Kitabı oku: «Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung im Spiegel der historischen Forschung», sayfa 2
1.1 Hintergründe zur Entstehung der Jugendbewegung in Deutschland
“Als die Geschichte der Jugendbewegung ihren Anfang nahm, ging das vergangene Jahrhundert gerade seinem Ende entgegen“ (Malzacher/Daenschel, 1993, S. 10). In dieser Zeit (Ende bzw. zweite Hälfte des 19. Jh.) vollzog sich im wilhelminischen Deutschland ein enormer sozioökonomischer Wandel, der seine Auswirkungen in der Gesellschaft und damit auch im Generationenverhältnis hinterlassen sollte. Diese Entwicklung gilt es im folgenden näher zu betrachten, da jene als wesentlicher Faktor zur Entstehung der deutschen Jugendbewegung angesehen werden kann.
1.1.1 Gesellschaftlicher Wandel und Generationenkonflikt
Ende bzw. in der zweiten Hälfte des 19. Jh. entwickelte sich Deutschland von einem Agrarstaat zu einem Industriestaat, in dem Fortschritt und Technik die Zauberworte (nicht nur) des Bürgertums waren (vgl. Engelhardt, 1927, S. 10) – ein System der „Erwerbsgier“ und des „Mammonismus“ (Lütkens, 1925, S. 34 f) entstand. Die Menschen, vor allem aus den ländlichen Gegenden und dem proletarischen Milieu, zog es auf der Suche nach neuer Arbeit massenhaft in die Städte, was heute allgemein unter dem Begriff „Landflucht“ (Musall, 1987, S. 29) bekannt ist. Dadurch zerfiel die traditionelle Gemeinschaft, in der die Menschen dieser Zeit zusammengelebt hatten. Gleichzeitig wuchsen die Städte rapide an; Lütkens spricht von „Verstädterung“ (1925, S. 20) und zeigte deren Auswirkung in der Gesellschaftsstruktur, besonders auf das städtische Bürgertum, das seine „tragende Rolle“ (Status), welche es bisher in den Städten inne hatte, unfreiwillig einbüßen mußte.
Trotz dieser Veränderungen hingen die bürgerlichen Schichten noch immer an den Wertvorstellungen einer Gesellschaft mit einem „überschaubaren und stabilen sozialen Zusammenhang“, natürlich zu ihren Gunsten in hierarchischer oder „ständischer Tradition“. Auf der Suche nach Erklärungen für die Modernisierungstendenzen entwickelten sie einen „Kulturpessimismus und Zivilisationshass“. Rettung vor dieser gefährlichen „Moderne“ sahen jene in den „alten Werten“ (Klönne, 1990, S. 82 f) – klassisch-humanistische Bildung (Latein, Philosophie, usw.), hierarchisierte Gesellschaftsstruktur, etc. –, die ihnen bis dahin ihre Existenz gesichert hatten. Diese kritische Einstellung hätten jene Älteren aufgrund ihrer Verhaftung in einem bestimmten gesellschaftlichen Status nicht lebenspraktisch angewandt, sondern stattdessen die gesellschaftlichen Entwicklungen hingenommen (vgl. Klönne, 2000, S. 47). Diese Haltung bzw. diese „nüchterne Welt der Väter“ hätten die „jungen Menschen“ nicht mehr verstehen können. Diese mußten sie sogar zum Haß bringen, der letztendlich zu einem Generationenkonflikt führte, oder wie Engelhardt es formuliert: „Das Problem Vater und Sohn schlug seine Wellen“ (1927, S. 11).
1.1.2 Jugend als soziale Konstruktion und jugendliche Lebensperspektiven im Kaiserreich
Zugleich begann sich „Jugend“ in jenem Zeitraum als eigenständige Altersgruppe und Entwicklungs- bzw. Lebensphase zwischen Kindheit (Kriterium Schulentlassung) und Erwachsenenstatus (Kriterium Wehrdienst oder Eheschließung) herauszubilden (vgl. u. a. Reulecke, 1986, S. 21). Hier wird schon die eher männlich geprägte Definition von Jugend dieser Zeit deutlich, obwohl Reese darauf verweist, daß das Konstrukt Jugend um 1900 auf der Vorstellung eines Lebens gründete, das für alle Menschen (Geschlechter) formal gleich war (vgl. 1991, S. 8). Die männliche Betonung des Begriffs Jugend mag damit verbunden gewesen sein, daß dieser Terminus auf den Ausdruck Jüngling zurückging – ein in der Schule auf das Leben vorzubereitender Mann (vgl. Andresen, 2003, S. 71).14 In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, daß bei meiner Analyse der Frage, wie sich die historische Forschung während der jugendbewegten Zeit mit dem Thema Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung auseinandergesetzt hat, der Schwerpunkt deutlich auf den männlichen Jugendlichen liegen wird. Bei den Studien nach 1945 und bei den ab den achtziger Jahren entstandenen Untersuchungen sollte dieser jedoch deutlich abnehmen.
Jene Herausbildung von Jugend als eigene Entwicklungsphase mag auch in der damaligen umfangreichen publizistischen und auch wissenschaftlichen Diskussion15 über Jugendliche und ihre Probleme begründet liegen, „mit der Tendenz, Jugend nun endlich nicht mehr als Noch-nicht-Erwachsene zu behandeln, sondern als Potential eigentümlicher, noch unverbrauchter und unverfälschter Chancen“ (Giesecke, 1981, S. 14). Verbunden mit dem eben Gesagten richtete sich die Hoffnung vor allem des Bildungsbürgertums – die Beamtenschaft und die akademischen freien Berufe, wie Professoren und Gymnasiallehrer – auf die Jugend, von der es sich eine „Erneuerung“ ihrer „alten Werte“ (Klönne, 1990, S. 83 f) ersehnte. Es entstand eine Art „Mythos Jugend“ (vgl. Andresen, 2003, S. 73).
Ausgehend von der Vermutung Andresens, daß nach Annahmen der neueren sozialwissenschaftlichen Kindheitsforschung die Jugendlichen auch selbst an der Konstruktion von Jugend und ihrem Leben beteiligt sind, wobei das, was sie als eigenes Leben definieren, im weitesten Sinne den Diskurs der Eltern widerspiegelt (vgl. ebd., S. 64), hätten sich die Jugendlichen und später die Jugendbewegten selbst als „Träger eines „anderen“ Lebens und einer „neuen“ Gesellschaft“ (Klönne, 2000, S. 47) unter Rückgriff auf die alten Werte verstanden und Jugend damit selbst konstruiert (vgl. Andresen, 2003, S. 70). Es ist zu erwarten, daß in den Untersuchungen aus dem Bereich der Geschlechterforschung, die sich mit Geschlechterkonstruktionen beschäftigt, vor allem die hier erwähnten Gedanken bzw. Selbst- und Fremdthematisierungen – die Jugend als Träger eines anderen Lebens und Bewahrer der alten Werte – genauer erörtert und eher kritisch in die Analyse zur Konstruktion weiblicher Jugend in der deutschen Jugendbewegung einbezogen werden.
Dessen ungeachtet wurde insbesondere in den damaligen Schulen, geprägt von der wilhelminischen Ära16, die Eigenart der Jugend und deren Potential der Lebensform bzw. den Vorstellungen der Eltern untergeordnet (vgl. Frobenius, 1927, S. 31). Dazu gehörte auch die strenge Sexualmoral mit der Forderung nach weitestgehender sexueller Abstinenz bis zur Ehe (vgl. u. a. Linse, 1987, S. 248 ff) – Keuschheitsgebot –, wobei darin, wie im folgenden Kapitel deutlich wird, enorme Geschlechterdifferenz17 bestand. Daneben standen die Jugendlichen unter der „Fuchtel“ ihrer Eltern und der Schule und hatten diesen Gehorsam, Unterordnung und Leistung entgegenzubringen und zu zeigen (vgl. Malzacher/Daenschel, 1993, S. 11). Jugend war damit nicht mehr, als ein verlängerter Status der Abhängigkeit (vgl. Andresen, 2003, S. 71), vor allem von der „autoritär-patriarchalischen Vaterfigur“ (Klönne, 2000, S. 48).
1.2 Entwicklung der deutschen Jugendbewegung
Vor diesem Hintergrund entstand die deutsche Jugendbewegung. Besonders im ersten Grundlagenwerk zur Geschichte der deutschen Jugendbewegung von Hans Blüher18 wird sie vorrangig als ein „Kampf der Jugend gegen die Alten“ (1922a, S. 65) betrachtet. „Die Väter wollen die Söhne zu dem machen, was sie sich in den Kopf gesetzt haben, oder wie sie selber sind, aber die Jugend will nur allzu deutlich werden, was sie will“ (ebd.).
Diese These der jugendlichen Rebellion gegen die Eltern (Väter) sei nach Meinung von Andresen und Klönne stark zu relativieren bzw. modifiziert und widerlegt (vgl. Klönne, 2000, S. 47, vgl. Andresen, 2003, S. 118). Denn, wie oben schon ausgeführt wurde, die Jugendlichen bzw. jungen Männer übernahmen die elterlichen Wertehaltungen und deren Kritik an der Zivilisation (Industrialisierung und Verstädterung), was sich praktisch in ihrem zeitweiligen Auszug aus den Zentren des gesellschaftlichen Lebens (Städten) äußerte – dem gemeinsamen Wandern der zunächst männlichen Jugendlichen ohne Aufsicht von Schule bzw. Eltern (vgl. Klönne, 2000, S. 47). Durch die Identifizierung mit den dabei erfahrenen Werten eines einfachen und natürlichen Lebens in der „freien Natur“, so Klönne, glaubten die Wandervögel und nach ihnen alle anderen Gruppen der Jugendbewegung, einen alternativen Entwurf oder ein Gegengewicht zur bestehenden (sozialen) Ordnung entdeckt zu haben (vgl. 1996, S. 249 f). Dies spiegelt sich auch in den folgenden Worten Frobenius’ zum Phänomen „Wandervogel“ wider:
Der Wandervogel ist ein Zeitphänomen. Denn er entsteht in der Zeit einer überreifen Kultur aus der Auflehnung gegen die Mechanisierungen des Lebens. Er ist der Vorbote großer Umwälzungen. (…) Der Wandervogel ist gleichzeitig ein Menschheitsphänomen. Denn er bringt das uralte Recht der Jugend auf Gemeinschaftsbildung, auf ein Eigenleben wieder zur Geltung (…) (und bildet ein, C.K.) Gegengewicht gegen die allgemeine Mechanei. (…) (Der Wandervogel ist) ein urdeutsches Phänomen. (…) (Denn er, C.K.) beruht auf dem urdeutschen Wandertriebe, der seit Jahrhunderten im Volke lebendig ist. (1927, S. 45)
Stattdessen wird die Jugendbewegung in der modernen Forschungsliteratur u. a. von Klönne nicht nur als soziale, sondern auch als eine Fluchtbewegung gedeutet, nämlich vor der angstverursachenden Moderne in die Arme einer „pädagogischen Provinz“ (vgl. 2000, S. 48) bzw. pädagogischen Schonraum für die Jugend (vgl. Dudek, 1991, S. 64).
1.2.1 Begründung des Wandervogels19
Als erster offizieller Ansatz für den Auszug aus den Zentren des gesellschaftlichen Lebens und damit als Geburtsstunde der Jugendbewegung gilt der „Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten“ (AfS), begründet am 4. November 1901 von jüngeren und älteren Mitbewohnern, u. a. von dem Studenten Karl Fischer in Steglitz bei Berlin (vgl. Giesecke, 1981, S. 18). Das Ziel dieser außerschulischen Organisation für Schüler beschreibt ein Lehrer am Steglitzer Gymnasium und späterer Wandervogel Prof. Dr. Ludwig Gurlitt20 wie folgt:
In der Jugend die Wanderlust zu pflegen, die Mußestunden durch gemeinsame Ausflüge nutzbringend und erfreulich auszufüllen, den Sinn für die Natur zu wecken, zur Kenntnis unserer deutschen Heimat anzuleiten, den Willen und die Selbständigkeit der Wanderer zu stählen, kameradschaftlichen Geist zu pflegen, allen den Schädigungen des Leibes und der Seele entgegenzuwirken, die zumal in und um unseren Großstädten die Jugend bedrohen, als da sind: Stubenhockerei und Müßiggang, die Gefahren des Alkohols und des Nikotins – um von Schlimmerem ganz zu schweigen. (ebd., S. 18)
Die ersten Wandergruppen des AfS, die in abenteuerlicher Aufmachung mit „Schlapphut, Rucksack und Gitarre“ (Frobenius, 1927, S. 20) im Morgengrauen oder am frühen Abend aus den Städten hinauswanderten, waren reine Jungengruppen, bestehend aus Gymnasiasten, die der Bürgerschicht entstammten (vgl. Aufmuth, 1979, S. 236, 242 ff), woraus sich auch der Name der bürgerlichen Jugendbewegung ableiten läßt. Jene Gruppen wurden von nur unwesentlich älteren Schülern, Studenten oder Lehrern geführt. Man bezeichnete diese als Führer, (Bacchant), da sie in jenen Gruppen immer eine zentrale Rolle spielten und es von ihren Fähigkeiten abhing, was in den Gruppen lief. Damit war ihre Funktion nicht ausschließlich auf organisatorische Aufgaben beschränkt (vgl. Andresen, 2003, S. 81). In Anlehnung an das Konzept der mittelalterlichen Scholaren (fahrenden Schüler) erschloß sich den Jugendlichen auf ihren Fahrten in Wäldern und Wiesen nahe der großen Städte ein Leben voller Abenteuer. Hier entwickelte sich jener Lebensstil, der für den Wandervogel und ebenso für die Gruppen der Bündischen Jugend in der Weimarer Republik eigentümlich bleiben sollte: Gemeinsames Wandern und Singen, Übernachten unter freiem Himmel, Kochen am offenem Feuer. Eingebunden in neue Naturerlebnisse, war das bestimmende Moment des hier gefundenen Lebensgefühls das Erlebnis der Gemeinschaft, der „Verschworenheit“ der Gruppe oder des Bundes21 (vgl. Klönne, 1996, S. 250 f). Damit wurde ein Leitmotiv jugendbewegter Kultur vorgegeben. Die Gestimmtheit des Gefühls oder, wie es Frobenius nennt, „Gemütstiefe“ (1927, S. 23), reichte über unterschiedliche Anschauungen hinweg und vermittelte den Zusammenhalt von Bund und Gruppe, das „Gemeinschaftserlebnis“ (vgl. Schröder, 1996, S. 8, 59 ff).
1.2.2 Entwicklung bis zum Eintritt der Mädchen
Bevor jedoch die ersten Mädchen aktiv an den Fahrten (1905) des sich weiter ausbreitenden Wandervogels der Jungen und Männer beteiligen konnten, genossen diese ein paar Jahre ihres wildromantischen „Scholarenleben“ unter sich. Schon kurze Zeit nach der Begründung des AfS begann dessen verhältnismäßig schnelle Ausbreitung. Im Zeitraum von 1901 - 1905 bildeten sich im AfS sechs weitere Ortsgruppen (vgl. Köhler, 1987c, S. 134). Waren an den ersten Wanderungen 1901 ca. 30 Teilnehmer unter Führung Fischers unterwegs, wurden 1903 bereits Fahrten mit 250 Teilnehmern unternommen (vgl. Köhler, 1987a, S. 73).
Über den Stil des Wanderns kam es in diesem Zeitraum zu ersten Spannungen zwischen diversen Führern der Scholaren im ersten Wandervogel. Weitere Auseinandersetzungen folgten, woraufhin am 29. 06. 1904 der AfS aufgelöst und der „Altwandervogel“ (AWV) von Karl Fischer begründet wurde (vgl. Malzacher/Daenschel, 1993, S. 19). Im gleichen Atemzug entstand der Steglitzer Wandervogel e. V. (1904), in dem die Kontrahenten Fischers den AfS nach ihren Vorstellungen in Steglitz fortführten. Trotz dieser Spannungen gewann der Wandervogel, sprich die deutsche Jugendbewegung, immer mehr Fürsprecher und Anhänger22, auch in einem Teil der Gymnasiallehrerschaft (vgl. Frobenius, 1927, S. 60).
2. Mädchen und Frauen in der deutschen Jugendbewegung
Im Gegensatz zur männlichen Jugendbewegung, die im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr Fürsprecher und auch Mitstreiter gefunden hatte, konnte nach Klönne die entstehende Wander- und Jugendbewegung der Mädchen nur in Ausnahmefällen mit derartiger Unterstützung rechnen (vgl. 1996, S. 251). Hindernisse für ihre Beteiligung an der Jugendbewegung waren zum einen, daß das jugendbewegte Milieu männlich besetzt gehalten war, wie es oben schon angeführt wurde, und zum anderen die damaligen Moralvorstellungen und Weiblichkeitskonstruktionen. Darauf möchte ich im folgenden Abschnitt zu den weiblichen Lebensperspektiven eingehen. Es ist davon auszugehen, daß das hier zu erörternde Geschlechterverhältnis bzw. die hier zu erörternden Weiblichkeitsbilder besonders für die Studien zur Zeit der deutschen Jugendbewegung und im Nationalsozialismus in überspitzter Form prägend sein sollten, bedingt durch die zeitliche Nähe jener Untersuchungen als auch den damaligen Wissens- und Forschungsstand. Dagegen wurden in der weiteren Forschungsgeschichte nach 1945 das Geschlechterverhältnis und die Weiblichkeitsvorstellungen eher skeptisch betrachtet und sollten vor allem in den Untersuchungen im Bereich der Geschlechterforschung ab den achtziger Jahren durchaus kritisch analysiert werden.
2.1 Geschlecht als soziale Konstruktion und weibliche Lebensperspektiven im Kaiserreich
Hatten vor der Industrialisierung Frauen und Mädchen durch ihre in der Familie geleistete Arbeit in der Gesellschaft „etwas zu sagen“ – obwohl sie nicht wirklich rechtliche und politische Entscheidungsfreiheiten besaßen und unter der „Gewalt des Hausvaters“ standen –, so ging ihnen durch die mit den Umwälzungsprozessen verbundene Auflösung der Familienökonomie und durch die zunehmende Bedeutung des wirtschaftlichen Marktes ihre gesellschaftliche Anerkennung verloren. Ihre Arbeit wurde nun nicht mehr als „wahre“ Arbeit anerkannt, und aufgrund der Kritik des Bürgertums an der Moderne wurde die Familie zu dem Bereich des persönlichen Glücks stilisiert. In diesem Zusammenhang wurde der Handlungsraum, „Verhaltenskanon“ (Klönne, 1990, S. 59 f), der Mädchen und Frauen intensiver auf diesen Bereich eingeschränkt: „einst begehrlich und lebendig, (wurden sie, C.K.) nun zur ‚guten Mutter‘ verformt“ (Honegger/Heintz, 1981, S. 31). Trotz der wirtschaftlichen Lage in der industriellen Gesellschaft, die die Schul- bzw. Ausbildung und Erwerbsarbeit der Mädchen und Frauen notwendig machte, waren die Möglichkeiten, vor allem für die Mädchen aus dem Bürgertum, beschränkt: Im schulischen Bereich aufgrund der Begrenzung der Mädchenbildung, beruflich aufgrund der Einengung auf Tätigkeiten wie Lehrerin oder Erzieherin, die weitestgehend an die Forderung der Ehelosigkeit gebunden waren (vgl. Klönne, 1998, S. 16 f). Verbunden mit dieser Vorstellung ist der Begriff der geistigen Mütterlichkeit, der auf Henriette Schrader-Breymann zurückgeht und mit dem die bürgerliche Frauenbewegung ein Konzept herausarbeitete, das Frauen in den „mütterlichen“ bereichen wie Erziehung oder Sozialarbeit die Möglichkeit auf Erwerbstätigkeit ohne Verlust des sozialen Standes bot (vgl. u. a. Schade, 1996, S. 14). Demnach bildet den Rahmen für die Beziehung der Geschlechter und das Geschlechterverhältnis jener Zeit, somit auch für die Jugendbewegung, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (vgl. Klönne, 2000, S. 16). Zwar versuchte die seit 1848 tätige Frauenbewegung in Deutschland, hier Veränderungen zu bewirken (vgl. Raschke, 1988, S. 40), dennoch blieb für die Mehrheit der weiblichen Jugend aus den bürgerlichen Schichten ihr Lebensentwurf bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hinein einseitig auf den der Ehefrau und Mutter hin orientiert (vgl. Klönne, 1996, S. 251). Selbst diejenigen Mädchen und jungen Frauen, die die Möglichkeit hatten, sich zu bilden, gaben nach Busse-Wilson ohne weiteres Ausbildung und Berufsarbeit auf, sobald sich die Gelegenheit einer Eheschließung bot (vgl. 1920, S. 41). Gegenüber dem Leben als „alte Jungfer“, die im Haushalt der Eltern oder unverheirateter Geschwister ein nur geduldetes, freudloses und unnützes Dasein fristete, ohne eine große Auswahl an persönlicher Erwerbstätigkeit, schienen Ehe und Familie ein akzeptableres Leben zu sein (vgl. Frevert, 1986, S. 44). Außerdem gab es den Frauen eine persönliche und gesellschaftliche Bedeutung (vgl. Klönne, 2000, S. 32). Diese Orientierung der Mädchen und Frauen auf zwei Praxisfelder, Beruf und Familie, bezeichnet Klönne als „doppelten Vergesellschaftungsprozeß“ (vgl. 1998, S. 94).
Demzufolge vollzog sich ein Wandel im Geschlechterverhältnis. War jenes vor der Industrialisierung, geprägt durch die Standeszugehörigkeit, „recht“ ähnlich gewesen, differenzierte es sich im Laufe der Zeit immer mehr in spezifische Geschlechtscharaktere (vgl. Frevert, 1986, S. 21 f). Dieser Wandel muß auch vor dem Hintergrund der im 19. Jh. einsetzenden Diskurse zum Thema Frau und Geschlecht (vgl. Andresen, 2003, S. 103) gesehen werden, die diese Geschlechtsspezifika herausarbeiteten. Zu ihnen gesellte sich auch gegen Ende des 19. Jh. der Diskurs um die weibliche Jugend. Diese Diskurse wurden von einer männlich dominierten Denk- und Sichtweise aus geführt, weshalb im Frauenbild dieser Zeit (19 Jh.) immer das „Andere“ im Vergleich zum Mann gesehen wurde: Mann = Arbeit, Verstand (Logos); Frau = Familie, Liebe (Eros), (vgl. Reese, 1991, S. 10). Diese geschlechtsspezifischen Eigenschaften schienen sich aber nicht nur ideal zu ergänzen (vgl. Frevert, 1986, S. 22), sondern standen sich auch polar gegenüber, weshalb in der Literatur von Geschlechterpolarität23 gesprochen wird. Auch hatten sie kritische Auseinandersetzung über das weibliche Geschlecht bis hin zum Antifeminismus24 zur Folge (vgl. 3.1). Daneben bedeutete die Polarität für die Frau eine Fixierung auf „ihre“ Rolle – im Sinne von Geschlechterrolle25 – in Ehe und Familie, wodurch sich das Selbstwertgefühl der Frau, ihre Identität und ihr gesellschaftliches Ansehen nur über den beruflichen Status des männlichen Familienoberhauptes gewinnen ließen (vgl. Klönne, 2000, S. 32). Für die jungen Mädchen bedeutete das, daß ihre Jugendphase ausschließlich als Vorbereitung auf ihr zukünftiges Mutter- bzw. Familiendasein verstanden wurde (vgl. Andresen, 2003, 137), unabhängig davon, daß sich in dieser Lebensphase vor allem der Gleichwertigkeitsgedanke aller Menschenleben ausdrückte (vgl. Reese, 1991, S. 8).
Busse-Wilson kritisierte diese Form der umfassenden Einengung des Handlungsraums des weiblichen Geschlechts und damit auch der weiblichen Jugend sowie die sich mehr als deutlich darin ausdrückende Hierarchie der Geschlechter26, gekennzeichnet durch eine männliche Dominanz. Im Zentrum ihrer Kritik stand das den Mädchen und jungen Frauen auferlegte Keuschheitsgebot: Das Gebot, als „tadellos intakte Bräute“ (Busse-Wilson, 1920, S. 43) in die Ehe zu gehen, während den Jünglingen auch zugestanden wurde, sich vor der Ehe bei Prostituierten oder in unverbindlichen Liebschaften mit Mädchen unterer Sozialschichten die „Hörner abzustoßen“ (vgl. Frevert, 1986, S. 130). Busse-Wilson machte das Keuschheitsgebot nicht nur als Ursache für die psychosozialen Einschränkungen weiblicher Sozialisation verantwortlich: Geringfügige Bildung, weitestgehende Nichtduldung weiblicher Erwerbstätigkeit und damit letztendlicher Ausschluß von der Teilhabe am öffentlichen Leben. Darüber hinaus analysierte sie es tiefergreifend in seiner Funktion als „Grundpfeiler“ (1920, S. 56) eines „vom Manne ausgegebenen geschlechtlichen Sittengesetzes, das von den Müttern ihm zu Gefallen verwaltet und gewahrt wird“ (ebd., S. 42):
Kaum der Kindheit entwachsen, trennt sich ja das Mädchen von den Gleichaltrigen, insonderheit auch vom Jüngling und hält innerlich wie äußerlich zur Matrone, mit ihr zusammen die bürgerliche Sitte verkörpernd. Das ganze Schwergewicht der bürgerlichen Moral hängt also, wie paradox dies auch klingen mag, an den sechzehn– bis achtzehnjährigen, die in demselben Augenblick, wo sich ihnen die Jugend auftuen will, Träger der Konvention werden. (ebd., S. 56)
Gerade für die unverheirateten Mädchen aus dem Bürgertum, war diese von Busse-Wilson beschriebene Moralität unbefriedigend (vgl. Klönne, 1990, S. 66). Gegenüber diesen, bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreichenden, bedrückenden Lebensumständen bot die sich entwickelnde Jugendbewegung und ihre Kultur in Deutschland den Mädchen und jungen Frauen ungeahnte Handlungsfelder und Erfahrungsmöglichkeiten. Ein Lebensraum, in dem sie ein Bewußtsein von Jugend als Chance persönlicher Handlungsfreiheit entwickeln konnten (vgl. Klönne, 2000, S. 35). Es ist davon auszugehen, daß besonders in den Untersuchungen aus der jugendbewegten Zeit der Möglichkeit des Umgangs der Geschlechter in der Jugendbewegung eine besonders „revolutionäre“ Bedeutung zukommt, gerade bei den weiblichen Forscherinnen. Die Forscherinnen aus der heutigen Zeit hingegen sollten, ausgehend von den modernen Vorstellungen einer befreiten Sexualität und eines emanzipierten Geschlechterverhältnis (vgl. Andresen, 2003, S. 13), den Umgang der Geschlechter eher kritisch bewerten.
Wie die Mädchen Zugang in diese Bewegung fanden, wie sich die Mädchen innerhalb der Bewegung etablierten, welche Probleme es gab u. a. möchte ich im folgenden schildern.