Kitabı oku: «Seniorenknast - wir kommen!», sayfa 2
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Gisbert, der eigentlich keinen Alkohol trinkt, hatte sich von seinem Bruder zu einem kleinen Bier überreden lassen. Es tat ihm gut und ließ den desillusionierenden Besuch im Fernsehstudio fast vergessen. Natürlich erst, nachdem er alles haarklein berichtet hatte.
Jeden letzten Samstagabend im Monat gibt es eine Sendung „Der fixe Sachse erfüllt deine Wünsche!“ Die Hörer können anrufen und sich Musiktitel wünschen. Der krönende Abschluss ist ein Wunsch, den Gisbert mit einer Reportage erfüllen musste.
So hat er schon über seltsame Dinge berichtet. Wie echte Thüringer Bratwürste hergestellt werden, ein Tag im Flughafen Halle/Leipzig, ein Besuch der Buchmesse, Karpfenabfischen am Horstsee in Wermsdorf, Teilnahme an einem Strick-Kurs für Männer, ein Tag als Gondoliere durch die Leipziger Kanäle und so weiter.
Immer hatte das Spaß gemacht und es kamen witzige Sendungen zustande.
Letzten Samstag nun hat sich ein Zuschauer gewünscht, den Reporter hinter die Kulissen einer Fernsehserie zu schicken. Gisbert freute sich darauf, denn es handelte sich zum Glück nicht um eine Krankenhausserie oder um eine Telekitschvela, wie er die rührseligen täglichen Nachmittagsschmonzetten nannte. Nein – es handelte sich um eine Krimiserie für den Vorabend.
Und dann das … Sein Bruder hörte gebannt zu und nickte. „So musste das in deinem Sender verklickern! Genau so. Die Leute lachen sich kaputt.“
Gisbert hatte auf einen flotten Spruch am Ende gewartet. Dafür war sein Bruder bekannt. Er begann immer mit der selben Floskel: „Mein Engel würde sagen …“
Nun kam aber nur ein lautes Gähnen. „Ein Ruhetag ist eben zu wenig. Man wird nicht jünger …“
Er stand auf. Gisbert nickte. Dabei war sein Bruder erst 45 – aber Wirt und Koch in einer Person – das ist wahrlich kein Zuckerschlecken. Er wünschte eine gute Nacht und ging Richtung Bad. An der Tür drehte er sich noch einmal um.
„Übrigens: mein Engel würde sagen, die Leute sollen lieber ein anständiges Buch lesen – Fernsehen ist Scheiße! Außer Fußball und Boxen!“ Gisbert schaute ihm etwas verwundert nach. Aber er hatte ja Recht. Außer zu den Nachrichtensendungen schaltete er seine Mattscheibe auch selten ein. Er konnte die ewigen Kochshows nicht ertragen, nicht die vielen Talkshows, in denen sich in der Hauptsache blonde Damen mit Piepsstimmen an Lebensweisheiten überboten, er verachtete das Vorführen von Menschen in den „Suchsendungen“. „Koch sucht Köchin“, „Tochter sucht Pferd“, „Wer will mich heiraten?“ und wie die alle heißen. Er verscheuchte die Bilder schnell aus seinem Kopf.
Im zu kurzen Bett des Gästezimmers schlief er sofort ein und träumte einen tüchtigen Mist zusammen. Man jagte ihn durch eine Art Wüste, in der aber Hochhäuser standen. Sandsturm ließ ihn nicht vorankommen. Da hörte er hinter sich ein Geräusch. Ein Schuss! Noch einer. Gisbert schreckte auf, stieg aus dem Bett und riss die Vorhänge auseinander. Es war heller Tag. Die Schüsse erwiesen sich als das Knallen von Abfalltonnen, die unten auf der Straße von Müllmännern und einem Spezialfahrzeug geleert wurden.
Gisbert sah zur Uhr – sein Bruder werkelte längst in der Küche des Restaurants herum und bereitete das Mittagsgeschäft vor. Seit seiner Scheidung schmiss er das Familienunternehmen allein, hatte zwei Angestellte, und es ging ihm gut.
Gisbert wurde schon mit einem deftigen Frühstück in der Gaststube erwartet.
Müsli, Eier ohne Speck, Obstsalat und ein Rollmops.
Sein Bruder brachte heißen Kaffee aus der Küche und setzte sich kurz zu ihm. „Mein Engel würde sagen: Wir sollten uns öfter mal sehen!“ Gisbert nickte mit vollem Mund. Draußen ein lautes Hupen. „Der Fischfritze aus Sassnitz!“
Die ungleichen Brüder umarmten sich kurz.
Gisbert frühstückte in Ruhe zu Ende. Er sah zum Tresen, wo ein Foto seiner Eltern hing, deren Lebenswerk das Lokal war. Sofort überkam ihn eine große Traurigkeit. Er griff zur Zeitung, die auf dem Tisch lag, um sich abzulenken.
Im Polizeibericht las er, dass im vergangenen Monat die Zahl krimineller Delikte in Leipzig und Umgebung erheblich angestiegen ist.
5
Im Gang des Polizeipräsidiums atmet Katharina kräftig durch. Und sofort lächelt sie, fühlt sich wohl. Das hier war ihr eigentliches Zuhause! Es riecht etwas muffig, aber selbst diesen Geruch vermisst sie. Der Paternoster ist außer Betrieb. Und auch der neue Fahrstuhl funktioniert nicht – was ist das für eine Scheiße! Sie quält sich durchs Treppenhaus die drei Etagen zur Kripo hinauf. Seitenstechen, Atemnot und der Kater von gestern zwingen sie auf dem letzten Absatz erst einmal in die Knie. Sie muss sich setzen. Schnaufend beginnt sie, noch ziemlich kraftlos, vor sich hin zu fluchen.
Als zwei junge Polizistinnen in Uniform von unten kommend an ihr vorbeispringen, vergräbt sie ihr schweißnasses Gesicht in den Händen. Auf halber Treppe kehren die beiden plötzlich um. „Können wir helfen?“
Katharina schüttelt stumm den Kopf und sucht schnaufend Deckung hinter ihrer unförmigen Handtasche.
„Katharina?“
Keine Antwort. Sie hofft, dass die beiden gleich wieder auf dem flotten Sprung hinauf sind.
Die eine fragt die andere leise: „Kennste die?“
„Einen Moment dachte ich, das ist unsere alte Chefin!“
„Katharina die Große?“
„Katharina – DIE ALTE!“
„Komm!“ Die Schritte entfernen sich schnell nach oben. Katharina atmet auf. Das war Henriette – die hat oft für sie gearbeitet. Meine Güte: Dieses Tempo! Dabei ist die doch auch schon wenigstens 45?
Was haben die hier immer mit ihrem Namen veranstaltet … Sie schmunzelt außer Atem. Katharina Schick. Als sie anfing, nannte man sie – natürlich hinter ihrem Rücken – die schicke Katharina. Später, als sie Hauptkommissarin wurde und immer mehr Erfolg in ihrem Job hatte, wurde sie Katharina die Große.
Und zum Schluss Katharina DIE ALTE …
Sie rappelt sich auf und macht sich bereit zum Ende des Aufstiegs. Als sie endlich vor Ruppes Tür steht, hat sie den Eindruck, den Bastei-Felsen geschafft zu haben, ihren Lieblingsgipfel im Elbsandsteingebirge. Auf dem Gang ist nichts los. Zu ihrer Zeit kam es ihr manchmal so vor, als handele sich um den Leipziger Hauptbahnhof. Aber es ist eben Dienstag.
Tote Hose! Katharina wartet eine Weile, bis ihr Herz nicht mehr so wummert und ihre Atmung nur noch der eines leichten Asthmatikers gleicht. Nach kurzem Klopfen, auf das niemand reagiert, öffnet sie vorsichtig die Tür und tritt ein.
Ruppe steht am Fenster, mit beiden Hände hält er seinen schmerzenden Rücken fest. Katharina kennt das und muss grinsen. Besonders freundlich begrüßt sie ihren Nachfolger.
„Morgen, Ruppe! Schön, dich zu sehen. Guter Tag, was? Alles ruhig.“
Ruppe, der eigentlich Lothar Rupprecht heißt, was aber gar keiner so recht weiß, hat Katharinas Nachfolge angetreten, als die mit 67 endlich in den „wohlverdienten Ruhestand“ ging. Oder besser: gegangen wurde. Sie hätte doch weitergemacht, bis sie irgendwann an einem Tatort der Schlag getroffen hätte. Aber es gab viele Bürokraten in den Führungsetagen der Ämter. Und so wurde sie ehrenvoll verabschiedet.
Ruppe erbte ihren Stuhl, auf dem sie fast nie gesessen hatte.
Nun war der also Hauptkommissar. Und auch schon 59.
„Scheißrheuma! Und das seit Montag – Scheißwoche!“ flucht er.
Katharina grinst. Der hat ja so manches von ihr übernommen …
„Was für eine Sprache! Bullendeutsch oder was?!“
Ruppe dreht sich nun endlich um und schaut sie etwas entgeistert an.
Sie zerrt die Rotweinflasche aus ihrer Handtasche, stellt sie auf den Tisch und geht zum Schrank.
„Deine Laune wird sich sofort bessern!“
Sie holt zwei Gläser hinter einem Aktenstapel hervor. Ruppe zischt: „Ich trinke nicht im Dienst.“
Katharina schaut ihn echt verwundert an. „Seit wann?“ Er setzt sich auf Katharinas alten Stuhl, holt tief Luft und versucht, so leise wie möglich zu sprechen.
„Ich bin erwischt worden. Es gab eine Verwarnung. Man hat mir sogar mit Vorruhestand gedroht. Das musst du dir mal überlegen …“ Noch bevor sich Katharina über solchen Unsinn beklagen kann, klingelt das Telefon. Ruppe nimmt den Hörer ab.
„Ja? Waaas? Überfall auf eine Tankstelle. Täter bewaffnet? Bin schon unterwegs.“
Sehnsuchtsvoll sieht er zuerst die Rotweinflache an, dann Katharina. „Tut mir leid, Einsatz!“
Die reibt sich die Hände. „Prima.“
Sie stellt die Gläser in den Schrank zurück und schnappt ihre Tasche. Ruppe nimmt seine Dienstpistole aus der Schreibtisch-Schublade. „Nee, nee!“
Er drückt ihr die Rotweinflasche in die Hand.
„Trink du mal zu Hause in Ruhe deinen tollen Rotwein!“
„Ruppe – ich kann dir unterwegs allerhand gute Ratschläge geben!“ Doch Ruppe stöhnt, schüttelt entschieden den Kopf und schiebt sie aus der Tür.
„Nee, nee, nee!”
6
Am Stadtrand Richtung Süden rast ein Löschzug der Feuerwehr mit Tatütata zu besagter Tankstelle.
Dort lehnt ein älterer Mann mit Sonnenbrille lässig an einer der Zapfsäulen und raucht eine dicke Zigarre. Ihm gegenüber, vor dem Eingang zum Kassenraum, Angestellte und Kunden – alle mit erhobenen Händen.
Der Zigarrenraucher fuchtelt ab und zu mit einer Pistole herum und grinst.
Als ein Tankwart die Hände herunternimmt, richtet der Mann mit der Sonnenbrille die Waffe auf die Leute.
Hilfe ist angekommen: Die Feuerwehrmänner springen aus ihrem Wagen.
Der Typ mit der Pistole zieht die Stirn in Falten, gekonnt wie ein Schauspieler. „Halten Sie sich zurück! Sie wollen doch sicher vermeiden, dass hier alles in die Luft fliegt!“
Einer der Feuerwehrleute fasst sich nach einer Schrecksekunde und brüllt: „Machen Sie keinen Scheiß, Mann! Geben Sie auf!“ Die Antwort klingt zynisch: „Wollen Sie Menschenopfer?“ Die Menschen sind entsetzt. Mit diesem Kerl ist nicht zu spaßen. Nun kommt mit Blaulicht und Sondersignal ein Einsatzwagen der Polizei an. Kurz danach ein Zivilfahrzeug: Ruppe und zwei Kollegen. In einigem Abstand gefolgt von Katharina, die ihr Auto um die Ecke fährt und sich dann zu Fuß – immer im Hintergrund – an den Tatort begibt. Ein Polizist brüllt: „Geben Sie auf, die Tankstelle ist umstellt! Sie haben keine Chance!“
Aber der Kerl fuchtelt weiterhin wild mit seiner Waffe um sich, die Zigarre hängt ihm bedrohlich im Mundwinkel. Einige Leute schreien. Katharina steht, gut gedeckt hinter dem Klo der Tanke, und verschafft sich einen Überblick. Sie setzt ihre Brille auf und staunt nicht schlecht. Den Mann mit der Waffe erkennt sie sofort: Es ist Paul. Ein begnadeter Pathologe, mit dem sie während ihrer gesamten Dienstzeit zusammengearbeitet hat. Sie schaut zu Ruppe hinüber.
Auch der weiß inzwischen, um wen es sich handelt. Er flüstert seinen Kollegen zu: „Das ist Prof. Dr. Paul Herr! Einstiger Papst der Leipziger Pathologie – Leichenfinger!“
Ein junger Polizist sieht ihn entsetzt an. „Leichenfinger?“
Ruppe nickt. „Der hat ernsthaft irgendwann behauptet, er erkenne am Finger einer Leiche, die da auf seinem Tisch liegt, wie der Mensch um die Ecke gebracht wurde …“
Er geht ganz langsam auf Leichenfinger zu und spricht ihn leise freundlich an. „Paul, mach keinen Blödsinn – man kann doch über alles reden!“
Paul lächelt milde und antwortet viel zu laut: „Du kennst mich genau, Ruppe! Ich mag die Damen und Herren erst richtig, wenn ich sie aus dem Gefrierfach ziehe!“
Die Leute mit den erhobenen Händen sehen sich irritiert an. Dem Tankwart gehen die Nerven durch.
„Der Arsch ist so was von durchgeknallt – der gehört in den Knast!“ Paul nickt. Dieser Mann hat es kapiert!
Ruppe ist überfordert. Denn nun erinnert ihn Paul auch noch an einige „Vorkommnisse“, die er besser nicht vergessen sollte. Ein Stichwort ist Rum …
Der Tankwart mischt sich wieder ein.
„Der Alte quatscht irgendwelche Opern – und die Polizei lauscht andächtig! Nu tun Sie doch endlich was!“
Ruppe nickt, weiß aber überhaupt nicht mehr, was er denken soll. Und was zu tun ist, erst recht nicht. Auch die Schmerzen in seinem Kreuz machen sich wieder bemerkbar. Doch irgendwie muss er handeln.
„Ruhe! Das ist ein ehemaliger Pathologe im Ruhestand.“ Das verschreckt die Leute noch mehr. Selbst der Tankwart hält nun besser die Klappe.
Eine Dame kreischt hysterisch auf. „Einer, der nur mit Leichen zu tun hatte … Da muss ein Psychologe her – oder besser noch ein Psychiater!“ Paul zerrt daraufhin ein großes Klappmesser aus der Jackentasche. Klick! Mit der Klinge zeigt er auf Ruppe.
In diesem Moment fährt der Reporter Gisbert Fuchs auf die Tankstelle zu.
Er summt gut gelaunt vor sich hin. Im Autoradio bringt sein bevorzugter Regionalsender ein Lied, das er seit ewigen Zeiten nicht mehr gehört hat.
Früher dagegen war es in aller Munde: „Sing, mei Sachse, sing!“ Er tritt auf die Bremse, noch bevor er den Refrain beendet hat und wird von der Polizei am Weiterfahren zu einer der Tanksäulen gehindert. Sofort steigt er interessiert aus und beobachtet das Geschehen. Er stößt fast mit Katharina zusammen.
Die bemerkt es nicht einmal – sie hat einen Plan und verschwindet.
Paul steckt das Messer wieder ein und zieht eine Schachtel Streichhölzer aus der Tasche. Seine Zigarre glimmt nur noch spärlich. Alle weichen zurück.
Die Feuerwehr macht sich bereit zum Einsatz. Da fährt mit Reifenquietschen ein Auto vor. Katharina steigt aus.
„Lassen Sie mich durch, ich bin seine Ärztin! Er ist aus unserer Anstalt ausgebrochen!“
Paul starrt sie entsetzt an.
Dann brüllt er: „Ich ergebe mich! Nehmen Sie mich fest!“ Er schmeißt die Pistole auf den Boden und rennt den Polizisten in die Arme. Doch noch ehe irgendwer irgendwas sagen oder gar tun kann, hat Katharina Paul samt Zigarre in ihr Auto gezerrt und rast mit stark überhöhter Geschwindigkeit davon.
Ruppe hält seine Kollegen auf, die ihr folgen wollen.
„Nee, nee, nee. Lasst die Tante mit ihrem Patienten mal in die Klinik zurückfahren. Ist besser so!“
Sein Wort gilt.
Gisbert Fuchs steigt ins Auto ein und startet den Motor. Der singende Sachse ist leider schon zu Ende. Aber das hier ist sein Ding! Dann sieht er die erleuchtete Benzinstand-Anzeige. Er muss erst tanken … Ruppe schaut kopfschüttelnd in die Richtung, in die Katharina gerast ist. Doch längst ist von ihrem Auto nichts mehr zu sehen. Mit der Hand am schmerzenden Kreuz murmelt er vor sich hin: „Aus unserer Anstalt ausgebrochen …“
Nicht ohne Anstrengung hebt er die zurückgebliebenen Pistole von Paul auf.
Er drückt den Abzugshebel herunter, und vorn kommt Wasser heraus.
7
Paul sieht Katharina voller Hass an. Doch sie konzentriert sich auf die Fahrt. Was man so Fahrt nennt – sie rast noch immer wie eine Wildsau. Schon zweimal hat er versucht, sie anzusprechen. Ohne irgendeine Reaktion ließ sie ihn links, oder besser gesagt, rechts liegen. Beziehungsweise sitzen.
Außer sich brüllt er nun los. „Eigentlich wollte ich nicht im Verkehr mein Leben beenden!“
Ganz und gar umsonst. Eisiges Schweigen.
Schließlich versucht er es auf eine sanftere Tour.
„Sag mal, hast du noch alle Klammern im Hefter?“ Keine Reaktion.
„Warum mischst du dich denn ein?“
Kein Kommentar.
„Na ja, das kennt man ja von früher: Frau Hauptkommissarin Katharina die Große hat alles im Griff!“
Sie nickt grinsend und rappelt sich endlich zu einer Antwort auf. „Grüß dich, Paul! Nett, dich mal wieder zu treffen!“ Er schluckt. Nach einer Weile versucht er, ihr die Sache irgendwie zu erklären. Es sah alles so gut aus. Endlich am Ziel. Das war der 6. Versuch. Sechs ist eine Superzahl – diesmal hätte es geklappt! Wenn sie sich rausgehalten hätte …
Katharina sieht ihn schief an und fragt, ob er in Behandlung sei. Paul kotzt dieses Gerede an. Also, Klartext: „Ich wollte endlich eingebuchtet werden!“
Katharina fährt fast gegen eine schlecht geparkte Luxuslimousine und tritt auf die Bremse. Dem dicken Mercedes hinter ihr gelingt ein Ausweichmanöver. Der Fahrer kriegt die Kurve und zeigt ihr einen Vogel. Den merk ich mir, denkt sie. Und notiert das Kennzeichen auf einem vollgekritzelten Zettel, der über dem Autoradio befestigt ist. „Bist du nun in Behandlung“, fragt Katharina noch einmal, leise. Paul sieht sie fassungslos an. Die hat echt eine Mattscheibe! Dabei war sie ihm früher nicht gleichgültig. Da kann man mal sehen, was das Alter aus den Leuten macht … Fast steigen ihm Tränen in die Augen. Katharina entgeht der Umschwung seiner Gemütsverfassung nicht. Sie bereut ihre grobe Fragerei und ist nun selbst dem Heulen nahe. Sie sehen sich kurz an – und fast wäre es schon wieder zu einem Auffahrunfall gekommen.
„Früher hast du gesagt, die Alten sollten ab 65 noch einmal den Führerschein machen!“ faucht Paul.
Katharina schüttelt den Kopf. Das soll sie früher mal gesagt haben? „So ein Schwachsinn! Hat dir irgendwer in die Zentrale gekackt – oder was?“
Paul ist endlich wieder in der Wirklichkeit angekommen. Das ist Katharina!
„Du redest noch immer so, wie im vorigen Jahrhundert. Und du reißt den Fall an dich – wie in alten Zeiten. Ich will aussteigen!“ Katharina tritt kräftig aufs Gaspedal. Jetzt mischt der sich ein – wie früher.
Sie zupft ihn am Ohr. Wie früher.
„Was für’n Fall, Paul?“
Er schweigt.
Katharina fährt langsamer. Sie überlegt, sucht nach einem Plan. Früher fiel ihr in solchen Situationen sofort etwas ein. Aber nun … Nun hilft ihr der Zufall!
„Da vorn ist eine Dönerbude.“
Sie hat den Besitzer mal aus einer schlimmen Situation gerettet. Ob es ihn noch gibt? Ob der sie noch kennt? Ob sie an diesem gefragten Ort eine Parklücke findet? Ob Paul abhaut?
Paul wittert seine Chance. „Döner find ich gut!“
Katharina nickt zufrieden. Und dann hat sie auch noch Glück: Direkt vor der Bude fährt gerade ein großes Auto raus. War das nicht dieser Mercedes – sie schaut auf ihren Zettel. Das war er. Scheiße! Aber die Lücke ist frei. Sie parkt gekonnt rückwärts ein.
Paul überlegt einen Moment. Er sieht das saftige Fleisch am Drehspieß. „Ich hau nicht ab!“
Katharina steigt aus und stellt sich an. Der Laden scheint gut zu laufen, es gibt eine Schlange. Wie damals im Osten, denkt sie. Doch in diesem Moment entdeckt sie der Mann, der gerade Tomaten, Salat und Rotkraut auf das saftige Fleisch in ein Fladenbrot stopft. Er läßt alles fallen, rennt aus der Bude.
Die anstehenden Kunden kriegen vor Schreck die Münder nicht mehr zu.
Er fasst Katharina bei den Händen, sie zu umarmen wagt er nicht. „Frau, Frau …“
Die Türken kriegen wohl auch Alzheimer, denkt Katharina. Sie drückt ihn fest an sich. Er riecht gut – nach Zwiebeln, Knoblauch und altmodischem Rasierwasser. Sie flüstert ihm was ins Ohr. Er stürzt zurück in seine Bude.
Katharina bekommt gerade noch mit, wie Paul langsam aber entschlossen, die Autotür öffnen will. Sie drückt auf die Fernbedienung. Paul nickt mehrmals und versucht eine versöhnliche Entschuldigungsgeste.
Da nähert sich das Geräusch eines Sondersignals. Katharina entsichert schnell die Türen und steigt in ihr Auto, startet den Motor. Ein Krankenwagen fährt lautstark an ihnen vorbei. Katharina atmet auf, da klopft es an ihre Scheibe. Sie sieht die Plastiktüte, darin zwei Alu-Päckchen, lässt das Fenster herunter und greift nach ihrer Tasche. Der Dönerbudenchef ist schneller. „Geht aufs Haus!“
Er wirft ihr einen Handkuss zu und ist schon wieder weg. Katharina reicht die Tüte an Paul weiter. Der schaut auf die lachenden Kunden und den winkenden Dönermann.
Er betrachtet die windschiefe Bude. „Haus… Na ja.“
Zum erstem Mal an diesem Tag vergisst Paul seinen Plan und schaut Katharina an. Mit seinem unwiderstehlichen Lächeln fragt er: „Zu dir – oder zu mir?“
8
Gisbert ist inzwischen auf dem Weg in die Provinz. Er ärgert sich morsch, dass der Tank leer war – wer weiß, was ihm für eine Story entgangen ist. Da können die mit ihrer Krimiserie nur abstinken. Die Wirklichkeit ist eben viel spannender als das Fernsehen. Er hört seinen Bruder geradezu: „Mein Engel würde sagen: sag ich doch!“
Also, gut – oder nicht gut: Verpasst ist verpasst. Wahrscheinlich würde er morgen in der Zeitung eine Notiz über diesen Vorfall an der Tankstelle lesen.
Er muß sich auf den Verkehr konzentrieren. Das ist eine nützliche Ablenkung …
Gisbert nimmt sich vor, seinen Bruder in Zukunft wirklich häufiger zu sehen.
In den letzten Jahren hatte er sich etwas zurückgezogen, weil der Mann in einer ewig bedrückten Stimmung war. Anscheinend ist dieses Tief jetzt endlich einigermaßen überwunden.
Sein Bruder, der Engelbert heißt, hat von Kindheit an unter diesem Namen gelitten. Was mochte in ihren Eltern vorgegangen sein, als sie den Söhnen die Namen Engelbert und Gisbert gaben? Lebenslänglich! Während Gisbert mit seinem Namen nie Probleme hatte, empfand der große Bruder seinen als eine Art Strafe. Wieso ein Neugeborener, der angeblich ein Wunschkind war, bestraft wurde, verstand er viele Jahre nicht. Um Gebrülle und Zoff zu entgehen, wurde er „Berti“ genannt. Aber das funktionierte nur, solange er klein war und sich nicht wehren konnte. Irgendwann jedoch sah er die Sesamstraße. Fortan wollte er nur Bert heißen, so wurde er auch eingeschult. Schwierigkeiten gab es nur, als ein Personalausweis fällig wurde. Aber den brauchte er ja niemandem zu zeigen.
Nur ein einziges Mal nützte ihm sein richtiger Name. Nach der Berufsschule hatte er schon seinen Platz in der Küche des Fischrestaurants der Eltern gefunden, da kam der Einberufungsbescheid. „Zur Fahne“, wie das damals hieß, wollte er auf keinen Fall. Er rannte also zum Wehrkreiskommando und zog eine Show ab.
„Wo ist hier das Wehr – und wo ist der Kreis?“
Aber die Genossen winkten milde ab. Keine Chance, diese Mätzchen kannten sie wahrscheinlich zur Genüge.
„Gut“, sagte Bert, „dann will ich zur Flugabwehr – ich muss meine Brüder und Schwestern schützen!“
Still legte er seinen Personalausweis auf den Tisch.
„Ich heiße nämlich gar nicht Bert, sondern Engelbert!“ Das war natürlich bekannt – schließlich hatten die ihre Unterlagen aus behördlichen und demzufolge verlässlichen Kreisen. „Ich heiße nicht nur so – ich bin ein Engel!“
Nie hat jemand erfahren, was er dann dort veranstaltet hat. Auf jeden Fall aber wurde er ausgemustert. Er war eben ein schlauer Fuchs und blieb Bert. Doch seither war der Engel aus seinem Namen sein zweites Ich. Das grenzte in manchen Situationen schon fast an eine Persönlichkeitsspaltung. Denn er hatte seine Meinung – und sein Engel oft eine andere. Und damit lebte er nicht schlecht. Gisbert schmunzelte. Berts Engel würde jetzt sagen: „Ich brauche heute eine Thüringer Rostbratwurst!“ Und die wird er sich auch genehmigen, bevor er wieder an seinen Dienst im Sender geht.