Kitabı oku: «Die Rache des Waschbären», sayfa 2

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Mittwoch, 7. September 2011, 17.09 Uhr

Richard Borowka fummelte zwei Zigaretten aus seinem zerknitterten Marlboro-Päckchen. Wortlos zündete er beide an und gab Fredi eine. Eine Zeit lang saßen die Freunde einfach nur nebeneinander und bliesen abwechselnd den Rauch in die milde Luft. Wie bei ihrem Abschied vor fast zwei Jahren saßen sie auf der alten Holzbank hinter der Kirche. Genau genommen auf der Rückenlehne. Die Füße standen auf der Sitzfläche. Von diesem Platz aus sah man direkt auf die von Efeu überwucherte Friedhofsmauer. Hinter dieser Mauer, zwischen den gewaltigen Trauerweiden, die wie die Beschützer der traurigen Seelen über das Gelände wachten, würde Fredi in zwei Tagen seinen Vater zu Grabe tragen. Borowka wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Früher, als er noch täglich mit Fredi um die Häuser gezogen war, hätte er einfach einen blöden Spruch gemacht und damit das Eis gebrochen. Aber jetzt? Seit Fredi in Berlin lebte, hatten sie zwar regelmäßig telefoniert, gemailt oder gesimst, aber ihr Verhältnis hatte sich verändert. Während Borowka immer noch mit den alten Kumpels vom Fußball und aus der Schulzeit herumhing, hatte Fredi sich einen neuen Freundeskreis aufgebaut. Und natürlich war das Leben in Berlin aufregender, schneller, lebendiger. Jedenfalls interessanter als in Saffelen, konnte sich Borowka vorstellen. Selbst erlebt hatte er es nicht. Obwohl er es Fredi mehrfach versprochen hatte, ihn dort zu besuchen, hatte es irgendwie nie geklappt. Meist hatte es daran gelegen, dass seine Frau Rita keine Lust hatte. Und allein hätte er sich nie auf so eine große Reise begeben. Wahrscheinlich wäre er mit seinem Ford Capri aber auch nie so weit gekommen.

„Weißt du, dass ich seit vorletzte Woche bei uns im Betrieb Abteilungsleiter bin? Ich habe jetzt das ganze Ersatzteillager unter mir: drei Mitarbeiter“, sagte Fredi plötzlich.

„Cool“, antwortete Borowka, heilfroh, dass der Anfang gemacht war. „Da wär dein Vater bestimmt stolz auf dich gewesen.“

Fredi sah überrascht auf. „Meinst du wirklich?“

„Na klar“, Borowka nahm einen tiefen Lungenzug, „was meinst du, was deine Eltern hier auf dem Schützenfest mit dir rumgeprahlt haben?!“

„Mein Vater auch?“

„Jaa, mehr deine Mutter. Aber dein Vater hat im besoffenen Kopp auch mal gesagt, dass der das gut findet, dass du dein eigener Weg gehst.“

Fredi schnippte seine aufgerauchte Zigarette weg. Sie landete knapp neben dem Mülleimer. „Ich bin echt sauer auf meinen Alten. Der hat meine Mutter verboten, mir zu sagen, dass er so krank ist. Angeblich, damit ich mir keine Sorgen mache. Erst als der schon nicht mehr bei Bewusstsein war, hat meine Mutter mich angerufen. Ich konnte noch nicht mal mehr mit dem reden.“

Borowka zuckte hilflos mit den Schultern. „Keiner wusste was davon, wie krank dein Vater war. Aber ich denk, der hat sich noch mal mit euch unterhalten, kurz bevor der gestorben ist?“

„Ja schon. Da macht der noch einmal die Augen auf. Und dann erzählt der so ein Scheiß. Hier von wegen verliebt in Julia. Geht’s noch?“

Borowka musste unwillkürlich lachen, bemerkte aber sofort, dass das unpassend war. Er räusperte sich, als hätte er etwas im Hals. „Das ist natürlich wirklich krass. Wie der Spargel das in der Umkleidekabine erzählt hat, da bin ich fast hinten rübergekippt.“

„Ach, ist das schon rum im Dorf?“

„Fredi. Hallo?! Wir sind hier in Saffelen. Schon vergessen? Aber ist doch scheißegal. Männer reden schon mal Blödsinn.“

Plötzlich fuhr an der Straße ein Lieferwagen vorbei. Auf der Anhängerplane stand in verschnörkelter Schrift geschrieben: „Wurst Wimmers – das lustige Würstchen vom Lande“.

Borowka stockte der Atem. Er strich sich nervös durch sein blondgelocktes Haar, das er wie Fredi vorne kurz und hinten lang trug. Er spürte, wie sich auf seiner Stirn Schweiß bildete. Bitte lieber Gott, mach, dass Fredi das nicht gesehen hat, hoffte er inständig. Seit Fredi wieder in Saffelen war, war das Gespräch noch nicht auf Martina gekommen, die Tochter des erfolgreichen Wurstfabrikanten Hans Wimmers. Und Borowka hatte Angst vor dem Moment, an dem es so weit sein würde. Martina war Fredis große Liebe gewesen. Doch in jenem verhängnisvollen Dezember vor fast zwei Jahren hatte sie sich endgültig von ihm getrennt. Das gebrochene Herz, das Fredi davontrug, hatte entscheidend dazu beigetragen, dass er Saffelen den Rücken kehrte. Zwar hatte Borowka das Gefühl, dass sein Freund sich in der Zwischenzeit emotional von Martina gelöst hatte, aber Borowka hatte Informationen über sie, von denen er sicher war, dass sie Fredi aus der Bahn werfen würden. Deshalb wollte er sie so lange wie möglich vor ihm geheim halten – zumindest bis nach der Beerdigung. Viel länger dürfte so etwas in Saffelen ohnehin nicht zu schaffen sein. Es war wahrscheinlich nur deshalb bis jetzt gelungen, weil allen Dorfbewohnern bewusst war, welche verheerende Wirkung diese Nachricht auf Fredis Gemütszustand haben konnte. Der Lieferwagen war fast außer Sichtweite, als er plötzlich heftig abbremste, weil eine alte Frau mit Rollator unvermittelt die Straßenseite wechseln wollte. Zu allem Überfluss hupte der wütende Fahrer auch noch. Fredi sah hinüber – und auf der Stelle heftete sich sein Blick auf den Schriftzug.

Ich bin erledigt, dachte Borowka und zählte im Geist die Sekunden, bis die unvermeidliche Frage kam. Es waren exakt zwei Sekunden, wenn man aufrundet. „Was macht eigentlich Martina so?“ Und auch wenn Fredi diesen Satz beiläufig und desinteressiert klingen ließ, würde Borowka nicht darauf hereinfallen. Nein, er würde sein Maul halten. Und später würde Fredi ihm auch dankbar sein dafür.

„Nix. Die ist genauso verstrahlt wie früher. Sei froh, dass du die los bist.“

„Bin ich auch.“

Ja, ja, wer’s glaubt, dachte Borowka, dadrauf fall ich nicht rein. „Hör mal, in Berlin muss es doch von gute Frauen nur so wimmeln. War da noch nix dabei?“, versuchte er das Thema zu wechseln.

Fredi hob die Schultern, aber Borowka meinte, ein kleines Zucken um die Mundwinkel erkannt zu haben. „Erzähl“, forderte er seinen Kumpel auf.

Fredi lächelte. „Na ja, das ist noch nix Festes. Obwohl – eigentlich schon. Die heißt Sabrina. Ich hab die kennengelernt bei ein Erste-Hilfe-Kurs.“

Borowka zündete beiden eine neue Zigarette an und gab Fredi eine. „Was machst du denn bei so was Schwules wie ein Erste-Hilfe-Kurs?“

„Ach, lange Geschichte. Der Meister bei uns im Betrieb ist beim Ölwechsel umgekippt – Herzinfarkt. Und da kein Mensch wusste, was er tun soll, wär der fast über die Wupper gegangen. Der Rettungswagen war aber rechtzeitig da und unser Meister hat überlebt. Aber als Konsequenz dadraus hat Chef dadrauf bestanden, dass wir sofort alle ein Erste-Hilfe-Kurs mitmachen.“

„Das kann ja wohl nicht sein. Ich denk, dein Chef ist der Vetter von der alte Oellers hier. Wenn der was aus Menschlichkeit tut, dann kann der nicht mit dem verwandt sein.“

Fredi musste grinsen. „Das hatte auch nix mit Menschlichkeit zu tun. Der Berlin-Oellers hat sich hauptsächlich dadrüber aufgeregt, dass keiner gearbeitet hat, während wir auf der Rettungswagen gewartet haben. Außerdem war der der Meinung, wenn einer von uns eine Herzmassage gemacht hätte, hätte der Meister direkt weiterarbeiten können, statt, wie jetzt, wochenlang in Kur zu gehen, für sich die Eier zu schaukeln.“

„Ich nehm alles zurück. Die sind 100-prozentig miteinander verwandt. Aber, was viel wichtiger ist: Was ist mit diese Sabrina?“

Fredi zog versonnen an seiner Zigarette. Ein stilles Lächeln umspielte seine Züge. „Die Sabrina ist toll. Wir waren in eine Gruppe und mussten gegenseitig Herzmassagen machen und dann hat die mich bei der Beatmungsübung in echt geküsst.“

Borowkas Kinnlade klappte herunter: „Ich fass es nicht.“

„Ja, ohne Scheiß. In Berlin sind die Frauen irgendswie anders drauf. Mit die muss man nicht wochenlang im Kinno gehen oder die zum Essen einladen wie hier. Die wissen genau, was die wollen.“

„Ich fass es nicht.“

„Die hat sogar ein Piercing im Bauchnabel.“

„Ich geh kaputt. Hör auf, Fredi. Was ist das für ein Planet, auf dem du da lebst? Der Planet der wilden Frauen, oder was?“

„Na ja, so wild ist es auch wieder nicht“, wiegelte Fredi ab. „Wir gehen in Berlin auch schon mal zusammen im Kinno oder so. Letztens waren wir am Sony Center und wollten da ein Film gucken. Da war da plötzlich eine Filmpremiere und du glaubst nicht, wer da plötzlich über der rote Teppich läuft! Tom Cruise!“

Borowka riss ungläubig die Augen auf. „Ich geh so was von kaputt. Der echte Tom Cruise? Hier Top Gun und Mission Impossible?”

Fredi nickte stolz. Borowka rang nach Worten: „Und du hast dem aus der Nähe gesehen?“

„Ja klar. Der ist fast direkt an uns vorbeigegangen. Aber in echt ist der höchstens so groß wie ein Schuhschrank.“

„Das ist doch scheißegal. Dafür ist das eine ultracoole Sau. Die mussten doch bestimmt ganz Berlin abriegeln, weil da die Hölle los war, oder?“

„So krass war das nun auch wieder nicht“, sagte Fredi. „Aber … logisch, da war jede Menge los. Wobei – es waren auch Demonstrationen gegen dem.“

Borowka runzelte die Stirn. „Mmh, ja, das kann ich mir denken. Mission Impossible 3 war auch nicht so gut.“ „Nein, nicht deswegen. Wegen Scientology.“ „Ach so. Ja gut. Den Film kenne ich jetzt nicht“, Borowka kratzte sich am Kopf, „aber ich find das super, dass du mit die Sabrina so viel unternimmst. Rita und ich, wir holen uns meistens bloß DVDs und sitzen zu Hause rum. Das letzte Mal, dass ich mit Rita im Kinno war, das ist schon ein paar Jahre her. Da waren wir in Heinsberg im Roxy, wo die immer die aktuellsten Filme aus den 80er Jahren zeigen. Und zwar haben wir da Flashdance geguckt. Kennst du dem noch?“

Fredi schüttelte den Kopf, worauf Borowka eifrig fortfuhr: „Doch. Das war mit die scharfe Tussi, die nachts als Schweißerin arbeitet und tagsüber versucht, ihr Traum als Tänzerin zu verwirklichen. Die verliebt sich in ihr Chef und wird am Ende in eine berühmte Tanzschule aufgenommen. Rita hat damals das ganze Kinno zusammengeheult, dabei finde ich, dass der Film total unrealistisch war. Musst du mir mal vorstellen: In eine Szene, da schweißt die zwei Bleche zusammen und da ist die Flamme vor dem Draht und die schweißt trotzdem nach links. Das geht doch überhaupt nicht. Was macht eigentlich die Sabrina von Beruf?“

„Jedenfalls nicht schweißen“, lachte Fredi. „Nee, die ist diplomierte Fußpflegerin. Die wohnt jetzt in Friedrichshain. Gebürtig kommt die aber aus Potsdam.“

„Potsdam? Jetzt weiß ich, was der Haken ist. Das ist eine Ossi-Frau! Potsdam ist doch in der DDR, oder?“

„Sag mal, geht’s noch?“, entrüstete sich Fredi. „Die DDR gibt es doch überhaupt nicht mehr. Bestimmt schon zehn Jahre nicht mehr.“

„Bloß, weil es die Mauer nicht mehr gibt, heißt das nicht, dass es die DDR nicht mehr gibt.“

Fredi machte eine Scheibenwischerbewegung vor seinem Gesicht. „So ein Quatsch. Weißt du, was das ist? Das ist die Mauer in dein Kopf. Das hat die Sabrina mir auch gesagt, als ich die gefragt habe, ob die ein Trabbi fährt.“

„Was ist los? Mauer in mein Kopf? Bist du besoffen? Sag mal, bist du jetzt in Berlin Phillesofie-Professor geworden, oder was?“

„Das hat doch damit nix zu tun. Und gerade du als Saffelener musst über Ossis erzählen. Hier, direkt an der Grenze zu Holland.“

„Ja, jetzt reg dich mal ab“, beschwichtigte Borowka, zufrieden über den Umstand, dass Martina längst kein Thema mehr war. „Apropos Holland. Sollen wir da morgen nicht mal rüberfahren? Da gibt es ein saucooler neuer Coffee-Shop. Den hat Rita vor zwei Wochen entdeckt, wie die drüben tanken war – zusammen mit Martina und ihr neuer Typ.“ Fredi zuckte zusammen und ließ die Zigarette fallen. Ups, dachte Borowka.

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Mittwoch, 7. September 2011, 17.33 Uhr

Will, Marlene und Peter Kleinheinz saßen um den Küchentisch und genossen den Käsekuchen und einen frisch aufgebrühten Kaffee, den Marlene sogar mit aufgeschäumter Milch verfeinert hatte. Ein Trick, den ihr eine Freundin von den katholischen Strickfrauen verraten hatte. Marlene hatte sich frisch gemacht und umgezogen, was in ihrem Fall bedeutete, dass sie jetzt einen Haushaltskittel trug. Während dieser Zeit hatte Kleinheinz Will mit großem Interesse beim Füttern der Tiere über die Schulter geschaut.

Der Landwirt goss sich gerade die zweite Tasse Kaffee ein, als er Kleinheinz fragte: „Na, wär das Landleben nix für dich? Jetzt, wo du etwas kürzer treten willst? Ich hatte eben der Eindruck, dass du viel Spaß an die kleinen Ferkelchen hattest.“

„Das stimmt“, strahlte Kleinheinz. „Mir war gar nicht bewusst, was Schweine für süße Tiere sind. Wie viel Lebensfreude die ausstrahlen! Ist das eigentlich normal, dass die auch alle Namen haben?“

„Bei uns hat das Tradition“, sagte Will stolz und goss Kleinheinz ebenfalls nach, obwohl der zaghaft abwehrte. „Schon als ich ein Kind war, da hatten bei uns auf dem Hof alle Tiere Namen. Bis auf die Hühner, die konnte man so schlecht auseinanderhalten. Ich kann mich sogar erinnern, dass wir eine Zeit lang so viele Schweine hatten, dass wir manche Namen sogar doppelt vergeben mussten. Das hat natürlich auch schon mal zu Verwechslungen geführt. Wenn nachmittags zum Beispiel ein Schulkamerad von mir klingeln kam und gefragt hat: „Kommt der Will zum Spielen raus?“, da hat meine Mutter schon mal für dem gesagt: „Nee, der Will kann nicht. Der hat eben Beruhigungstabletten bekommen, der wird gleich kastriert.“

Kleinheinz verzog das Gesicht.

„Will!“, ermahnte Marlene ihren Mann.

„Ist ja gut. Aber, für noch mal dadrauf zurückzukommen: Hier in Saffelen kann man gut und billig leben. Und im Neubaugebiet werden demnächst bestimmt ein paar schöne Häuser versteigert. So, wie die Zugezogenen sich da teilweise übernommen haben.“

„Ich weiß nicht“, sagte Kleinheinz kauend, „ich glaube, ich bin eher ein Stadtmensch.“

„Und warum wohnst du dann in Heinsberg?“, lachte Will.

„Jetzt ist es aber gut, Will“, schimpfte Marlene. „Hör endlich auf, der Peter zu verulken. Sag mal, Peter, warum trägst du eigentlich deine Pistole am Gürtel? Ich denk, du hast Urlaub?!“ Kleinheinz blickte auf sein Holster und strich mit der Hand über seine Dienstwaffe. „Ach, weißt du, die trage ich eigentlich immer seit dem Überfall. Als ich damals im Büro niedergeschossen wurde, hatte ich keine Waffe, um mich zu verteidigen. Und das hat mich wohl irgendwie traumatisiert. Ich geh heute nicht mehr ohne Pistole vor die Tür. Aber mein Psychologe sagt, das wär völlig okay.“

Will verschluckte sich. Verständnislos sah er den Kommissar an: „Was ist los? Du gehst nach ein Psychologe? Bist du denn …?“

„Verrückt?“ lächelte Kleinheinz. „Ich denke nicht. Oder besser: Ich hoffe nicht. Da ist doch nichts dabei, zu einem Psychologen zu gehen. Durch den Angriff hatte ich eine sogenannte posttraumatische Belastungsstörung. Und da arbeiten wir dran. Das hat mir wirklich sehr geholfen. Ich fühle mich richtig gut. Das solltest du auch mal machen, Will. Gerade du. Was dir alles so passiert ist in den letzten Jahren! Das ein oder andere hat dich sicher auch traumatisiert.“

Will schüttelte energisch den Kopf. „Unsinn! Also, für traumatologisiert zu werden, da habe ich nun wirklich keine Zeit. Meinst du, so ein großer Hof macht sich in der Zwischenzeit von alleine?“

„Was hat das denn damit zu tun, Will?“, schaltete sich Marlene entrüstet in das Gespräch ein. „Als wenn man sich das aussuchen könnte! Der Dr. Hoppe hat gesagt, die Frau Jaspers braucht jetzt auch dringend ein Psychologe, für damit klarzukommen. Das ist doch nix Schlimmes.“

Doch Will ließ sich nicht bremsen. „So weit kommt es noch! Natürlich ist das nicht schön, wenn einer stirbt, aber wenn man dann jedes Mal so ein Psychoheini rufen würde, für wieder klarzukommen … Die machen sich doch alle bloß die Taschen voll, diese …“

„Ach so, das weißt du ja noch gar nicht“, unterbrach Marlene den Redeschwall ihres Mannes. „Es geht sich nicht dadrum, dass der Theo tot ist, sondern um das, was der auf dem Sterbebett für die Anneliese gesagt hat.“

Und dann erzählte Marlene den beiden Männern, was soeben in der Aerobicstunde Gesprächsthema Nummer eins gewesen war: Julia, der letzte Name, den Theo Jaspers vor seinem Tod erwähnt hatte. Und vor allem, dass er eben dieser Julia seine Liebe gestanden hatte.

„Wer ist denn Julia?“, fragte Kleinheinz neugierig, während Marlene ihm ein zweites Stück Kuchen auf den Teller schaufelte.

Will rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ja, meinst du denn, der meinte die Julia von damals?“

„Kennst du irgendseine andere?“, fragte Marlene.

„Das ist komisch“, sagte Will, während er sich wieder Kleinheinz zuwandte. „Julia war ein hübsches Mädchen hier aus Saffelen. Eine ganz traurige Geschichte. Die hat sich im Sommer 1982 hier im Wald an ein Hochsitz erhängt. Die war erst 25 Jahre alt. Das war schrecklich. Vier Tage vorher hatte sich auch der ihr Freund umgebracht. Der war aus dem Nachbardorf, aus Uetterath. Der Freund hieß zwar Robert, aber die ganze Geschichte wurde von der Lokalpresse ‚Romeo und Julia‘ genannt, wegen weil die ineinander drin verliebt waren und aus zwei verschiedene Dörfer kamen. Weil in dem berühmten Roman von diesem William Dingsbums, da war ja auch ein Pärchen am pussieren.“

„Ja, ja, richtig. ‚Romeo und Julia‘“, erinnerte sich Marlene. „Das war damals wochenlang das große Thema hier. Will, erinnerst du dich auch noch dadran, wie unser alter Pastor damals im Pfarrblättchen geschrieben hat, dass die Julia sich nicht erhängt hat, sondern von der Maskenbär mit ein Lasso eingefangen worden wär?“

„Wer ist denn der Maskenbär?“, fragte Kleinheinz verwirrt.

Will zeigte seiner Frau einen Vogel. „Sag mal, Marlene geht’s noch? Wie kannst du der Peter so ein Blödsinn erzählen! Der denkt doch, wir hätten sie nicht mehr alle. Außerdem musst du das anders erzählen.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder an den Kommissar. „Also, unser damaliger Pastor war zu dem Zeitpunkt schon ein bisschen verkalkt. Der ist auch kurz nach diesem Vorfall vom Bistum Aachen mit 96 Jahren gegen dem sein Willen in der Vorruhestand versetzt worden. Auf jeden Fall hatte der ein Problem mit die Julia, weil die immer so Miniröcke getragen hat und alle Männer im Dorf verrückt waren nach die … außer ich jetzt. Auf jeden Fall hat der dann im Pfarrbrief das alberne Gerücht mit der Maskenbär in die Welt gesetzt. Der hat geschrieben, dass der Maskenbär die Julia an der Hochsitz aufgehängt hat, wegen weil die immer so rumgelaufen ist. Der Maskenbär gilt hier in Saffelen nämlich als Todesbote. Aber was Pastor da geschrieben hat, war natürlich absoluter Blödsinn – der Maskenbär holt sich im Prinzip nur kleine Kinder, die nicht vom Spielen reinkommen, wenn es dunkel wird. Außerdem benutzt der überhaupt kein Lasso, sondern erwürgt die Kinder mit seine Tatzen. Das weiß doch jeder.“

Der Irlandurlaub hatte Kleinheinz Ruhe und Gelassenheit gelehrt. Und so hakte er amüsiert nach: „Und der Maskenbär lebt im Saffelener Wald?“

Marlene nickte betreten und Will führte weiter aus: „Richtig. Also, genau genommen ist das nur eine Sage, für die kleinen Saffelener Kinder pädagogisch zu erziehen. Obwohl der Eidams Theo behauptet, dass der der Maskenbär mal leibhaftig begegnet wäre – wie der betrunken vom Schützenfest nach Hause kam. Der sagt, der Maskenbär wäre ein zwei Meter großer Waschbär gewesen. Also, der heißt deshalb Maskenbär, weil Waschbären immer so eine schwarze Maske quer über den Augen haben.“

„Da muss ich kurz eine Zwischenfrage stellen“, warf Kleinheinz belustigt ein. Er wusste plötzlich wieder, weswegen er das schrullige Ehepaar in den letzten anderthalb Jahren gelegentlich vermisst hatte. Käsekuchen kauend fragte er: „Im Saffelener Wald gibt’s also Waschbären? Ich dachte, die leben hauptsächlich in Nordamerika.“

Marlene beugte sich auf ihrem Stuhl nach vorne und antwortete ernst: „Normal ja. Aber 1969 hat der Wildtierpark Gangelt aufgemacht und ein Jahr später ist da ein Waschbärehepaar weggelaufen und hat sich in den umliegenden Wäldern vermehrt. Und wie! Anfang der 80er gab es hier in der Gegend sogar eine richtige Waschbärenplage. Und zu der Zeit ist auch die Sage von der Maskenbär entstanden. Da gab es hier eine Zeit lang eine richtige Maskenbär-Hysterie. Mittlerweile sind die Waschbären aber wieder ausgestorben. Also, ich habe jedenfalls schon ewig keinen mehr gesehen.“

„Ah, verstehe“, nickte Kleinheinz, „ein Neozoon also.“

„Nee, der Wildtierpark ist kein Zoo“, sagte Will.

„Nein, nein. Neozoon nennt man ein Tier, das durch menschlichen Einfluss irgendwo angesiedelt wurde, wo es nicht heimisch ist.“

Marlene sah Kleinheinz voller Bewunderung an. Nie war ihr jemand begegnet, der so attraktiv wirkte, obwohl er Fremdwörter gebrauchte. Will entging der schmachtende Blick seiner Frau nicht und so versuchte er, wieder das Thema zu wechseln. „Na ja, wie auch immer. Auf jeden Fall hat sich die Julia 1982 im Wald aufgehängt.“

„Ach ja, richtig“, sagte Kleinheinz. „Und was hat jetzt Theo Jaspers damit zu tun?“

Will hob die Schulter. „Ja, das wusste ich bis eben auch nicht, dass der Theo in die Julia drin verliebt war.“

„Ach hör doch auf“, Marlene stieß ihn an. „Du hast doch eben selbst gesagt, dass alle Saffelener Männer hinter die Julia her waren. Die war die beste Partie im ganzen Dorf.“

„Ich war nicht in die drin verliebt“, verteidigte sich Will lautstark, „außerdem war ich doch schon mit dir verheiratet. Da hatten wir ja sogar Sabine schon.“

„Der Theo war auch schon mit die Anneliese verheiratet. Und die hatten auch schon der Fredi.“

„Ach, sieh an“, Kleinheinz schürzte genüsslich die Lippen, „von wegen heile Welt. Sodom und Gomorrha ist das hier in Saffelen. Also, wenn ich jetzt im Dienst wäre, würde ich sagen: Das riecht nach einer Beziehungstat. Na ja, aber andererseits hat die Spurensicherung ja den Selbstmord festgestellt.“

„Spurensicherung?“, fragte Will. „Also, du meinst jetzt so Leute, wie die, die damals hier waren, wie der Kaufladen von Eidams überfallen worden war?“

Kleinheinz nickte.

„Nee, so was gab es damals noch nicht“, widersprach Will. „Zu der Zeit hatten wir noch ein Dorfpolizist, Jütten Karl-Josef. Ein ganz scharfer Hund. Der hatte in der Grundschule eine eigene Wache und hat damals zusammen mit der Dr. Hoppe der Selbstmord von die Julia festgestellt. Also mit der tote Dr. Hoppe. Der Vater von der jetzige Dr. Hoppe.“

„Ach?“, murmelte Kleinheinz und zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen.

„Warum sagst du denn so komisch ‚Ach‘?“, fragte Marlene.

„Das muss nichts zu bedeuten haben. Ich kenne das nur so, dass ein Suizid immer von der KTU Aachen untersucht und bestätigt werden muss. Das gilt für alle unnatürlichen Todesfälle. Aber früher war das wahrscheinlich schon mal öfter so, dass das dann ein Hausarzt machte oder, wie hier, ein Hausarzt und ein Dorfpolizist. Allerdings kann man gerade bei ‚Erhängen‘ viel übersehen. Was meint ihr, wie viele Morde nicht als solche erkannt werden.“

Will und Marlene starrten ihn entsetzt an. Fast gleichzeitig sagten sie: „Mord? Du meinst …?“

Als Kleinheinz gewahr wurde, was er angerichtet hatte, wedelte er hektisch mit beiden Händen, so als wolle er versuchen, seinen letzten Gedanken aus dem Raum zu vertreiben. „Um Gottes willen, nein! Ich habe doch nur laut gedacht. Das war nur eine blöde Idee. Natürlich war das damals ein Selbstmord. Das liegt doch auf der Hand. Zuerst der Freund und dann …“

Doch Hastenraths Will hörte schon längst nicht mehr zu. In Gedanken begab er sich bereits auf die Spur eines unheimlichen Meuchelmörders. Verwegen, furchtlos und nur bewaffnet mit seinem messerscharfen Verstand.

Türler ve etiketler
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Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
272 s. 4 illüstrasyon
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9783981663853
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