eigentlich nur ein Straßsteinchen war, und daran, wie wütend ihn ihre Abfuhr gemacht hatte. Er war jähzornig, das hatten ihm seine Lehrer bereits attestiert, als er noch ein armseliger Erstklässler war, viel zu schwach, sich auf ehrliche Art und Weise zu wehren. Von fehlenden Vaterfiguren hatte er gehört und begriff das nicht. Väter tranken zu viel, hatten keine Geduld, konnten wortlos brutal sein. Quinns Kita-Kumpel hatte sich einst nach einem väterlichen Tritt im leeren Schwimmbecken wiedergefunden. An einem kalten grauen Herbsttag. Seitdem saß der Junge im Rollstuhl.
Quinn hatte es besser. Er kannte nicht einmal den Namen seines Vaters, hatte kein Bild von ihm, keine Adresse, keine Telefonnummer. Doch die negative Existenz des Unbekannten wusste Quinn geschickt zu nutzen. Es lastete auf dem Gewissen seiner selbstgenügsamen Mutter, dass sie ihm kein männliches Vorbild bieten konnte. Er brauchte bloß zu erwähnen, wie gern die anderen Jungs mit ihren Papas Fußball spielten oder Modellflugzeuge bastelten. Das machte seine Mutter melancholisch und schuldbewusst. Und dann war es durchaus möglich, ihr mehr Taschengeld oder das neue FIFA-Computerspiel aus dem Kreuz zu leiern.
Im Laufe des Lebens hatte Quinn seine eigenen Alpträume entwickelt. Er sah einen dunklen riesigen Mann, der sich ihm nachts in den Weg stellte und heiser atmend hervorpresste: „Ich bin dein Vater.“ Mit Science-Fiction-Klischees hatte diese Vorstellung weniger zu tun als mit dem Wunsch zu verstehen, wer er eigentlich war. Er suchte eine plausible Erklärung für das Dunkle in sich, vielleicht auch ein wenig Nachsicht mit sich selbst. Schließlich wollte er nicht allein daran schuld sein, dass er manchmal so unbeherrscht und trottelig war. Sicher spielten da väterliche Gene mit. Dieser Gedanke verschaffte ihm Erleichterung. Das Leben fühlte sich einfacher an, wenn man einen anderen für das Drehbuch verantwortlich machen konnte.
Doch in der billigen Filmproduktion, die Quinn seinen Alltag nannte, hinterließ sein Vater keine Spur.
Der Typ im Frauenkostüm hatte Quinn ordentlich erwischt. Als er bei den Polizisten nachfragte, ob er eine Anklage wegen Körperverletzung einreichen dürfe, hatten die Bullen nur gelacht, schiefe Skalen bergab, kaum auszuhalten. Ein dicker Yeti mit weißem Gamsbart meinte freundlich: „Junge, sei froh, dass er dir bloß sein Bein gestellt hat.“ Daraufhin noch mehr atonales Gelächter. Quinn verstand durchaus, was die Polizisten damit meinten, er war ja nicht dumm und beschloss, erst mal die Klappe zu halten. Doch dann rückte ihm dieser andere Typ mit der hohen Fistelstimme in As, dem er die Flasche auf den Blecheimer gehauen hatte, schon wieder auf die Pelle. Wie man sich vorstellen kann, hielt Quinn nicht viel vom traditionellen Faschingstrubel, doch selbst im wüstesten Getümmel gab es Grenzen des guten Geschmacks, die man seiner Meinung nach nur im Ausnahmezustand überschreiten durfte. Schon allein deshalb hatte sich die Aktion mit der Flasche gelohnt. Der Alte hatte ebenfalls bluten müssen, und zwar auf seine alberne Armeejacke, die er nun in die Kleidertonne schmeißen konnte. Es sei denn, er wollte in der nächsten Saison als Bombenopfer auf die Piste gehen.
Der Alte war ganz scharf darauf gewesen, Quinn bei den Bullen anzuschwärzen. Er sei überhaupt nicht mehr zurechnungsfähig, wie all die anderen Jungs seines Alters, die sich tagein, tagaus hemmungslos mit Alkohol zuschütteten und mit Drogen vollstopften. Und was dann aus ihm werden solle, später, in einer Gesellschaft, die auf die Leistungsbereitschaft ihrer jüngsten Generationen angewiesen sei wie kaum eine vor ihnen. Quinn hatte das Politikergeschwätz mit seinem ehrlichsten A-Moll-Rülpser quittiert und den Alten im Straßenslang an seinen leergetrunkenen Glühweinbecher erinnert. Ob er keine Lust habe, ebenfalls einen kurzen Alkoholtest mit sich machen zu lassen. Danach könnte man das Thema auf Augenhöhe zu Ende diskutieren.
Das hatte den Alten total überfordert. Anklagend wandte er sich an die Bullen. Woher dieser Akzent denn käme bei einem deutschen Jungen, der sich doch sonst durchaus auszudrücken wusste. Dass selbst die Lehrer heute nicht mehr in der Lage seien, gut und böse auseinander zu halten. Der Alte schraubte sich immer höher, bis sein Geschrei kaum noch zu ertragen war. Dann bekam er eine Art Anfall. Er fasste sich an die Brust. Sein Kopf nahm eine ähnliche Farbe an wie die Blutflecken auf seiner Jacke. Ein Sanitäter brachte ihn weg. Kurz danach wurde Quinn von zwei achselzuckenden Bullen in einen Streifenwagen verfrachtet und nach Hause gefahren. Die Stimmung im Auto war mies. Sie wurde noch schlechter, als der Fahrer die Sirene anwarf, eine schiefe Quarte. Quinn hätte sich am liebsten aus dem Auto geworfen, um dem grauenhaften Tatütata zu entkommen.
„Wenn wir dich noch mal erwischen, prügeln wir dich tot“, versprach ihm der andere Bulle.
Und der Fahrer: „Wir haben es satt, jeden Freitag und jeden Samstag hinter euch her zu räumen und zum Dank eure Flaschen an die Birne zu kriegen. Je weniger von euch übrig bleibt, desto besser für den Rest der Welt. Nicht mal eure asozialen Eltern werden euch vermissen. Das bisschen Kindergeld, das sie für euch kriegen, saufen die doch an einem Tag weg.“
Damit stopften sie Quinn das Schreiben in die zurückgeklappte Kapuze und zurrten sie zu, bis er fast keine Luft mehr bekam. Dann stießen sie ihn aus dem Auto. Er landete bäuchlings auf dem groben grauen Knochenpflaster vor der Haustür.
„Nach der Scheidung habe ich ihr deine Adresse gegeben“, sagte Mime zu Milton. „Ich dachte, ihr zwei würdet euch gut ergänzen.“
Sie saßen in einem dieser Cafés, die neben Kuchen auch Marmeladebrote anboten, und wo man an rohen Holztischen auf quadratischen Klötzen Platz nehmen musste. Mime hatte einen marokkanischen Minztee vor sich stehen, Milton begnügte sich mit einem Glas Aspirinwasser. Seit ungefähr einer halben Stunde begann sich sein Kater überdeutlich abzuzeichnen. Seine Kopfschmerzen fraßen sich allmählich bis zu den Zähnen hinunter und brachten sie zum Klingen. Millionen Kuchengabeln schienen auf Millionen Tellern herumzukratzen. Er konnte es kaum noch aushalten. Das Licht strömte schräg, gleißend hell und metallisch durchs Fenster und Mime thronte inmitten eines überstrahlenden Heiligenscheins.
„Silke braucht Hilfe.“
In einem Anflug von Klarheit spürte Milton ihren Neid auf die andere Frau. Wahrscheinlich war es nur sein Kater. „Warum geht sie nicht einfach zu ihren Kollegen?“
„Warum legt sie sich nicht einfach auf den Seziertisch und lässt sich für eine Fallstudie verbraten?“, fragte Mime im gleichen Tonfall zurück. „Du weißt doch, wie das ist. Man denkt sich sein Teil über die Leute, die man täglich betreuen muss, und plötzlich ist man selber Patient.“
Milton saß auf seinen kalt gewordenen Händen. Vielleicht hätte er Mimes Beispiel folgen und sich ebenfalls einen Minztee bestellen sollen, doch von dem Geruch, der aus ihrer Tasse zu ihm herüberzog, drohte der Pegel seines Mageninhalts anzusteigen. Um sich abzulenken, nickte er. „Psychotratsch ist unter aufgeklärten Kaffeetanten weit verbreitet. Das ist mir schon klar. Aber bei Silkes Kollegen handelt es sich um Profis, und die sollten normalerweise unter dem Siegel ärztlicher Verschwiegenheit agieren.“
Mime betrachtete ihn zwischen zusammengekniffenen Augenlidern. „Hast du diese Doktoren und Psychologen denn schon mal bei abgeschalteter Kamera vom Leder ziehen hören? Kürzlich hatte ich einen Vorstellungstermin im Ärztehaus bei einem Schulmediziner wegen einer möglichen Kooperation.“ Mit ihren Zeige- und Mittelfingern malte Mime Gänsefüßchen in die Luft. „Der Kerl hatte keine Ahnung von Fingeryoga, und eigentlich hätte ich mir die Vorstellung gleich sparen können. Er wurde richtig beleidigend. Medizin und Esoterik seien nicht miteinander vereinbar, und wer an solche Hexereien glaube, der solle besser in die Kirche gehen.“ Sie tippte sich gegen die Stirn. „Egal, ich war jedenfalls nach Praxisschluss da und als ich meine Sachen wieder einpackte, um nach Hause zu gehen, hörte ich, wie sich dieser Typ mit einem anderen über einen dritten Arzt unterhielt. Innerhalb von fünf Minuten hatten sie seine ganze Lebensgeschichte durch: drei Scheidungen, ein verpatztes Examen und Kurpfuschereien, die ihm angeblich nie nachgewiesen werden konnten. Wäre ich seine Patientin gewesen, ich hätte nach diesem Gemunkel keinen Fuß mehr in die Praxis gesetzt, aber ich gehe ja nicht zu Schulmedizinern.“
„Wirklich nicht?“ Angestrengt hielt Milton nach einer Toilettentür Ausschau. In zeitgenössischen Kaffeehäusern befanden sich die Klo-Eingänge gut getarnt hinter Spiegeln, Vorhängen oder hyperurbanen Fotowänden, auf denen häufig kahle Höfe oder raffiniert ausgeleuchtete Schrottplätze abgebildet waren. Vor solchen Hintergründen waren die Buchstaben W und C nur schwer zu erkennen. Meistens musste man fragen.
Mime tippte sich noch einmal gegen die Stirn. „Ich wundere mich über deine Sorglosigkeit. Aber worüber solltest du dir auch Sorgen machen, ohne eigene Familie, ohne richtigen Job? Du trägst ja nicht einmal für dich selbst Verantwortung.“
Inzwischen hatte Milton den rettenden Schriftzug doch noch ohne Hilfe erspähen können und flüchtete sich in eine schlecht beleuchtete, nach Algen und Zitronengras riechende Kammer, an deren gegenüberliegenden Wänden zwei Rinnen aus edlem Rostmetall angebracht waren. Durchdringende Balzrufe von Regenwaldvögeln erfüllten den Raum, dazu Wasserrauschen und das Schnarren von Didgeridoos. Milton hoffte, dass die rechte Rinne das Waschbecken war, und übergab sich gezielt in den schrägen rostbraunen Abfluss.
Wer nun wissen will, wovon Milton eigentlich lebte, stellt damit auch die Frage, ob es für einen mittelalten alleinstehenden Mann mit zwei Uni-Abschlüssen, Philosophie und Maschinenbau, in Ordnung ist, sich auf Kosten des Staates durchfüttern zu lassen. Miltons leistungsbereite ehemalige Freunde würden die Frage
sicher mit „Nein“ beantworten, seine Agenten vom Arbeitsamt waren ähnlicher Ansicht. Mittlerweile fand Milton seine kontemplative Hingabe an die Astlöcher der Zimmerdecke und seine Unfähigkeit, mit Befehlen umzugehen, beschämend aristokratisch. Die rigiden ideologischen Schutzhüllen, mit denen sich linke Leistungsverweigerer früherer Jahrgänge umgaben, waren löchrig geworden. Miltons Nichtstun schwächte keinen einzigen Produktionsmittelbesitzer mehr. Und Aktionäre würden es sogar begrüßen, dass Milton zu Hause blieb und keinen Mindestlohn einforderte, jedenfalls schnellten die Börsenkurse immer dann in die Höhe, wenn Leute wie er auf die Straße gesetzt wurden. Die Wahrheit war letztendlich unangenehm: Milton lebte auf Kosten von fleißigen Gleichgesinnten, denen es schlechter ging als ihm, weil sie Autos und Eigenheime und Kindergartenplätze abbezahlen mussten.
Selbst seinen Kumpel Viktor empfand Milton unterschwellig als lebendigen Vorwurf. Viktor war beruflich erfolgreich, das Projekt „Familie“ hatte er zumindest ausprobiert, Frauen interessierten sich für seine Meinung, und Müßiggang oder Trägheit zählten nicht zu seinem Repertoire. Viktor schaffte es kaum, in Ruhe ein Glas Bier zu trinken. Beim Dartspielen warf er seine Pfeile raumgreifend und federnd, sie landeten meistens im Zentrum. Zwischen den Würfen plauderte er mit dem Barkeeper, den anderen Spielern, den Mädels hinter dem Tresen. Milton, der einer ruhigen Unterhaltung unter vier Augen den Vorzug gab, lästerte über Viktors „Aufmerksamkeitsstörungen“, als sei Viktor ein ritalinabhängiger Grundschüler. Manchmal fühlte sich Milton wie der letzte Vertreter einer mittelalterlich anmutenden Langsamkeit.
Also arbeitete er wieder, als Wareneintüter in einem innovativen Edelbio-Supermarkt namens Möhre&Bohne, in dem eine uralte US-amerikanische Tradition als absolute neudeutsche Knallidee gepriesen wurde: Hilfsbereiter Trottel am Ende des Kassenförderbandes, der die vom Kunden ausgesuchten Päckchen und Dosen in eine Papiertüte stopft, ehe sie mit den Einkäufen des nächsten Kunden kollidieren. Soweit die Theorie. In der Praxis passierten solche Kollisionen eher selten, weil sich nur wenige Leute die Edelbio-Preise leisten konnten. Abgesehen von kleineren Rangeleien mit Rucksackträgern, die ihre Einkäufe unbedingt selbst verstauen wollten, fand Milton seinen Job entspannend. Er war sogar fast immer pünktlich. Morgens um kurz vor halb neun tauchte er auf, plauderte ein bisschen mit den Kassierern, während die ihre Münzen und Scheine überprüften, und packte dann von neun bis siebzehn Uhr Frischerworbenes in knitterfreie Tüten. Zwischendurch hatte er Zeit, sich mit dem Warenangebot von Möhre&Bohne vertraut zu machen. Seine kulinarischen Kenntnisse waren mau. So hatte er Mangold für eine Lackfarbe gehalten und Romanesco für einen osteuropäischen Minderheiten-Dialekt. Am meisten aber überraschten ihn die vielfältigen Teesorten an der hintersten Wand des Ladens in einer überwältigend langen Regalzeile. Dort gab es den Acht-Zwerge-Tee, der sensible Kinderkörper mit acht wichtigen Vitaminen versorgte, einen Quelltee konzentrischer Energie für Mütter im Berufsleben und Prostata-Power für den solventen Familienvater im vorgerückten Alter. Der ganze Teesorten-Gang war eine Art Themenpark, der sich vor allem an Hypochonder und Inhaber exklusiver seelischer Störungen richtete. Einmal hatte Milton nach einem Päckchen Schwarztee Ausschau gehalten, doch nach intensiver Suche musste er sich mit Märchentraum begnügen, der zu neunundneunzig Prozent aus Earl Grey und einem Prozent aus fair gehandelten Chilischoten bestand. Erleben Sie die Kraft und Harmonie unserer federleichten handgeernteten Pfefferkerne, hieß es im Begleittext. Auch bei Abgeschlagenheit, Nachtschweiß, Migräne, Weichteilrheuma und depressiven Verstimmungen zu empfehlen. Mit der Macht der ätherischen Öle bietet unsere Märchentraum-Teemischung einen sanften Kontrapunkt zu den täglichen Belastungen, denen Ihr Ich im Alltagsleben ausgesetzt ist. Bei Möhre&Bohne zählten Tees zu den weichen Drogen, die mit bunten Packungen voller Aquarellbilder und gefälligen Hintergrundinformationen aufgepeppt wurden. Zum Glück gab es zwischen Energiekugeln, Muttersäften und Rapunzel-Vollkornspaghettipacks ein paar Menschen, mit denen Milton gut auskam. Lag das an seiner versteckten Ironie, die von Fremden allzu oft und fälschlicherweise als ehrfürchtiges Staunen wahrgenommen wurde? Vielleicht lag es auch an seiner Weigerung, sich von Kleinigkeiten aufregen zu lassen. Wenn eine ältere Dame mit ihrem Rollator versehentlich am Bein eines Probiertischchens hängenblieb und eine Reihe gut aufgestellter, liebevoll dekorierter Ziegenkäsewürfel ins Rutschen brachte, war Milton prompt beruhigend zur Stelle. Bei Unfällen am Weinregal gab er den erfahrenen Chefsteward, der für alle Fälle Wischmopp und Ochsengalle bereithielt, und für unglückliche, vom Einkauf gelangweilte Kinder mimte er gelegentlich den Clown vom Dienst. Die Kundschaft schätzte ihn, die Angestellten mochten ihn, und sein Chef Josef Weinbüschel, ein wuschelhaariger Rechenkünstler in den Fünfzigern, wollte Milton sogar befördern.
„Es ist doch schade um deine Talente, wenn du dich hier nur als Faktotum durchschlägst.“ Das „Du“ als Beweis für flache Hierarchien war Mitarbeiterpflicht bei Möhre&Bohne. „Ich schlage noch zwei Euro drauf und du setzt dich hinter die Kasse. Du kommst sicher nicht so schnell ins Schwitzen wie die anderen, bloß weil du eine Warennummer mal nicht kennst.“
Doch Milton konnte selbst gut rechnen und wusste, dass Weinbüschel ihm einen absolut elenden Untertarif-Lohn anzudrehen versuchte. Hinter seiner gutmütigen Öko-Fassade war Weinbüschel ein knallharter Geschäftsmann. Unter den Angestellten ging das Gerücht um, dass er den Laden nur als Abschreibungsprojekt laufen ließ, damit seine geschiedene Frau auf den größten Teil ihrer Alimente verzichten und endlich ihre Kunstgalerie schließen musste. Sein eigentliches Geld verdiente Weinbüschel mit dem Import benzinschluckender geländegängiger SUVs, die er häufig an Anwaltsfamilien mit großen Hunden weiterverkaufte. Bei solchen Gelegenheiten tauschte er seine Teva-Sandalen gegen gaspedalkompatible Hugo Boss-Lederhalbschuhe und straffte sein Wuschelhaar zum strengen Pferdeschwanz. In seiner Freizeit fuhr er selbst gern Auto, am liebsten einen klotzigen Hummer, der auf bundesdeutschen Straßen noch immer für Aufsehen sorgte.
„Ich habe eine Affinität zu Papiertüten“, war Miltons Antwort auf das Angebot seines Chefs. „Ich finde sie nett. Das Geldzählen würde ich gerne anderen überlassen.“
„Komm schon!“ Der Chef hielt ihm auffordernd die Hand entgegen. „Mach was aus deinen Fähigkeiten. Du bist mit Abstand der Cleverste hier.“
„Eben“, erwiderte Milton. Das war ein bisschen unfair gegenüber den anderen fünf Mitarbeitern von Möhre&Bohne. Sie ließen ihn wenigstens in Ruhe. Außer Weinbüschel wollte niemand von ihm wissen, wieso ein diplomierter Maschinenbauingenieur als Eintüter arbeitete. War er morgens schweigsam, störte das niemanden. Mittags vertilgte er sein obligatorisches Salamibrot alleine auf der Dachterrasse und kein Mensch stieg ihm hinterher. Wenn
abends zum letzten Mal die Kasse klingelte, schichtete Milton die verbliebenen Papiertüten ordentlich zu einem großen Stapel und verabschiedete sich mit aufmunterndem Winken.
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