Kitabı oku: «Istanbul – ein Tag und eine Nacht», sayfa 2

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6 Uhr
Erwachen
Satu Önder – Die Frau des Imams

Die Moschee macht sich so klein, als würde sie sich zwischen den umstehenden Häusern ducken. Der lindgrüne Anstrich der alten Mauern ist verblasst. Über dem Eingang steht: Makrizade Hüseyin Çelebi Camii und das Baujahr 1709. Jeden Morgen, noch vor Sonnenaufgang, wenn in der Dämmerung der neue Tag erst zu ahnen ist, macht die kleine Moschee sich bemerkbar. Dann ertönt der ezan, der islamische Gebetsruf, schwingt sich durch die Hinterhöfe auf dem Galata-Hügel. Allāhu akbar, Gott ist groß. So weckt der Imam die Gottesfürchtigen, die Zweifler und die Atheisten, erinnert die Gläubigen an ihre Pflichten und die Ungläubigen unsanft daran, dass die Nacht zu Ende ist.

Ein paar Jahre habe ich auf dem Galata-Hügel gewohnt. Viele Häuser hier haben sieben oder acht Etagen und in den obersten Stockwerken abenteuerlich zwischen Himmel und Erde aufgehängte Terrassen. Die sind oft illegal gebaut, weil Wohnungen, von denen man aufs Ballett der großen und kleinen Schiffe auf dem Bosporus schauen kann, viel mehr wert sind als solche ohne diesen betörenden Blick. Von meiner Terrasse in Flughöhe der Möwen konnte ich tief unten auch einen schmalen ummauerten Garten erspähen. Und aus dieser Tiefe ertönte jeden Morgen ein Hahnenschrei, und zwar stets unmittelbar vor dem Gebetsruf, so laut, als dulde das Tier keine akustische Konkurrenz. Es gab nur eine Erklärung: Der Hahn lebt im Garten des Imams. Nach ein paar Wochen war der vorlaute Kräher auf einmal wieder weg, und ich habe mich gefragt, wo ist der Hahn geblieben?

Satu Önder, die Frau des Imams, hat es mir erzählt, bei Tee, Teigtaschen und sohbet, wie das schöne türkische Wort für eine unterhaltsame Plauderei lautet. Satu Önder trägt ein Kopftuch in Pastelllila mit großem Blumenaufdruck, einen langen Rock und eine schwarze Wolljacke. »Der Hahn«, sagt sie und lacht, »ja, schade eigentlich.« Ein paar Nachbarn hätten sich beschwert. Und wenn die Nachbarn sich gestört fühlen, »dann bin ich auch unruhig, deshalb haben wir ihn weggebracht, ins Dorf«. War einfach zu laut, der Hahn. »Eine Ente hatten wir auch, und Hühner im Garten, mein Mann mochte die sehr«, sagt Satu über Mustafa, ihren Mann, den Imam.

Satu Önder sitzt auf einem Sofa in ihrem Wohnzimmer über der Moschee. Für den heißen Tee in Tulpengläsern hat sie kleine Tischchen herangerückt. Sie zupft an ihrer Jacke: »Ich friere immer, ich fürchte die Kälte.« Sie will die Heizung hochdrehen, aber die Tochter neben ihr auf dem Sofa sagt, ihr sei warm. Elif, achtzehn Jahre alt, in Jeans und weißem Pulli, trägt kein Kopftuch. Was Mutter und Tochter erzählen werden, ist eine typische Istanbuler Geschichte, sie handelt von verlassenen anatolischen Dörfern, zehn, zwölf Autostunden von der Metropole entfernt. Und von den Verlockungen der großen Stadt. Von verpassten Chancen und dem Wunsch, dass es den Kindern besser gehen möge als ihren Eltern. »Meine Kinder sind klug«, sagt Satu Önder, »ich bin es nicht.« Elif kennt das: »Das höre ich immer.«

Wo Satu Önder aufgewachsen ist, gab es kein wärmendes Stadtgas, das heute in Istanbul zu den selbstverständlichen Annehmlichkeiten gehört, geheizt wurde im Dorf mit Holz aus dem Wald. Aber allein wegen der bitteren Kälte im Winter wären Satu Önder und ihr Mann wohl nie aus einer fernen Schwarzmeerprovinz nach Istanbul aufgebrochen. »Ich wollte, dass meine Töchter studieren«, sagt die Frau des Imams, »weil ich das nie konnte.«

So erzählt diese Geschichte auch von gewaltigen sozialen Veränderungen in der Türkei, in nur einer Generation. Geboren wurde Satu 1972 in der Schwarzmeerprovinz Sinop. In welchem Monat sie Geburtstag hat, weiß sie nicht. »Meine Mutter hat gesagt, die Kirschen waren reif, also könnte es im Mai gewesen sein.« Die Mutter konnte wie der Vater weder lesen noch schreiben. Als der Vater krank wird, ist Satu drei Jahre alt, er kann lange nicht arbeiten. Daher ziehen sie in das Dorf der Mutter, ein Stück weiter im Landesinneren, in der Provinz Çorum. Dort geht Satu zur Volkschule, danach will sie in die Mittelschule, dazu rät auch ihr Lehrer, sie ist eine gute Schülerin. »Der Lehrer sagte meinem Vater, ich werde deine Tochter in der Mittelschule anmelden.« Da aber müsste sie jeden Tag in die nächste Stadt fahren. Das will der Vater nicht. »Was sollte ich tun?«, fragt Satu. »Mit sechzehn Jahren habe ich dann geheiratet.« Das kam ihr selbst zu früh vor. »Ich war jünger als meine Tochter jetzt.« Mutter und Tochter drehen die Köpfe zueinander. »So waren die Bedingungen damals eben«, sagt Satu Önder, kismet, Schicksal.

Und hat sie sich ihren Bräutigam selbst ausgesucht? »Mein Mann hat mich gewählt«, sagt sie und lacht wieder. »Er kam als Gast zu uns und hat ein Auge auf mich geworfen.« Die Familien kannten sich. Mit Mustafa habe sie sich dann zum Glück gut verstanden. Ihr Mann ist vier Jahre älter als sie. Nach seiner Ausbildung erhält er seine erste Stelle als Imam, in einer anderen Schwarzmeerprovinz, in Samsun, in einem Dorf. Imame arbeiten im Auftrag der staatlichen Religionsbehörde, sie sind Beamte.

Erst 2001, nach vielen kalten Wintern auf dem Dorf, bewirbt sich ihr Mann um eine Stelle in Istanbul und bekommt sie. In der kleinen, historischen Moschee zwischen den Hafenkais von Karaköy und dem Galataturm, auf den die Touristen so gerne steigen. Damals war das keine gute Gegend, inzwischen gibt es hier fast in jeder Gasse eine Bar oder ein Restaurant. Zur Moschee gehört ein lojman, eine Dienstwohnung. Als sie ankommen, ist das nur ein Zimmer und ein kleiner Salon. »Da standen ein Doppelbett und ein Kühlschrank. Sonst nichts.« Und sie hatten doch schon zwei Töchter, Fadime war zehn, Esra zwölf. Die dritte Tochter, Elif, war noch nicht geboren.

Sie haben dann ein Stockwerk auf die winzige Wohnung draufgebaut, in Eigenarbeit, wie man das in Istanbul oft macht. Mit einer steilen Innentreppe, auf der man den Kopf einziehen muss. Die großen Töchter haben studiert. Fadime ist Computeringenieurin, Esra Lehrerin. Elif will nach dem Gymnasium auch Ingenieurin werden. Dafür muss sie in der nationalen Zulassungsprüfung eine hohe Punktzahl erreichen, nur dann kann sie sich Studienfach und Universität aussuchen. »Ich finde das nicht gerecht«, sagt Elif, »wer viel Geld hat, nimmt vor der Prüfung Privatunterricht, die anderen sind benachteiligt.« Sie holt frischen Tee aus der kleinen Küche neben der steilen Treppe. Türkischer Tee wird gekocht, dann wird der Sud mit heißem Wasser aufgegossen und je nach Geschmack verdünnt.

Wenn ihr Mann frühmorgens aufsteht, ist auch Satu wach. Tee kocht sie erst später. »Er geht runter in die Moschee.« Nur wegen des Gebetsrufs müsste Mustafa Önder seinen Dienst nicht so früh antreten, denn inzwischen gibt es in mehreren Stadtvierteln Istanbuls ein zentrales System für den ezan. Doch der Imam ist auch Vorbeter, und wenn die Frühaufsteher in die Moschee kommen, »dann muss er da sein«. Sie bleibe morgens im Haus, sagt Satu Önder, und wenn ihr Mann vom ersten Gebet zurückkommt, lege er sich erst einmal wieder hin. Schließlich kann der Tag lang sein bis zum Nachtgebet, dem yatsı, das sich wie alle fünf islamischen Gebetszeiten nach dem Sonnenstand richtet. Elif sagt: »Wenn wir als Kinder auf der Straße gespielt haben und den ezan am Abend hörten, dann wussten wir, jetzt müssen wir nach Hause.«

Satu Önders Routine ist auch festgelegt, wie die ihres Mannes. Das Haus in Ordnung halten, Einkaufen, Kochen, Putzen und, wenn Zeit bleibt, die zwei Töchter besuchen, die schon außer Haus sind. Eine wohnt auf der europäischen, die andere auf der asiatischen Seite der Stadt. Die vier Enkelkinder betreut sie mit. »Meine größte Freude, bei den eigenen Kindern war ich so jung, da habe ich das nicht so genossen.« Sie putzt auch fremde Wohnungen. Satu Önder sagt, »meine Familie war arm, wie die meines Mannes«. Als sie nach Istanbul kamen, wurde es besser, weil sie arbeiten konnte, das wäre auf dem Dorf nicht gegangen, da gab es ja nichts. Viele Jahre hat sie nebenbei mittags in einem Café gekocht. »Da habe ich Kochbücher gelesen, jetzt finde ich die Rezepte auf dem Handy im Internet, die Kochbücher habe ich weggeworfen.« Einige Gerichte kannte sie schon von der Großmutter, »die einschläfernden Feigen« zum Beispiel, aus Milch, Feigen und Nüssen, »ein umwerfendes Dessert«, sagt sie. Die Gäste im Café mochten es gern.

Über Istanbul sagt die Frau des Imams: »Wenn man reich ist, ist die Stadt sehr schön.« Als Imam werde man aber nicht reich. Polizisten, Lehrer, viele Beamte verdienten besser. Elif rutscht ein wenig auf dem Sofa herum. »Manchmal«, sagt die Tochter, »hasse ich Istanbul, aber wenn ich im Dorf bin, vermisse ich die Stadt.« Und was macht sie in ihrer freien Zeit in der Stadt der unendlichen Möglichkeiten und Verführungen? »Ich laufe durch die Shoppingmalls, auch wenn ich nichts kaufe, oder hier durch die Nachbarschaft. Wenn ich die alten Häuser sehe, macht mich das schon wieder glücklich.«

Satu Önder mahnt, das Essen nicht zu vergessen, die Blätterteigtaschen mit Käse habe sie frisch gemacht. Fragt man die Frau des Imams, ob sie findet, dass die Arbeit ihres Mannes schwer sei, dann sagt sie, mit einem Zögern, als wolle sie nicht missverstanden werden: Nein, schwer würde sie das nicht nennen, aber er sei eben den ganzen Tag angebunden, könne nicht weit weg von zu Hause, sechs Tage die Woche. Am Wochenende gebe es einen freien Tag. Und wenn der Vorbeter krank wird? Dann komme Ersatz, vorausgesetzt, es finde sich einer, was nicht einfach sei, zum Beispiel als Mustafa Önder Covid-19 bekam.

»Die guten Jahre gehen vorbei, so ist das Leben«, sagt sie. »In der Türkei machen immer diejenigen die schwersten Arbeiten, die nicht lange zur Schule gegangen sind.« Wieder ein Seitenblick zur Tochter. Wenn Elif mit dem Studium fertig sei, könnte ihr Mann vielleicht vorzeitig in Rente gehen. Dann müssen sie das Häuschen über der Moschee verlassen. »Es ist ja nicht unser Eigentum.« Sie würden wieder ins Dorf ziehen, wo das Leben billiger ist, wo nur noch ein paar alte Menschen leben und viele Häuser leer stehen, weil die Jungen alle in die Städte gegangen sind. »Aber da ist es kalt im Winter«, sagt Satu Önder und schüttelt sich ein bisschen. Oder sie könnten pendeln, zwischen Stadt und Land. Auch das hat sie schon erwogen. Elif sagt, sie möge das Dorf, »aber nur im Sommer, wenn meine alten Freunde da sind, dann sind wir den ganzen Tag in der Natur, wir laufen durch den Wald, machen Musik, Feuer, haben Spaß«.

Sie schenkt noch einmal Tee nach. Stört es ihre Mutter, dass sie kein Kopftuch trägt? Elif sagt, »meine Eltern haben mich nie dazu gezwungen, es zu tragen, das rechne ich ihnen hoch an«. Satu Önder legt ihre rechte Hand aufs Herz: »Ich schaue nicht auf Äußerlichkeiten, sondern auf das Innere.« Nur eine ihrer drei Töchter trägt die islamische Kopfbedeckung.

Bevor Recep Tayyip Erdoğans Partei 2002 an die Macht kam, durften Frauen mit Kopftuch nicht studieren. Manche zogen sich deshalb Perücken über das Tuch. Erdoğan schickte seine Töchter zum Studium in die USA – mit Kopftuch. Es war paradox: Gerade weil die islamische Kopfbedeckung in staatlichen Gebäuden verboten war, wurde sie zum Symbol der Spaltung des Landes. Erdoğan versprach, das Verbot zu kippen, und wurde auch dafür von Konservativen gewählt.

Die Türken sind unter Erdoğan aber nicht generell frömmer geworden. Das renommierte Istanbuler Meinungsforschungsinstitut Konda untersucht alle zehn Jahre das Lebensgefühl junger Menschen. Bei der bislang letzten repräsentativen Befragung von 5793 Türken über fünfzehn Jahre in Metropolen und auf dem Land fand Konda 2019 heraus: Fünfzehn- bis 29-Jährige sind im Alltag sogar weniger konservativ als zehn Jahre zuvor. Es halten sich weniger junge Leute an die islamischen Gebetsregeln, und im Ramadan wird weniger gefastet. Mädchen und junge Frauen tragen seltener Kopftuch. 58 Prozent verhüllen ihr Haupt nie, zehn Jahre zuvor waren es nur fünfzig Prozent. Die strenge Form des Kopftuchs, türban genannt, die keine Haarsträhne sehen lässt, tragen nur sechs Prozent der Fünfzehn- bis 29-Jährigen, zehn Jahre zuvor waren es noch sechzehn Prozent. Und die allermeisten wollen ihren Lebenspartner selbst aussuchen. Konda-Chef Bekir Ağırdır nennt die Türkei »ein soziales Labor für die Folgen von Urbanisierung und Globalisierung«. Dazu gehört auch: 93 Prozent der jungen Türken nutzen soziale Medien, vor allem Facebook und Twitter.

An der Stirnwand des Wohnzimmers von Familie Önder hängt der Flachbildschirm, der in keinem türkischen Haushalt fehlen darf. Verrät die Frau des Imams, welche Partei sie wählt? Sie zögert, sagt dann: »Mein Mann und ich haben da unterschiedliche Ansichten.« Er sei ein AKP-Anhänger, das war sie früher auch. Aber bei der Kommunalwahl 2019 habe sie in Istanbul ihre Stimme dem jetzigen Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu gegeben. Der ist ein Mann der säkularen CHP, auch wenn er in die Moschee geht. Sein Wahlbündnis aus Sozialdemokraten, Rechtsliberalen und Kurden hat 25 Jahre Vorherrschaft der Konservativen in der Sechzehn-Millionenstadt beendet. Satu Önder findet nun allerdings, dass der Neue noch nicht so vieles besser mache: »Er arbeitet zu wenig.« Elif sagt: »Für mich sind alle Politiker gleich.«

Und was wünscht sich Satu Önder für die Zukunft? Da antwortet sie ohne Zögern: »Dass Gott uns Gesundheit schenkt und Glück für meine Kinder. Mehr ist nicht nötig, denn wie viel Geld du auch hast, wie viele Häuser, was nützt das, wenn du krank und unglücklich bist.« Sie will noch den Garten zeigen. Es geht die steile Treppe wieder hinunter und dann noch ein paar Stufen in den ummauerten Garten. Zwei Kinderschaukeln, Bohnenstauden, Paprikapflanzen, Riesenkürbisse, ein langer Holztisch. In einer Ecke steht ein Hühnerstall, das Türgitter hängt schräg in den Angeln. Satu Önder deutet auf den leeren Käfig. »Da war der Hahn drin.«

7 Uhr
Treffpunkt Taksim
Unterwegs zu Osman Kavala, dem Mäzen hinter Gittern

Es ist ein gemächliches Erwachen, die Straßenkehrer fegen die Reste der Nacht auf dem Taksim zusammen. Vor dem Marmara-Hotel steht eine Schlange gelber Taxis, ein Fahrer der Morgenschicht lehnt an seinem Wagen, ein Teeglas in der Hand. Seitdem der Verkehr von Istanbuls zentralem Platz in einen unterirdischen Busbahnhof verbannt wurde, ist der Taksim, auf dem man früher den Herzschlag der Stadt spürte, eine ruhiggestellte betonierte Bucht. Zum Verweilen lädt hier nichts mehr ein. Mit Absicht, denn auf dem Platz und im angrenzenden Gezi-Park sammelten sich im Sommer 2013 Hunderttausende Demonstranten. Der Taksim war aber schon vorher der zentrale Protestplatz der Türkei. Das ist Geschichte.

Nur an einer Seite können noch Busse halten, dort steht an diesem Morgen ein Mann mit einem Klemmbrett in der Hand. Er hakt die Namen der Passagiere ab, die sich einer nach dem anderen einfinden und rasch einen großen Reisebus füllen. Sie nicken einander stumm zu, wie Menschen, die sich nicht zum ersten Mal begegnen. Alle kennen das Ziel der Reise: Silivri, das größte Gefängnis der Türkei, etwa siebzig Kilometer entfernt vom Zentrum Istanbuls, Richtung Westen. Zu der Reisegesellschaft gehören Schauspieler, Dramatiker, Schriftsteller, Künstler, Stadtplaner, Journalisten. Sie wollen dabei sein, wenn dem Kulturmäzen Osman Kavala im Gerichtssaal von Silivri der Prozess gemacht wird, einem Mann, der sein Vermögen hergibt für die Kunst und die Künstler.

Kavala wird beschuldigt, ein Staatsfeind zu sein, die Anklageschrift ist fast 700 Seiten lang und voller Absurditäten. Darin finden sich Facebook-Posts, Flugdaten, Handyfotos, darunter eine Landkarte. Der Staatsanwalt wertet sie als Beweis dafür, dass der Angeklagte »die Einheit der Türkischen Republik« zerstören wollte. Die Karte zeigt die geografische Verbreitung von Bienenrassen im Nahen Osten, keine neuen Grenzen der Türkei.

Im Bus sammeln sie das Fahrgeld ein. Die Stadt ist erwacht, der Verkehr ein zähflüssiger Strom. Zwei Stunden, manchmal mehr, dauert es bis Silivri. Das Gefängnis hat auf der Schnellstraße eine eigene Ausfahrt, es ist eine Kleinstadt und die größte Haftanstalt Europas. Zuerst sieht man die Wachtürme, dann den Zaun. Das Gerichtsgebäude liegt gleich hinter der ersten Absperrung.

Vor Betreten des Gerichtssaals müssen Besucher ihre Handys abgeben, ausgenommen davon sind Parlamentsabgeordnete. Oppositionspolitiker sind regelmäßige Prozessbeobachter in Silivri. Der Saal hat etwa tausend Quadratmeter, er wurde für Massenprozesse gebaut. An der Stirnwand über dem erhöhten Richtertisch steht in Großbuchstaben: »Die Gerechtigkeit ist das Fundament des Landes.« Ein Satz von Republikgründer Kemal Atatürk. Das kann man auch von der rückwärtigen Saalseite aus noch gut lesen, wo die Zuschauer Platz nehmen. Was man von dort nicht sieht, sind die Gesichter der Richter und des Staatsanwalts, weil sie nicht auf den zwei Großleinwänden erscheinen, die den Richtertisch flankieren. Dort werden nur die Köpfe der Anwälte gezeigt und die der Angeklagten, wenn sie das Wort haben.

Es gibt in diesem Prozess sechzehn Angeklagte. Nicht alle sind anwesend, einige sind schon vor einiger Zeit ins Ausland geflüchtet, darunter der bekannte Journalist Can Dündar, der nun in Deutschland im Exil lebt. Nur einer der sechzehn ist in Untersuchungshaft: Osman Kavala. Um zehn Uhr soll die Verhandlung beginnen, aber es tut sich nichts. Viel Zeit, die Polizisten zu studieren, die in Panzerwesten die vielen leeren Sitzreihen in der Saalmitte bewachen, einige spielen mit ihren Handys. Auf den Zuschauerbänken ganz hinten sind alle 300 Plätze besetzt. Für Anwälte, Diplomaten, Abgeordnete und Medienvertreter gibt es extra Stühle an den Seiten. Auch hier ist kein Platz frei, ein paar Journalisten sitzen daher am Boden. Gewöhnlich ist das nicht erlaubt, aber manchmal, so wie heute, drücken die Wachleute ein Auge zu.

Endlich erscheinen der Richter und seine zwei Beisitzer. Kurz darauf wird der Angeklagte hereingeführt, über eine Rampe aus dem Untergrund direkt in die Saalmitte, was dem Auftritt etwas Theatralisches verleiht. Auf der Rampe taucht zuerst Kavalas grauer Lockenkopf auf, da erheben sich die Zuschauer schon von ihren Plätzen zum Gruß, viele klatschen, winken. Kavalas grauer Anzug hängt an den Schultern über, als sei er ihm in der Haft zu weit geworden. Die Polizisten, die ihn begleiten, überragt er um Haupteslänge. Die Zuschauer klatschen immer noch, da dreht er den Kopf, winkt zurück. Kavalas Augen schweifen durch den Saal, auf der Suche nach bekannten Gesichtern. Das alles dauert weniger als eine Minute, da mahnt der Richter zur Ruhe. Später wird er bei Beifallsbekundungen mit der Räumung des Saales drohen.

Alle sechzehn Angeklagten – Architekten, Professoren, Schauspieler – werden beschuldigt, sie hätten die Proteste 2013 im Gezi-Park organisiert, um die Regierung zu stürzen. Kavala sei ihr Finanzier gewesen. Alle haben die Vorwürfe bestritten. Mehreren Angeklagten droht wie Kavala lebenslange, erschwerte Haft. Die wurde einst als Ersatz für die Todesstrafe in der Türkei eingeführt, es bedeutet mindestens dreißig Jahre Einzelhaft.

Kavalas Stiftung Anadolu Kültür ist seit 2002 aktiv, sie ist Partner des Goethe-Instituts in der Türkei und vieler anderer internationaler Kulturinstitutionen. Die Stiftung hat ein armenisch-türkisches Jugendorchester finanziert, kurdische Künstler, Filmfestivals, Ausstellungen und vieles mehr. Kavalas Familie stammt ursprünglich aus dem heutigen Griechenland, sie wurde im Tabakhandel und mit Bergwerken reich. 1982, nach dem Tod des Vaters, übernahm der Sohn den Konzern, der früher auch für das Militär produzierte. Der Pazifist hat sich längst aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen, er ist hauptberuflich Philanthrop. Zum Ärger der Regierenden. Erdoğan nannte ihn– es sollte abschätzig klingen – den »Soros der Türkei«, weil Kavala ähnlich wie der US-Milliardär auch Bürgerrechtsorganisationen fördert.

Am 18. Oktober 2017 wurde Kavala festgenommen, nach einem Inlandsflug. Er wollte in Istanbul gerade aus der Maschine steigen, als er – noch im Flugzeug – von Sicherheitskräften abgeführt wurde. Der Prozess begann erst knapp zwei Jahre später, im Juni 2019, dazwischen blieb er in Untersuchungshaft. Verhandelt wurde stets in großen Abständen von Wochen und Monaten, und nach jedem Prozesstag entschied das Gericht, dass Kavala »wegen Fluchtgefahr« im Gefängnis bleiben müsse.

Nun, es ist der 18. Februar 2020, wird erneut verhandelt, und diesmal ist einiges anders: Der Richter hat den Anwälten zuvor die Botschaft zukommen lassen, sie sollten ihre letzten Verteidigungsworte vorbereiten. Und der Europäische Gerichtshof hat schon im Dezember 2019 die sofortige Freilassung Kavalas verlangt. Die Straßburger Richter fanden in der Anklageschrift keinerlei Beweise für den Umsturzvorwurf. Immer wieder drängt der Richter an diesem Tag zur Eile, die Anwälte aber beklagen, dass alle von ihnen benannten Zeugen abgelehnt wurden. Als ein Anwalt sich das Wort nicht nehmen lassen will, weist der Richter ihn aus dem Saal. Polizisten versuchen, den Juristen mit körperlicher Gewalt hinauszueskortieren. Dagegen protestieren viele Zuschauer lautstark. Polizisten bauen sich vor dem Publikum auf, der Richter will die Besucherbänke räumen lassen. Einige Zuschauer stehen auf, bereit, den Saal zu verlassen, viele aber bleiben sitzen. Bevor die Situation eskaliert, verzichtet der Richter auf die Räumung.

Einer der Angeklagten – er ist selbst Anwalt – nennt in seinem »letzten Wort« die ganze Anklage ein »schmutziges Lügenbündel«. Er erinnert daran, dass die Vorwürfe von Ermittlern zusammengetragen wurden, die inzwischen selbst verurteilt sind, wegen Aktivitäten für die Gemeinde des Predigers Fethullah Gülen, der von Erdoğan für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich gemacht wird und nun Staatsfeind Nummer eins ist. So absurd ist das alles. Eine Angeklagte sagt: »Ich habe überhaupt nichts verstanden«, sie fühle sich in diesem Prozess »wie in einem Raumschiff«. Das Gericht zieht sich dann zurück, davor hat der Staatsanwalt noch einmal lebenslange Haft für Kavala und zwei weitere Angeklagte verlangt sowie mehrjährige Haftstrafen für viele der übrigen Beschuldigten.

Was dann passiert, ist eine Sensation. Die Pause ist kurz, die Angeklagten sind aufgestanden, um das Urteil entgegenzunehmen, und der Richter murmelt seine Entscheidung herunter, so hastig, als würde er auf das Luftholen verzichten. Es dauert einige Sekunden, bis die Botschaft auf den Zuschauerbänken angekommen ist, weil sie fast niemand erwartet hat, nicht an diesem Tag, nicht von diesem Gericht: Freispruch für alle! Aus Mangel an Beweisen. Im Saal bricht Jubel aus. Minutenlanger Applaus, Tränen, Umarmungen. In der Mitte der ersten Zuschauerreihe steht Ayşe Buğra, Kavalas Frau. Sie ist klein, schmal, dunkelhaarig. Sie hat an keinem Prozesstag gefehlt und musste diesen Saal bislang stets ohne Hoffnung verlassen. Nun strahlt sie, wird von Freunden umringt, umarmt, beglückwünscht. Osman Kavala hat sich da schon wieder zum Publikum umgedreht, auch er winkt, im Gesicht ein Leuchten. Dann führen ihn die Beamten erneut ab, über die Rampe in den Untergrund. Vor der Entlassung werden Häftlinge noch einmal ins Gefängnis gebracht, sie müssen ihre Zelle räumen, zusammenpacken.

Die Zuschauer strömen ins Freie, viele fallen sich erst draußen vor dem Saal in die Arme. Reporter sprechen in Kameras, ausländische Diplomaten geben Kommentare der Erleichterung ab. Kavala wird da schon zu einem Arzt außerhalb des Gefängnisses gebracht, der bescheinigen soll, dass er in der U-Haft keinen Schaden genommen hat. Auch das ist Routine. Dann müsste er eigentlich für die formelle Entlassung zurück nach Silivri. Doch der Minibus nimmt einen anderen Kurs – zur Anti-Terror-Polizei in Istanbul. Dort eröffnet ihm ein Staatsanwalt, dass ein neuer Haftbefehl gegen ihn vorliege und er erneut festgenommen sei. Diesmal wegen angeblicher Beteiligung am Putschversuch von 2016. Von Sympathien des Mäzens für den Prediger Gülen, der hinter dem Putschversuch stecken soll, ist nichts bekannt, im Gegenteil: Kavala hatte frühzeitig vor dessen Einfluss gewarnt. Die neuen Vorwürfe sind ebenso aus der Luft gegriffen wie die aus der Anklage, die sechs Stunden zuvor mit einem Freispruch vom Tisch gewischt worden ist. Kavalas Frau und seine Freunde erfahren das noch am selben Abend, nach ihrer Rückkehr nach Istanbul, von den Anwälten. Zwölf Stunden nachdem sie am Morgen nach Silivri aufgebrochen sind. Ob Freispruch oder Haftbefehl, nichts mehr ist berechenbar, die türkische Justiz ein Scherbengericht. So sagen es die regierungskritischen Kommentatoren. Kavalas Anwälte sprechen von einer »Form der Folter« durch die fortgesetzte Untersuchungshaft.

Von Regierungsleuten wird zur Rechtfertigung erzählt, die Türkei sei von Feinden umzingelt und ihre Gegner stünden im Westen. Ein Unternehmer und Mäzen, der mit westlichen Kulturinstitutionen kooperiert, gerät in diesem Gespinst aus Konspiration und Misstrauen unter Generalverdacht. Diejenigen aber, die da nicht mitmachen wollen und immer noch für eine pluralistische Türkei eintreten, sollen eingeschüchtert werden. Der Prozess gegen Kavala soll jene mundtot machen, die partout nicht den Mund halten wollen. In diesem Sinn war der Freispruch ein Unfall, ein nicht vorgesehenes Ereignis. Später erfährt man, dass dem Richter, der ihn fällte, beamtenrechtliche Untersuchungen drohen.

Im Dezember 2020 beginnt der zweite Prozess gegen Kavala. Dann wird im Januar 2021 auch der Freispruch von einem Berufungsgericht aufgehoben, über die erste Anklage soll erneut verhandelt werden. Schließlich werden beide Prozesse zusammengelegt. Da wird es sogar einem aus der Gründergeneration von Erdoğans Partei zu viel. »Nicht mal ein Kind« hätte die neue Anklage verfassen können, so lächerlich sei sie, schimpft Bülent Arınç, Ex-Parlamentspräsident und Präsidentenberater. Erdoğan distanziert sich sofort von seinem alten Mitstreiter, und Arınç tritt als Berater zurück. Mit einer Begründung für die Geschichtsbücher: »Unser Land muss sich entspannen und eine Lösung für die Probleme unserer Nation finden.«

In der Türkei gibt es viele Mäzene, meist Besitzer großer Industrie- und Handelskonglomerate. Sie stiften prachtvolle Museen, finanzieren Festivals und schmücken sich damit auch selbst. Kavala ist in diesem Kreis mit seiner Stiftung ein auffallend bescheidener Helfer. Statt Aufmerksamkeit fordernde Prestigeprojekte fördert er kleinteiliges zivilgesellschaftliches und kulturelles Engagement. Sein Interesse gilt den marginalisierten Kulturen, der kurdischen, der armenischen, den vertriebenen Griechen. Viele Kulturschaffende standen bei ihm Schlange, um ihn für ihre Projekte zu gewinnen. Sein Kunstraum »Depo« im einstigen väterlichen Tabaklager liegt in der Nähe der Hafenkais von Galata, ein Stück entfernt von der Vorzeigemeile İstiklal. Mütterlicherseits stammt die Familie aus osmanischem Adel. Wenn sein grauer Lockenschopf bei einer Vernissage oder einer Demo aus der Menge ragt, umgibt den Mann etwas Aristokratisches und gleichzeitig Studentisches. Kavala wurde 1957 in Paris geboren, in Istanbul besuchte er das renommierte Robert College, in Manchester studierte er Wirtschaftswissenschaften. Seine Frau ist eine angesehene Wirtschaftsprofessorin.

Anfang der 2000er Jahre traf ich beide zum ersten Mal, bei einem Frühstück von Freunden in Berlin. Die meinten, ich sollte Kavala kennenlernen, bevor ich nach Istanbul ginge. Was sie nicht sagten: Dass Kavala einer der wohlhabendsten und großzügigsten Mäzene der Türkei ist, und die beiden machten auch kein Aufhebens davon. Viele suchten später das Gespräch mit Kavala, europäische Regierungschefs, Kulturminister. Nicht lange vor seiner Festnahme hatten wir uns in Istanbul wieder einmal getroffen, zu einem Abendessen. Kavala sprach von einer Hetzkampagne, von Drohungen auch aus einer regierungsnahen Gruppe. Ob er nicht die Türkei verlassen wolle, fragte ich. Für einige Zeit? Er hätte in jedes europäische Land ausreisen können. Er sagte, er wolle in Istanbul bleiben, wo er gebraucht werde, von seiner Stiftung, von seinen Freunden.

Über seine Anwälte ließ Kavala im Januar 2020 der Süddeutschen Zeitung aus der Haft einen persönlichen Text zukommen. Darin schreibt er über eine globale Atmosphäre des »Postfaktischen«. Die Türkei sei nicht das einzige Land, in dem man damit leben müsse, dass Tatsachen nichts mehr gelten.

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