Kitabı oku: «Theorien der Sozialen Arbeit», sayfa 13

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7.6 Bedeutung für die Soziale Arbeit

Die detaillierte, offene und schonungslose Darstellung der herrschenden Zustände, die scharfsinnige Erkenntnis der Notwendigkeit zusätzlichen kirchlichen Handelns, erkannte kirchenstrukturelle Hemmnisse für effektive kirchliche Maßnahmen, vorbildliche und zukunftsweisende Pionierarbeit auf dem Gebiet der Sozialfürsorge, die kreativen Programme und die zukunftsweisende Idee christlicher Gewerkschaften machen Wichern zum Sozialexperten seiner Zeit. Wichern leistet mit großem persönlichen Einsatz Pionierarbeit auf den Gebieten der heutigen Diakonie (Rauhes Haus, Innere Mission). Er etabliert das Prinzip der „rettenden Liebe“ als Grundprinzip sozialen Handelns der evangelischen Kirche. Da er das Elend zu jener Zeit als eine Fehlentwicklung ansieht, ist er bestrebt, das Alte wiederherzustellen. Zwar erkennt er kirchlichen Handlungsbedarf mit seinen Programmen der Inneren Mission, aber gegenüber notwendigen gesellschaftspolitischen Reformen bleibt er verschlossen.

Sein Verständnis von Wissenschaft und Pädagogik ist theologisch fundiert und wird von ihm aus und mit der göttlichen Offenbarung, wie sie in der Bibel überliefert ist, begründet. Trotzdem wird seine Erziehungslehre auch heute noch zu den Klassikern der Sozialpädagogik gezählt und zwischen Pestalozzi (vgl. 1.5) und Nohl (vgl. 2.8) platziert (vgl. Thole/Galuske/Gängler 1998, 67–81; Niemeyer 2010, 52–87).

Das Jahr 2008 wurde von dem Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland zum „Wichernjahr“ deklariert. Vor 200 Jahren wurde Johann Hinrich Wichern geboren und „Die Diakonie“ weiß sich immer noch ihrem Initiator und dem Organisator der ersten Schritte der Inneren Mission eng verbunden; auch wenn sich das Leitbild der heutigen Diakonie in vielen Punkten von der Theologie Wicherns und seiner christlichen Erziehungslehre unterscheidet, das „Prinzip der rettenden Liebe“ gilt jedoch weiterhin.

7.7 Literaturempfehlungen

Eine erste Annäherung an die Erziehungslehre Wicherns gibt „Die Öffentliche Begründung des Rauhen Hauses am 12. September 1833“ (Thole/Galuske/Gängler 1998, 67–81). Aus dem Gesamtwerk bieten sich zur Vertiefung die beiden Schriften zur Sozialpädagogik (Wichern 1958; 1959) und die Schriften zur Pädagogik (Wichern 1975) an. In dem Band „Die Kirche und ihr soziales Handeln“ liegt der Schwerpunkt auf Vorträgen und Schriften zur Inneren Mission (Wichern 1965). Niemeyer hat eine kritische Würdigung von Wicherns Erziehungslehre verfasst und darin insbesondere die enge Verknüpfung von Sozialpädagogik und Theologie/Religion bei Wichern reflektiert (vgl. Niemeyer 2010, 52–87).

Teil 2

Einleitung

In diesem Teil werden acht Theorien der Sozialen Arbeit dargestellt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzipiert worden sind. Mit den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg beginnt nach übereinstimmender Meinung vieler AutorInnen im deutschen Sprachraum die Soziale Arbeit als Wissenschaft und findet in den zwanziger Jahren auch ihren ersten Höhepunkt. Wer die biografischen Kontextbedingungen derjenigen verstehen will, die in dieser Zeit ein theoretisches systematisches Gebäude Sozialer Arbeit entwerfen, muss die Hintergründe des Aufbaus des Wohlfahrtsstaats insbesondere im Ersten Weltkrieg und danach in der Weimarer Republik studieren und die fachlichen Diskussionen und fachpolitischen Vorgänge der damaligen Jahre kennen. Zum besseren Verständnis dieser Zusammenhänge ist es auch erforderlich, den Blick bis in das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts zu richten.

In dieser Einleitung werden der Verlauf der wirtschaftlich-politischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und damit der historische Kontext der (AutorInnen von) Theorien Sozialer Arbeit im Zeitraum von der Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 bis 1945 in großen Zügen skizziert. Mehr ist hier nicht möglich. Wir verweisen zur Vertiefung auf die einschlägige Fachliteratur (vgl. Sachße 1983, 30–36; C.W. Müller 1988a, 9–175; Sachße/Tennstedt 1988, 15–67; Landwehr/Baron 1991, 27–71; Hering/Münchmeier 2007, 41–204). In den Abschnitten „Historischer Kontext“ geben wir jeweils zusätzliche Informationen zum Verständnis einer Theorie oder Biografie.

1 Das Deutsche Reich (1870/71–1914)

Der ab 1879 anhebende Wirtschaftsboom (Elektro-, Chemie- und Schwerindustrie) macht das Deutsche Reich am Ende des 19. Jahrhunderts zur stärksten europäischen Industrienation. In Abkehr von der bismarckschen Bündnispolitik betreiben die verschiedenen Reichskanzler und Wilhelm II. eine imperiale Kolonial- und Rüstungspolitik; sie streben nach Weltgeltung. Dies wird flankiert von einer massiven Militarisierung der Gesellschaft (z. B. Kriegervereine, Sedantage). Das Deutsche Reich ist ein Staatenbund von 24 Staaten und vier Städten. 1870 hat es 41 Millionen EinwohnerInnen, 1910 sind es bereits 65 Millionen.

Der Umbruch von der feudalen Agrar- zur kapitalistischen Industriegesellschaft führt zu zahlreichen neuen sozialen Problemen. Die Lebensbedingungen sind insbesondere in den Arbeiter-Ghettos der Industriezentren elendig: Arbeitslosigkeit (in Zeiten der Hochkonjunktur zumeist saisonal), lange Arbeitszeiten, verschleißende Arbeitsbedingungen, geringe Löhne, teure Mieten, Wohnungsnot, Obdachlosigkeit, unhygienische Verhältnisse, Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Armut – ein Teufelskreis selbst für die Arbeitsfähigen. Noch um 1900 ist im Deutschen Reich die Todesursache in 40 Prozent der Sterbefälle „Tuberkulose“. Die Säuglingssterblichkeit liegt bei über 20 Prozent, die durchschnittliche Lebenserwartung bei 43 Jahren. Kinder und Jugendliche sind besonders von den durch die Industrialisierung bedingten neuen Lebensbedingungen betroffen: Sie – und zumeist auch ihre Mütter – müssen unter härtesten Bedingungen arbeiten, um den notwendigsten Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu erwerben. Noch elender ist meistens das Schicksal der Behinderten, der Kranken (ohne Familie), der Alten (ohne Angehörige) und der elternlosen Kinder. Im Deutschen Kaiserreich gibt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts über eine Million uneheliche Kinder unter 14 Jahren. Mit der Stadtflucht verlieren die meisten Menschen ihre sozialen Bindungen in Familie und Verwandtschaftssystem. Allein 20 Prozent der weiblichen Erwerbstätigen verdingen sich als Haus- und Dienstmädchen; nicht wenige geraten infolge fehlenden Arbeitsschutzes, der Geburt eines unehelichen Kindes, sexueller Ausbeutung oder der Prostitution als Einkommensquelle in soziale Nöte.

Aus dem Recht auf Freizügigkeit und der „Binnenwanderung zur Arbeit“ folgt, dass um 1900 etwa 48 Prozent aller EinwohnerInnen im Deutschen Reich außerhalb der Gemeinde ihrer Geburt leben. Die Gemeinden, denen die Aufgabe der Hilfestellung nun obliegt, bekommen schnell zu spüren, dass der rapide anwachsende Hilfebedarf mit den überkommenen öffentlichen (geschlossenen) Einrichtungen (Waisenhäuser, Bewahranstalten, Zucht- und Arbeitshäuser) nicht mehr zu bewältigen ist. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts schaffen fast alle deutschen Staaten neue Rechtsgrundlagen und Organisationsformen für die Unterstützung der Armen, die nicht mehr an den Geburtsort des Betreffenden gebunden ist (Unterstützungswohnsitzgesetz, Aufbau von Orts- und Landesarmenverbänden). Teilweise versuchen auch die Städte mit neuen Formen der Armenfürsorge auf den riesigen Hilfebedarf zu reagieren (z. B. Elberfelder System ab 1852/53). Auf die anwachsenden sozialen Missstände (soziale Frage, Pauperismus) reagieren immer mehr Menschen einzeln oder in Zusammenschlüssen (Vereine), um den Bedürftigen Hilfe zu leisten (Privatwohltätigkeit). In den Kirchen werden Orden und ordensähnliche Vereinigungen mit gleicher sozialer Zielsetzung gegründet. Diese Vielfalt der Hilfen wird im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts öffentlich kritisiert. Reformvorschläge (z. B. Zentralisierung, Kooperation) werden unterbreitet (vgl. z. B. die Gründung des „Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohltätigkeit“, des „Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“, von „Centralen für private Fürsorge“ in Berlin und Frankfurt, die Reorganisation des Hilfesystems im „Straßburger System“). Die kommunale Armenfürsorge wird unterteilt in Gesundheits-, Säuglings-, Jugend-, Erwerbslosenfürsorge.

Mit der Einführung der Kranken-, Unfall- und Invaliditätsversicherung (1883–1889), der Neugestaltung und Ausweitung der Leistungsansprüche (1911) (Reichsversicherungsordnung) wird zwar ein bedeutsamer Anfang einer staatlichen Sozialpolitik gemacht, und schließlich werden auch die sozialistischen Parteien und die Gewerkschaften der ArbeiterInnen weitgehend in das Staatsgefüge integriert, doch zunächst erhalten im Bedarfsfall nur wenige eine Hilfe von den Versicherungen. Zum anderen wird mit dieser Lösung die „Arbeiterfrage“ von der „Armenfrage“, die „Sozialversicherung“ von der „Armenfürsorge“ abgetrennt (typische Doppelstruktur des deutschen sozialen Sicherungssystems).

Das Personal in den Arbeits- und Zuchthäusern muss vor allem für die Einhaltung der Hausordnung sorgen. Die häufig aus Offizieren und Witwen rekrutierten AufseherInnen sind dafür fachlich nicht besonders qualifiziert. Das Hilfesystem besteht aus Ermittlungs- und Vermittlungsarbeit, dafür wird das Personal ausgebildet. Schneller als in Deutschland verzeichnen die Formen der Verberuflichung (Ausbildung, Qualifizierung) und Verwissenschaftlichung (Theoriebildung) im Ausland, in Großbritannien und in den USA, ihre ersten Erfolge. Dort fordern engagierte und über das Leiden der Armen empörte Sozialarbeiterinnen wie Henrietta Barnett, Jane Addams (vgl. 2.2), Octavia Hill und Mary Richmond, das Massenelend in den Slums der Großstädte zu beseitigen und dafür die Notlagen wissenschaftlich zu reflektieren. Für sie reicht angesichts des Ausmaßes der sozialen Probleme eine Almosen gebende Sozialarbeit nicht mehr aus. Die Empörung der Frauen verbindet sich mit sehr konkreten wissenschaftlichen Anliegen, vor allem im Hinblick auf die Problemerfassung. Die Amerikanerin Mary Richmond (1861–1926) fordert 1897 eine Ausbildung mit dem Hauptziel, den professionellen Helfern (charity workers) bessere „kognitive Gewohnheiten und höhere Ideale“ im Umgang mit Individuen und Familien zu vermitteln, Theorie und Praxis seien in der richtigen Weise zu kombinieren.

Auch im Deutschen Reich werden um die Jahrhundertwende die ersten Ausbildungsstätten für Frauen eingerichtet, die in der (Armen-) Fürsorge und Wohlfahrtspflege tätig sein wollen. Ab 1899 geben Jeanette Schwerin und Alice Salomon in Berlin die ersten „Jahreskurse zur beruflichen Weiterbildung in der Wohlfahrtspflege“ (vgl. 2.5). Ab 1905 beginnt die Phase des Aufbaus einer berufsspezifischen Lehre und einer Wissenschaft der Wohlfahrtspflege: In vielen Städten (Hannover, Berlin) werden soziale Frauenschulen eingerichtet; 1913 sind es bereits 14. Mit der Reorganisation des Hilfesystems im „Straßburger System“ (1905) werden nicht nur Armenämter geschaffen, sondern auch hauptberufliche Armenpfleger eingesetzt. Ähnlich wie in Großbritannien und den USA gibt es im deutschen Sprachraum nach 1900 zahlreiche Ansätze einer Theoriebildung für die Soziale Arbeit (Berufstheorien und wissenschaftliche Theorien).

Der Verwissenschaftlichung Sozialer Arbeit und ihrer Disziplinwerdung ist förderlich, dass es ab 1910 an deutschen Universitäten Lehrstühle für soziale Fürsorge (Frankfurt a. M.), allgemeine Wohlfahrtspflege (Münster) und Caritaswissenschaft (Freiburg i. Br.) gibt. Der „Verein für Socialpolitik“ fördert ebenfalls wissenschaftliche Analysen zur Problemverursachung und der Entwicklung von Lösungskonzepten (vgl. Mühlum u. a. 1997).

Ein wesentlicher Motor der Verberuflichung Sozialer Arbeit ist die bürgerliche Frauenbewegung. Sie fordert die Einlösung der in der Französischen Revolution 1789 proklamierten Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein, denn Mädchen und Frauen sind im gesamten Bildungswesen benachteiligt, zum Teil ganz ausgeschlossen. Zur Lebenserfüllung verlangt sie das Recht auf außerhäusige berufliche Tätigkeiten und will die fraulichen und mütterlichen Werte aktiv in die Gesellschaft durch die soziale Tätigkeit einbringen. Die „Mütterlichkeit“ wird zu einem zentralen Wert der bürgerlichen Frauenbewegung. „Mütterlichkeit“ befähigt nach damaliger Auffassung nicht mehr nur für den Familienbereich, sondern ist auch für die Wahrnehmung bestimmter gesellschaftlicher Aufgaben, insbesondere in der Fürsorge, Erziehung und Pflege, ein konstitutives Potenzial. Vor und nach 1900 schließen sich (bürgerliche) Frauen in Vereinen und Gruppen zusammen und dienen der Wohlfahrt, zunächst ehrenamtlich, dann auch hauptamtlich. Die Soziale Arbeit wird so zunehmend zur Berufsarbeit für Frauen.

Die kulturellen, geistigen und ideologischen Kräfte Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten nach 1900 darzustellen ist nahezu unmöglich. Die Blüte der Natur- und Geisteswissenschaften hat im 19. Jahrhundert zu einem fast unerschöpflichen Reservoir an neuen Erkenntnissen und an Wissen geführt, das nun zunehmend von industrieller Technik genutzt wird und den Lebensalltag aller BürgerInnen umwälzt. Die sich wandelnde und sich verändernde Welt und deren Einfluss auf das fortschreitende-fortschrittliche Denken können geradezu als ein Kennzeichen des 19. Jahrhunderts angesehen werden.

2 Der Erste Weltkrieg (1914–1918)

Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs und dessen sozialen Folgen ändert sich auch das System der sozialen Wohlfahrtspflege grundlegend (vgl. Sachße/Tennstedt 1988, 15–45; Landwehr/Baron 1991, 11–71; Hering/Münchmeier 2007, 83–120). Der nationalistische Taumel der Kriegsbegeisterung erfasst in den ersten Wochen im Deutschen Reich nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen, auch bedeutende VertreterInnen der Sozialpädagogik (z. B. Paul Natorp, Gertrud Bäumer) und der Fürsorge (z. B. Alice Salomon, Christian Jasper Klumker). Die Stimmen der Friedensbewegung verhallen ungehört. Der erste technisierte Krieg der Weltgeschichte wird zu einer unvorstellbaren Material- und Menschenschlacht.

Mit Kriegseintritt steigen im Deutschen Reich die Arbeitslosigkeit und damit die Armutsproblematik massiv an: Die Männer werden zum Kriegsdienst eingezogen, viele Betriebe müssen schließen, und ihre Angestellten werden entlassen. Unter diesen Bedingungen wird – zumeist auf Initiative des Staates – das bestehende Fürsorgewesen um- und ausgebaut. Kommunen flankieren die staatliche Kriegsfürsorge durch freiwillige Leistungen der Kriegswohlfahrtspflege. Die Leistungen der Armenfürsorge gehen um 30 Prozent zurück. Von zentraler Bedeutung sind dabei die vaterländischen Hilfsvereine und insbesondere die Frauenorganisationen, neben anderen angeführt von Marie D. Lüders, Gertrud Bäumer (vgl. 2.6) oder Alice Salomon (vgl. 2.5). Sie werden für die Kommunen zur wichtigsten Stütze bei den Unterstützungsbemühungen.

Der Staat erlässt für viele bislang ungeregelte Fürsorgebereiche Richtlinien, das Kriegsamt zum Beispiel für die Säuglings- und Kinderfürsorge und für die Fürsorge der erwerbstätigen Frauen (Fabrikfürsorge). Auch die Ausbildung von Fachkräften für die Kindertagesstätten wird geregelt. Die sozialen Frauenschulen koordinieren ihre Arbeit (Gründung der Konferenz der Wohlfahrtsschulen 1917). Die Sammlungstätigkeit der Wohlfahrtsverbände wird 1915, die Verbände selbst werden 1917 unter staatliche Aufsicht gestellt. Die Leistungen staatlicher Wohlfahrtspflege werden planmäßig ausgebaut, der Wohlfahrtsstaat nimmt Konturen an. Die öffentlichen und freien Leistungsträger lernen, ihre Hilfen zu koordinieren, und entwickeln Formen der Zusammenarbeit, kurz: „Der Krieg ist der Schrittmacher des deutschen Wohlfahrtsstaats und Wohlfahrtssystems.“

Von den in die Kampfhandlungen weltweit einbezogenen 65 Millionen Soldaten sind 21 Millionen (darunter 4,2 Millionen Deutsche) verwundet oder verstümmelt, 8,5 Millionen (darunter 1,8 Millionen Deutsche) sterben. Am 9. November dankt der deutsche Kaiser ab und geht nach Holland ins Exil; damit endet das Deutsche Reich.

3 Die Weimarer Republik (1918/19–1933)

Unter turbulenten Bedingungen wird eine Regierung (Rat der Volksbeauftragten) gebildet, Wahlen zur Nationalversammlung werden im Reich abgehalten und eine Verfassung wird verabschiedet (1918/19). Diese enthält erstmals einen Grundrechtekatalog und legt einen föderalistischen Staatsaufbau fest; erstmals dürfen Frauen wählen. An der Spitze des demokratisch-parlamentarischen Rechts- und Verfassungsstaats steht ein vom Volk gewählter Reichspräsident (zunächst Friedrich Ebert, später Paul von Hindenburg). Damit ist die erste Republik auf deutschem Boden etabliert. Die Demokratie verfügt jedoch über keine breite geistig-moralische Basis. Die ideologischen Konflikte entladen sich in den frühen zwanziger Jahren in bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen der politischen Lager und ihrer Freikorps (Kapp-Putsch, Hitler-Putsch).

Weitreichend sind die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Kriegs und des Versailler Friedensvertrags (1919): Sechs Millionen Soldaten müssen demobilisiert und in Arbeit und Brot gebracht werden. Die Kriegswirtschaft muss auf eine Friedenswirtschaft umgestellt werden. Gebietsabtrennung und Besetzung wichtiger Gebiete wie des Ruhrgebiets, hohe Reparationsforderungen der Alliierten, Arbeitslosigkeit, Verschuldung, schlechte Versorgungslage, Inflation – überall herrschen Not und Elend. Ein Millionenheer Bedürftiger benötigt Unterstützung, zunächst wirtschaftliche Hilfen: Heizmaterial, Kleidung, Essen. Durch den Krieg und die Wirtschaftskrise sind die meisten Familien beschädigt oder zerstört. Vielfach können sie ihre Erziehungsaufgaben nicht mehr wahrnehmen. Viele Kinder und Jugendliche wachsen deshalb faktisch ohne den Schutz und die Unterstützung einer Familie auf. Die kriegsbeschädigten und zu militärischen Zwecken umfunktionierten sozialen Einrichtungen sind reparaturbedürftig, dafür fehlt aber das Geld.

Die Folgen des Ersten Weltkriegs verändern die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen auch in den anderen Ländern Europas. Aus den 17 Monarchien und drei Republiken Europas werden nach dem Krieg 13 Republiken und 13 Monarchien. Der Sieg auf Seiten der Alliierten bestärkt die USA in ihrem imperialen Bestreben und stellt einen wichtigen Schritt zur Durchsetzung ihrer Vormachtstellung auch in Europa dar. Mit der Oktoberrevolution (1917) errichten die Bolschewiken eine Diktatur des Proletariats in Russland.

In den ersten Nachkriegsjahren versucht der Staat – anknüpfend an seine Sozial- und Fürsorgetätigkeit im Krieg – mit einem Bündel von Sonderfürsorgen dem Massenelend zu begegnen. 1922 und 1924 werden vor allem mit dem Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und der Reichsverordnung über Fürsorgepflicht (RFV) in Verbindung mit den Reichsgrundsätzen (RGr) die Grundlagen wohlfahrtsstaatlicher Tätigkeit geschaffen. Mit der wirtschaftlich-politischen Konsolidierung zeigen sie Mitte der zwanziger Jahre die ersten Früchte, zum Beispiel im Ausbau und in der Differenzierung fürsorgerischer Einzelbereiche, im Aufbau von (Jugend-, Gesundheits- und Wohlfahrts-)Ämtern und in der Entwicklung fachlicher Konzepte.

Mit der Konstituierung des öffentlichen Wohlfahrtsstaats weiten sich die Eingriffsverwaltung und damit die Sozialbürokratie aus (Erlass von Richtlinien, Einstellung von Verwaltungsbeamten). Damit einher geht die weitere Verfachlichung (Professionalisierung) der Handlungsformen Sozialer Arbeit. Berufs- und Interessenverbände werden gegründet (unter anderem der Deutsche Verband der Sozialbeamtinnen 1926). Die Zahl der Ausbildungsstätten erhöht sich; 1927 sind es bereits 33. Alice Salomon gründet 1925 die Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit. Zu den theoretischen Grundlagen und zur methodischen praktischen Gestaltung der Sozialen Arbeit erscheinen zahlreiche Veröffentlichungen. Mit den rechtlichen und organisatorischen Strukturierungen erfährt die institutionelle und konzeptionelle Trennung von Fürsorge und Wohlfahrtspflege (Sozialarbeit) auf der einen und der Jugendhilfe und Sozialpädagogik auf der anderen Seite die für deutsche Verhältnisse typische Ausprägung. Das im Krieg eingespielte arbeitsteilige System von öffentlicher und freier Wohlfahrtspflege wird rechtlich fixiert. Eine große Zahl von speziellen Fachvereinigungen wird gegründet (z. B. Deutsche Zentrale für freie Jugendwohlfahrt 1924). Die freigemeinnützigen Träger und Verbände der Wohlfahrtspflege werden zu Kooperationspartnern des Staates aufgewertet (Dritter Sektor). Neue Wohlfahrtsverbände werden gegründet (Deutsches Rotes Kreuz 1921, Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt 1919, Fünfter Wohlfahrtsverband als Vorläufer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands 1920). Mit dieser Stellung der freien Wohlfahrtspflege sind besondere rechtliche (Status) und finanzielle Privilegien (Bezuschussung) verbunden. In den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege wächst ein neues Verständnis für ihre Aufgaben.

Im Deutschen Reich gibt es 1933 offiziell 4,8 Millionen Arbeitslose bei 32 Millionen Erwerbspersonen; eine Arbeitslosenquote von ca. 15 Prozent. Die 1927 eingeführte Arbeitslosenversicherung ist überfordert. Die Deflationspolitik der Regierung führt zur Kürzung sozialer Leistungen und zu Steuererhöhungen. Die Parteienzersplitterung verhindert den Konsens der demokratischen Parteien. Das rechte Lager findet immer mehr Zuspruch. Nach den Reichstagswahlen 1932 wird eine rechts stehende Regierung unter Einschluss der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) gebildet. Die sich anbahnende Diktatur der NSDAP unter der Führung Adolf Hitlers wird nicht verhindert (vgl. C.W. Müller 1988a, 176–221; Sachße/Tennstedt 1992; Landwehr/Baron 1991, 173–217; Otto/Sünker 1986; 1991; Kappeler 2000; Hering/Münchmeier 2007, 121–166). Immer klarer schälen sich die USA und die Sowjetunion als die Protagonisten zweier grundverschiedener Politik-, Wirtschafts- und Weltanschauungssysteme heraus.

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