Kitabı oku: «Istanbul – ein Tag und eine Nacht», sayfa 3
8 Uhr
Saubermachen
Wer macht den Dreck weg? – İlker Aslan, der Bosporus-Reiniger
Sie kommen früh, denn wenn die Menschen den Dreck sehen, dann heißt es gleich wieder: Ihr arbeitet nicht! Dann sind sie schuld und nicht die, die den Dreck machen. Ein Stück Papier, eine Plastiktüte, achtlos auf einer Parkbank hinterlassen, und der Wind weht alles ins Meer. »Die Wellen nehmen es mit, es schwimmt überall.« İlker Aslan streicht seine feuerrote Krawatte auf der blütenweißen Hemdbrust glatt.
»Director of Marine Services« steht auf seiner Visitenkarte, links oben eingedruckt das Wappen der Stadtverwaltung, in Blau und Weiß, den Farben von Himmel und Wasser. Die Karte ist in Türkisch und Englisch. Auch das ist eine Botschaft. Wer für die Sauberkeit von 550 Kilometern Küste in Istanbul zuständig ist, der kann sich nicht den Luxus leisten, nur auf die Stadt zu schauen. Denn der Dreck und die, die ihn verbreiten, haben viele Nationalitäten. Tausende Tanker mit schwarzem Öl in ihren Riesenbäuchen und Containerfrachter mit haushohen Aufbauten fahren jedes Jahr durch den Bosporus. Sie sollten dies möglichst spurlos tun. Aber so ist es nicht immer. »Wenn sie hier illegal Abfälle oder Öl entsorgen, dauert es höchstens eine halbe Stunde, dann sind wir da«, sagt Aslan.
Sie haben schnelle Patrouillenboote, »wie ein Ferrari«. Mit denen können sie die Umweltsünder verfolgen. »Dann gibt es hohe Strafen, bis zu zwei Millionen Lira.« Um die 200.000 Euro. »Viele rufen uns dann an, sagen, dass wir nicht so viel Geld verlangen sollen, aber sie bekommen ihre Strafe.« Vor Aslans Bürofenster breitet sich das Istanbuler Häusermeer aus, das Verwaltungsgebäude aus Glas und Beton ist von Schnellstraßen umgeben, nicht von Schifffahrtsrouten. Dennoch hat Aslans Büro etwas von der Kommandozentrale eines Kapitäns. Eine Landkarte bedeckt fast eine ganze Wand, mit viel hellem Blau im Norden und im Süden, dort, wo sich Schwarzes Meer und Marmarameer befinden. Dazwischen liegt wie ein breiter Gürtel die Istanbuler Landmasse, getrennt durch einen schmalen Riss. Das ist der Bosporus. Gut dreißig Kilometer lang. Nimmt man ein wenig Abstand von der Karte, sehen die beiden Landmassen entlang der Wasserstraße aus wie zwei Riesenfischköpfe, die sich gegenseitig belauern. Man erkennt aber auch, dass die zwei Küstenlinien perfekt ineinanderpassen würden, so als seien Europa und Asien vor Tausenden von Jahren an dieser Stelle sauber auseinandergebrochen. Weit entfernt voneinander haben sie sich nicht: Der Bosporus ist zwischen 700 und 2500 Metern breit, und voll gezackter Kurven. Zwölfmal müssen die Schiffe bei der Passage durch die Meerenge ihren Kurs ändern, einmal um 45 Grad.
Aslan zeigt mit einer Handspanne auf der Karte Entfernungen an und folgt mit den Fingern den Küstenlinien. Von der östlichen Stadtgrenze bei Tuzla auf der asiatischen Seite des Marmarameeres bis hinein in die Stadt, zum historischen Bahnhof Haydarpaşa, einst Ausgangspunkt der Anatolischen Eisenbahn und heute stillgelegt, weil die Hochgeschwindigkeitszüge nach Ankara neue Gleise haben. Dann springt Aslan auf die europäische Seite des Meeres, setzt die Hand in Silivri an, dort, wo das zu trauriger Berühmtheit gelangte Gefängnis liegt, und lässt seine Finger schließlich auf dem Topkapı-Palast ruhen. »Wir sind rund um die Uhr beschäftigt, wenn wir uns zurücklehnen, schaffen wir unsere Arbeit nicht.«
Noch ein schneller Sprung auf der Karte ans Schwarze Meer, und zurück geht es mit dem Zeigefinger durch den Bosporus bis zum Goldenen Horn, um die 550 Kilometer Küste einmal ganz zu bewältigen. Das Goldene Horn hängt wie ein gebogener Wurmfortsatz am Südende des Bosporus. Die Istanbuler nennen den Wasserarm Haliç, also Bucht oder Mündung, weil hier zwei Flüsse in einem gemeinsamen Delta in den Bosporus münden. In den goldenen Zeiten des Byzantinischen und des Osmanischen Reichs hatte das sieben Kilometer lange Wasserhorn als natürlicher Hafen große Bedeutung. Im 20. Jahrhundert war es lange Zeit nur eine Kloake, das Wasser stank bestialisch. Inzwischen sind die Industriebetriebe am Ufer verschwunden, es gibt Grünanlagen, Picknick- und Kinderspielplätze. In der 1455 auf Befehl von Sultan Mehmed II. errichteten Haliç-Werft werden keine Kriegsschiffe mehr gebaut, sondern nur noch die alten Bosporus-Fähren aufgebockt und gewartet.
Nicht weit von der Werft entfernt machen jene Schiffe fest, über die İlker Aslan das Kommando führt. Sie scheinen auf dem Meer zu schweben, wie große Insekten. Statt eines Bugs haben sie blaue Schaufeln. Aslan tippt auf seinem Computer ein Video an, es zeigt, wie so ein Müllsammelschiff den auf dem Wasser schwimmenden Dreck abfischt. Ein Dutzend Saubermannschiffe hat seine Behörde, sie werden in der Türkei gebaut. Aslan hätte gern noch mehr. »Wir haben auch Drohnen und über neunzig Kameras, mit denen wir die Küsten beobachten.« Für das Drohnen-Projekt habe die Stadt 2020 eine europäische Auszeichnung bekommen. Aslan ist stolz darauf. Und was holen sie nicht alles aus dem Wasser! Plastikflaschen, Verpackungen, Riesenhaufen, wenn man alles zusammenschiebt. »Die Leute haben immer noch nicht gelernt, das Meer sauber zu halten. Sie werfen etwas auf die Straße und vergessen, dass der Wind es ins Wasser fegt.« Auch der Kunstdünger aus Gärten und Parks ist ein Problem. Der Regen trägt ihn ins Meer. »Organischer Dünger sinkt auf den Boden, Kunstdünger schwimmt.« Auf den Straßen, sagt Aslan, sei das mit dem Müllsammeln einfacher als im Meer. »Bei hohem Wellengang können wir nicht rausfahren.«
Also was tun?
Aslan sitzt jetzt kerzengerade hinter seinem Schreibtisch. »Es ist keine Lösung, wenn wir noch mehr arbeiten, die Menschen sollen weniger Schmutz hinterlassen.« Klingt schlicht, scheint aber schwer. »Umweltbewusstsein soll zu einer Kultur werden«, wünscht sich İlker Aslan. »In der Zeit der Pandemie mit all den Ausgangssperren war das Wasser auf einmal ganz klar, und wir haben wieder viel öfter Delfine im Bosporus gesehen.« Taucher fanden allerdings am Meeresgrund dann auch Maskenmüll und Plastikhandschuhe.
Bevor İlker Aslan im April 2020 Chef der Marine Services wurde, war er im Stadtteil Beylikdüzü für den Umweltschutz zuständig. Beylikdüzü liegt fast am Stadtrand, ist aber ziemlich bekannt geworden, weil hier die Karriere des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem İmamoğlu begonnen hat. İmamoğlu von der säkularen Republikanischen Volkspartei, der CHP, war dort Stadtviertelbürgermeister. Er setzte sich 2019 in einer spektakulären Doppelwahl als OB der Sechzehn-Millionenmetropole durch. Ein Vierteljahrhundert hatten Recep Tayyip Erdoğan und die Konservativen die Macht in der Stadt. Im Rathaus von Istanbul hatte 1994 die Karriere des heutigen Präsidenten begonnen. Seine Partei sorgte dafür, dass die Kommunalwahl 2019 in Istanbul innerhalb von drei Monaten gleich zweimal stattfinden musste. Das erste Ergebnis ließ Erdoğan anzweifeln. Da war der Vorsprung von İmamoğlu noch seidenfadendünn. Erdoğan gab erst klein bei, als İmamoğlu beim zweiten Mal mit einem Abstand von 800.000 Stimmen uneinholbar vorne lag. Ein Erfolg ohne Beispiel, an dem auch eine rechtsliberale Partei und die linke prokurdische HDP mitwirkten. İlker Aslan nennt İmamoğlu »Ekrem Bey«, Herr Ekrem. Im Türkischen klingt das sowohl vertraut wie ehrerbietig. »Ekrem Bey hat mir gesagt, ich brauche dich.« Der OB suchte einen Saubermann, auf den er sich verlassen konnte, und je länger man Aslan zuhört, desto besser versteht man, dass es hier um mehr geht als um das Wegräumen von Plastikflaschen. Eher um ein Großreinemachen.
Ist ja eigentlich auch klar. 25 Jahre Vorherrschaft einer einzigen Partei gehen an keiner Verwaltung spurlos vorüber. Da gibt es Seilschaften und politische Gefälligkeiten, zumal wenn der mächtigste Mann im ganzen Land auch in der Stadtverwaltung Hinz und Kunz kennt. Gewöhnlich sitzt die Regierung in Ankara ohnehin am längeren Hebel, sie kontrolliert die großen Geldströme. So musste İmamoğlu gleich nach der Wahl feststellen, dass die Staatsbanken der Stadt selbst für »tägliche Routinebedürfnisse« keine Kredite mehr gewähren wollten. Der OB fand zur Fertigstellung bereits begonnener U-Bahn-Strecken dann Unterstützung bei europäischen Banken.
Zwei Monate nach seinem Einzug ins Istanbuler Rathaus traf ich den neuen OB zu einem Interview. Da erzählte er von »Bankautomatenangestellten«, die nichts weiter taten, als regelmäßig ihr Gehalt abzuholen. Von religiösen Stiftungen, die Millionenzuwendungen erhielten, von üppigen Dienstwagenverträgen. Hunderte überflüssige Dienstwägen stellte die Stadt dann zur Schau. Geparkt in langen Reihen am Marmarameer, auf einem Riesengelände, das Erdoğan für seine Großauftritte hatte aufschütten lassen. Hier schwebte der Präsident im Wahlkampf mit dem Hubschrauber ein, wenn der Platz voll war. Eine ganze Flotte städtischer Busse brachte Beamte und Angestellte zu diesen Kundgebungen. Diese Busflotte kann Erdoğans Partei nun nicht mehr kommandieren.
»Istanbul, das bedeutet die Hälfte der Türkei«, sagt İlker Aslan. Ganz stimmt das nicht, denn die Türkei hat 83 Millionen Einwohner und Istanbul offiziell sechzehn, womöglich auch siebzehn Millionen oder mehr. So genau weiß man das nicht. Die Stadt ist das geschäftliche Zentrum des Landes. Und so ist Aslans Behauptung eine Abwandlung des Erdoğan zugeschriebenen Leitsatzes: »Wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei.« İlker Aslan sagt, er wünsche sich, dass der 1970 geborene İmamoğlu auch einmal Präsident werde, wie der 1954 geborene Erdoğan, dessen Karriere ja auch in Istanbul begonnen hat. »Wir haben eine große Verantwortung«, sagt Aslan. Das heißt wohl auch: Es muss klappen mit dem Großreinemachen. Gar nicht so einfach.
Aslans Behörde ist auch für die Instandhaltung der Atatürk-Brücke zuständig, eine 477 Meter lange sechsspurige, viel befahrene Auto- und Fußgängerbrücke über das Goldene Horn. »Da waren Risse, verrostete Teile, als ich übernommen habe. Ich habe die Leute hier gefragt, warum habt ihr nichts gemacht, habt ihr geschlafen?« Tagelang habe man gearbeitet, um das Nötigste zu erledigen. Eine Generalsanierung der Brücke würde viele Millionen kosten, sagt Aslan, »und in der Stadtverwaltung bräuchten wir überall Geld«. Deshalb hat er einen Brief geschrieben, er zieht das Papier aus einer Schublade seines Schreibtischs.
Der Brief ist adressiert an Thyssenkrupp in Deutschland, das Istanbuler Wappen wieder oben links. In dem Schreiben heißt es, die Atatürk-Brücke sei 1937 in einer Partnerschaft der Stadt mit dem M. A. N. Werk Gustavsburg und Krupp entstanden, seither sei sie in Benutzung. Man hoffe auf eine erneute »Zusammenarbeit«, um die »Lebenszeit« des wichtigen Bauwerks zu verlängern. Es ist eine höflich formulierte Anfrage, man könnte sie auch als Hilferuf lesen. Beigelegt sind historische und aktuelle Fotos, eine handgeschriebene Konstruktionsanweisung von 1937, auf Deutsch und Französisch. Es geht um »Stützdrücke« und »Einsenktiefen der Pontons«. Aslan sagt, »ich denke, sie werden uns helfen, die Brücke ist ja von ihren Großvätern gebaut worden«.
İlker Aslans Familie stammt aus Sivas, das liegt etwa in der Mitte der Türkei. »Wir sind Anatolier.« Der Vater ging nach Istanbul, um ein besseres Leben zu finden, hier wurde İlker Aslan 1984 geboren. Der Vater hatte einen Lebensmittelladen. »Er öffnete um acht Uhr morgens und arbeitete bis abends, ohne Urlaub.« Als Kind half der Sohn im Laden mit. »Mein Vater hat mir gesagt, wenn du nicht studierst, wirst du ein Mann wie ich.« İlker Aslan studierte in Istanbul erst Ingenieurwissenschaften, nach seinem Militärdienst noch Betriebswirtschaft und erwarb einen Doktorgrad. »Ich bin sehr diszipliniert, manche Leute sagen, ich sei hart.« Auf einem stummen Diener in einer Ecke des Büros hängt Aslans blaues Jackett, darunter das Fantrikot eines Istanbuler Fußballclubs. Er ist Kickboxer, Schwimmer, keiner, der sich auf einem Bürostuhl ausruht. Das schwarze Haar trägt er straff zurückgekämmt. Er wäre gern zur Marine gegangen, aber er wurde Offizier bei einem Bergkommando. Es wäre ihm damals nicht in den Sinn gekommen, dass er noch auf dem Meer landen würde. »Man weiß ja nie, was das Leben bringt.«
Etwa 900 Leute hat er in seiner Behörde. Er hätte gern mehr. Manchmal, sagt er, wünsche er sich einen einfacheren Job, »denn hier kann ständig etwas passieren«. Zum Beispiel die Sache mit den Schmugglern. Da gibt es eine bekannte Stelle am Marmarameer, auf der europäischen Seite. »Dort passiert viel Illegales.« Menschenschmuggel, Drogenschmuggel auf Schiffen. »Da ist es einfach zu flüchten.« Er war noch nicht lange im Amt, da wollte er auch dort groß aufräumen. »Vier Tage bin ich nicht nach Hause gefahren.« Dann tauchten im Küçükçekmece-See am Rand von Istanbul plötzlich tonnenweise tote Fische auf. »Das war Sabotage, sie wollten mich loswerden.« Die toten Fische wurden im Fernsehen gezeigt, riesige Mengen. Gruselig. »Da fragten alle, wo ist der zuständige Mann?« Es ging um Korruption, sagt Aslan, »das ist wie ein innerer Krieg«. In der Verwaltung. »Aber wir machen weiter, ohne Angst.«
Fragt man İlker Aslan, was ihn motiviert, dreht er sich auf seinem Stuhl Richtung Fenster. Davor, auf einer Ablage, liegen wie Ausstellungsstücke Dinge, die ihn an sein früheres Leben erinnern, die Offizierskappe und ein dickes Buch: die auf 900 Seiten gedruckte Vermächtnisrede des Republikgründers Kemal Atatürk vor den Delegierten des zweiten Parteitags seiner Cumhuriyet Halk Partisi, der CHP, im Oktober 1927. »Das motiviert mich«, sagt Aslan, »ich will der nächsten Generation eine schönere Türkei hinterlassen.« Er nimmt sein Handy, zeigt ein Foto seiner kleinen Tochter. »Meine Frau ist in London geboren und aufgewachsen, sie ist auch Türkin und hat dort die Polizeiakademie absolviert. Sie ist also eine ehemalige Polizistin und ich bin ein ehemaliger Soldat.« Seine Frau arbeitet in Istanbul nun als Englischlehrerin. »Ich fahre meine Tochter zum Kindergarten, und wenn ich abends nach Hause komme, sind alle schon eingeschlafen.«
Im öffentlichen Dienst werde man nicht reich, sagt Aslan. Er nimmt wieder sein Handy, tippt auf dem Taschenrechner sein Monatsgehalt ein und rechnet es um: 1600 Euro. »In Deutschland würde ich wahrscheinlich dreimal so viel verdienen, also wegen des Geldes kann man diese Arbeit nicht machen.« Er lacht, sagt: »Ein Held zu sein hat seinen Preis.« Dann, wieder ernst: »Wir haben hier wirklich eine Ruine übernommen, wir tun das für unser Land, für die Fahne.« Manche Leute würden ihm nachsagen, er habe eine große Klappe. »Aber sie können nicht sagen, dass ich korrupt bin. Ich weiß, der Stuhl, auf dem ich sitze, gehört nicht mir. Es gibt viele Leute wie mich, die man gewöhnlich nicht kennt, wir sind jung, wir werden Stufe um Stufe aufsteigen.«
Wo in Istanbul ist er aufgewachsen? »In Küçükçekmece.« Dort, wo sie ihm die toten Fische ins Wasser gekippt haben. Ein Kleineleuteviertel. »Es ist eigentlich Provinz, mit der Bourgeoisie hat man dort nichts zu tun.« Den Bosporus hat er in seiner Jugend selten gesehen. »Der war weit weg und wir hatten nicht so viel Geld.« Im See von Küçükçekmece soll der »Zweite Bosporus« enden, den Erdoğan parallel zur natürlichen Wasserstraße bauen will. »Ein verrücktes Projekt«, hat Erdoğan diesen »Kanal Istanbul« einst selbst genannt, was ihn nicht davon abhält, die Idee seit Jahren zu verfolgen. Schon osmanische Sultane träumten vom kontinentalen Umbau, von Kanälen, die das Land durchstechen. Umweltexperten warnen, das Megaprojekt gefährde die ohnehin prekäre Wasserversorgung der Metropole, die Speicherseen in der Nähe der Kanalstrecke würden entweder vernichtet oder versalzen.
An den Schiffsanlegern in Istanbul liegt eine Broschüre der Stadtverwaltung aus, mit dem Bild des Bürgermeisters und Argumenten gegen den Kanal. Auch Aslan sagt: »Der Kanal ist falsch.« Erdoğan verweist auf die Gefahren durch den stetig wachsenden Schiffsverkehr. Seine Gegner dagegen sagen, der Regierung gehe es vor allem um neue Satellitenstädte entlang der künstlichen Wasserstraße. Viele Grundstücke seien längst an reiche Investoren aus den Golfstaaten verkauft. Ob der Kanal noch zu verhindern ist? Aslan sagt: »Wir tun unser Bestes.«
Hat er noch einen Zukunftswunsch? »Ein Istanbul mit weniger Verkehr.« Und für das Meer? Dass der Bosporus so sauber wird, dass man darin schwimmen mag? So wie es alte Istanbuler erzählen, die an Wochenenden mit Picknickkörben ans Ufer zogen und in die Fluten sprangen. »Ich glaube, das werden wir schaffen, für das Meer, für unsere Kinder. Dass sie sagen können: Schau mal, da sind Delfine!« Auf Türkisch heißt der Delfin Yunus, also Jonas oder Jona – ein Prophet für Muslime wie für Christen. Der Legende nach wurde Jonas von einem Wal verschluckt und wieder ausgespuckt. Auch auf osmanischen Darstellungen sieht man die eleganten Tiere. Aslan strahlt jetzt, als hätte er gerade einen Delfin vor Augen: »Ich möchte ein Istanbul, in dem die Menschen Ruhe finden und lächeln.«
9 Uhr
Treppensteigen
Siebter Stock ohne Aufzug – Der Architekt Erdoğan Altındiş spricht über Aufgänge und Abstürze
Diese Treppen sind wie Schneckenhäuser, sie winden sich spiralförmig nach oben, himmelwärts. Erdoğan Altındiş setzt eine Krücke auf eine Steinstufe, dann die andere, zieht sich hoch. Stufe für Stufe. Der Architekt braucht zum Treppensteigen die Kraft seiner Arme, seine Beine gehorchen ihm nicht.
Dies ist die Geschichte eines Mannes, der sagt: »Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt.« Sie erzählt von Selbstüberwindung, Angst und Ehrgeiz, vom Aufstieg und vom Fallen, wie könnte es auch anders sein in den Schwindel erregenden Höhen, in denen sich Altındiş bewegt.
Siebter Stock ohne Aufzug. Oben angekommen steckt der Architekt einen Schlüssel in das Schloss einer Stahltür. Es empfängt einen taghelle Wärme. Das Licht fällt durch Fenster von allen Seiten und durch ein Stück Glas im Fußboden. Altındiş eilt voraus, vorbei an Kanapees mit Kissen in Rot und Orange, er öffnet die Terrassentür mit einem Ruck. Ein Schritt nach draußen und sofort stellt sich ein Gefühl von Schwindel ein. Es wird abgelöst von Ergriffenheit. Der freie, weite Blick auf den Bosporus und das Marmarameer nimmt einem für einen Moment fast den Atem. Am Horizont ragen unter leichtem Dunst die Prinzeninseln auf. Richtet man den Blick in die Tiefe, auf abenteuerlich in der Luft schwebende Balkone und Terrassen, voll mit Plastikstühlen und Blumentöpfen, dann weiß man, hier strebt alles zum Licht.
Altındiş atmet tief ein. »Schön«, sagt er. So oft kommt er nicht mehr hier herauf, aber er kann immer noch staunen, wenn ihm Istanbul zu Füßen liegt. Als er Mitte der 1990er Jahre diese Wohnung kaufte, weinte seine Mutter und sein Vater sagte: »Oh Sohn, warum schmeißt du dein Geld auf die Straße?« Wohnungen in den oberen Stockwerken galten als uninteressant, wegen der vielen Treppen, und die Gassen um den Galataturm hatten einen schlechten Ruf. »Es war schmutzig, eine No-go-Area.« Für die neunzig Quadratmeter in schlechtem Zustand bezahlte er 27.000 Mark. Ein Vierteljahrhundert später ist die Dachwohnung ein Vielfaches wert. Galata ist inzwischen touristische Kernzone. Wenn die alten liftlosen Häuser heute den Besitzer wechseln, wird nicht in türkischer Lira, sondern in US-Dollar gerechnet. Altındiş hat den Aufschwung miterlebt, »und ich muss sagen, wir haben ihn mitgeprägt«.
Wenn er »wir« sagt, meint er sich und seine Frau Gabi, mit der er ein Unternehmen gegründet hat, das den Ausblick, türkisch manzara, zum Markennamen machte. Sie haben Wohnungen in den obersten Stockwerken, die lange keiner haben wollte, langfristig gemietet, sie in bewohnbare Schmuckstücke verwandelt und an Touristen vergeben, die für den freien Blick das Treppensteigen in Kauf nahmen. Airbnb war noch keine Konkurrenz. Sie waren Pioniere, hatten bald Gäste aus New York, Berlin, Paris und Rom, viele Künstler, Architekten, Galeristen. Istanbul war da gerade zur Partyzone Europas geworden. Es war die Ära des Aufbruchs und die Stadt eine unbekannte, aufregende Schönheit, die es zu erobern galt. Altındiş war der Fremdenführer für seine Gäste durch das Abenteuer Istanbul. Es ist, als wäre das eine Ewigkeit her.
Er sperrt die Stahltür wieder ab und hangelt sich die steile Treppe hinunter. Auf der Straße sagt er: »Im Nachhinein muss ich sagen, ich bin glücklich, dass wir das erlebt haben, es war ein Geschenk.« Die Veränderungen waren schmerzhaft, und der Schmerz kam in Wellen. Erst die Niederschlagung der Gezi-Proteste 2013, da blieben schon die ersten Gäste weg. Dann Anschläge, der Putschversuch im Juli 2016. Verhaftungen, der Syrienkrieg – und dann noch die Pandemie. Da wollte oder konnte kaum noch jemand reisen. »Das hat mich traurig gemacht, wir wollten doch Brückenbauer sein, wir hatten so eine Art Mission im Kopf.« Um zu verstehen, was diesen Mann antreibt, muss man seine Geschichte kennen. Er eilt wieder voraus, setzt die Krücken auf das buckelige Straßenpflaster. Es ist nicht weit bis zu der Wohnung, in der er jetzt mit seiner Frau lebt. Wieder in einem alten Haus und ziemlich weit oben, aber hier wird gerade ein Lift gebaut.
Aus der Wohnung dringt Bratenduft. Erdoğan Altındiş sagt: »Wenn Gabi Heimweh hat, gibt es Spätzle.« Erst einmal aber gießt Gabi Kern-Altındiş Kräutertee in große Tassen und erzählt, wie sie aus dem Schwarzwald nach Istanbul kam. »Meine Eltern waren sehr konservativ, aber meine Mutter hat mir immer gezeigt, dass alle Menschen gleich sind.« Gabi und Erdoğan sind beide 1963 geboren. Auch in seiner Heimat, der zentralanatolischen Provinz Kayseri, sind die Menschen konservativ. Im Alter von einem Jahr erkrankte er an Kinderlähmung. Seine Mutter sagte ihm später, als Baby konnte er nur etwa einen Monat laufen. Damals wurde bereits gegen Polio geimpft, aber nicht überall. »Ich weiß nicht, warum ich nicht geimpft wurde, vielleicht lag es an den Umständen. Mein Vater war immer auf Baustellen unterwegs, meine Mutter war ein Mädchen vom Lande, abhängig von ihrem Bruder, der sie oft drangsaliert hat.« In der Türkei gab es damals noch viele Polio-Fälle.
Erdoğan ist in der Türkei ein Vor- und ein Nachname. Wörtlich übersetzt ist das der »tapfer Geborene« oder der »als Kämpfer Geborene«. Hört man Altındiş eine Weile zu, wirkt die Namenswahl seiner Eltern hellseherisch. »Meine Mutter hat mich auf ihrem Rücken in die Schule getragen, und sie hat den Schuldirektor überredet, dass mein Bruder ein Jahr früher eingeschult wird, damit er mich begleitet.« Aber der Bruder wollte nicht. »Irgendwann hat sich das dann so entwickelt, dass ich mit einer Krücke laufen konnte.«
Vier Jahre besucht er die türkische Volksschule und wird dann in die Sommerferien zum Vater nach München geschickt. Der ist nun Gastarbeiter in Deutschland und lebt mit anderen Bauarbeitern in einer Barackensiedlung am Stadtrand. Dort landet der Zehnjährige zwischen Stockbetten und Metallspinden. Die Arbeitskollegen des Vaters verwöhnen ihn mit Schokolade und Fernsehen, Lassie und Bonanza. »Ich hatte eine tolle Zeit.« Der Vater hat ihn nach München geholt, weil er hofft, Ärzte könnten ihm hier besser helfen als in der Türkei. Er wird in einer Münchner Kinderklinik dann zweimal operiert, erfolgreich, sagt er. Türkische Putzfrauen im Krankenhaus trösten ihn über das Heimweh hinweg. Mit einer Gipsschale für die Nächte wird er entlassen, ins Barackenlager. Dort erscheint eines Tages eine Mitarbeiterin des Jugendamts und sagt etwas wie: »Nix gut du hier sein.« Sie bringt ihn in die Landesschule für Körperbehinderte. »Ich hatte wieder Glück.«
Er lernt schnell Deutsch, und wenn ihn die Sehnsucht überwältigt, wählt er sich im Wohnheim die Finger wund, bis er die Stimme der Mutter hört. In der Münchner Stiftung Pfennigparade, die in den 1950er Jahren als Bürgerbewegung zur Polio-Bekämpfung entstand, besucht er eine Fachoberschule. Der »Mutige« gewöhnt sich bald an das Hin und Her zwischen der Schule in München und den Sommerferien in Kayseri. Weihnachten erlebt er im tief verschneiten Bayerischen Wald bei der Familie eines schwer körperbehinderten Wohnheimfreundes.
In München studiert er später Architektur. »Ich bin ziemlich bayerisch geprägt.« Dem Vater ist er bis heute dankbar, dass er ihn nach Deutschland geholt hat. Daraus ist dann seine »Mission« geworden, Deutsche und Türken anzustecken mit seiner Neugier auf den jeweils anderen. »Nun hat sich leider die Welt komplett verändert«, sagt Gabi Kern, »es gibt ja keine Zwischentöne mehr, es gibt nur noch Schwarz und Weiß.« Sie hätten weggehen können, als kaum noch Gäste kamen, »aber wir haben ja eine Verantwortung übernommen, auch für unsere Mitarbeiter, und wir sehen immer noch das Potenzial, das es hier gibt«, sagt Gabi. Und ihr Mann fragt sich, »woher haben wir damals eigentlich die Energie genommen? Wir haben ja immer weitergemacht.« Sie sagt: »Wir haben uns gegenseitig Kraft gegeben.«
Gabi war Gast in einer Manzara-Wohnung, bevor sie sich kennenlernten. Sie fand, dass sie einen ähnlichen kreativen Stil haben, wenn sie alte Bausubstanz mit aufregender neuer Architektur verbinden. Auch Gabi Kern ist Architektin. Sie war jahrelang Bauleiterin in München. Man kann sich das so vorstellen: eine kleine Frau mit hellbraunen Haaren, die Männern auf Baustellen Befehle gibt. »Das kennt man ja, man muss als Frau oft das Doppelte bringen, um die halbe Anerkennung zu bekommen.« Auch das Kämpferische verbindet die beiden. 2008 haben sie geheiratet. Er sagt: »Ich habe als Kind in Kayseri immer diese mitleidigen Blicke gespürt. Ich wollte immer selbstbestimmt sein und es zu etwas bringen.«
Es gibt ein Kinderfoto, es zeigt sechs Jungs in Kayseri, auf dem Schutt alter armenischer Häuser. Ein Kind trägt ein T-Shirt mit türkischer Flagge. »Trümmer zu verkaufen« steht auf einer Mauer. Altındiş hat das Foto aus seiner Kinderzeit 2019 in einer Ausstellung in Istanbul gezeigt. Es ist für ihn »eine Mahnung für den Umgang mit Minderheiten«. Die Ausstellung war so etwas wie der Versuch, sich selbst aus einer Depression zu befreien. Er hat auch Papierdrachen gebaut und sie über einer Istanbuler Passage aufgehängt. Drachen steigen zu lassen im trockenen Wind Anatoliens ist ein beliebtes Kinderspiel. Ausstellungsbesuchern hat er einen Pinsel in die Hand gedrückt, sie zum Malen aufgefordert. Er malt auch, großformatige Bilder, in denen man bisweilen etwas von der Silhouette Istanbuls ahnt. Fantasie, sagt er, »kann mehr bewegen als direkte Konfrontation«.
Ihre Firma haben sie verkleinert. Gabi Kern gestaltet jetzt Sitzmöbel, lässt alte Sessel mit farbigem Samt überziehen, Türkis und Orange. Nur auf bessere Zeiten warten, das kann sie so wenig wie er. »Ich komme aus einer Handwerkerfamilie, ich bin mit Holz groß geworden.« In Istanbul hat sie sich vom rechten Winkel verabschiedet, sie lernte, »dass Wände rund sein dürfen und die Farbpalette schier unerschöpflich ist«. Anfangs, sagt sie, »musste ich auch schlucken und habe manchen Kulturschock erlebt«. Aber lebendig habe sie sich in diesen Kämpfen gefühlt. Die Blicke der beiden treffen sich. Sie hatten auch ihre Kämpfe miteinander.
Die Ausstellung hat er damals in einem Prachtbau an der Einkaufsmeile İstiklal gezeigt, der Suriye Pasajı. Das Gebäude heißt so, weil es 1908 ein gewisser Hasan Halbuni Paşa aus Syrien erbauen ließ. Eines der ersten Kinos der Türkei befand sich darin. Die beiden haben in dem Haus in einem der oberen Stockwerke schöne Räume gemietet, in denen sie früher Feste gefeiert und Gäste bewirtet haben. »Um 12 Uhr mittags halte ich dort immer einen Moment inne, dann höre ich den Glockenschlag der benachbarten Kirche. Wenn die Glocken einmal nicht mehr läuten sollten, würde ich mich fragen, ob ich hier noch richtig bin«, sagt Erdoğan Altındiş. Er macht eine Pause. »Aber sie läuten noch.«
2023 wird es hundert Jahre her sein, dass mehr als eine Million griechisch-orthodoxe Christen die gerade gegründete Türkei verlassen mussten. Im Gegenzug wurden fast eine halbe Million Muslime aus Griechenland in die Türkei umgesiedelt. Dieser »Bevölkerungsaustausch« wurde von den Großmächten besiegelt. Sie hofften, beide Nationen, die sich zuvor erbittert bekriegt hatten, zu befrieden. Gabi und Erdoğan Altındiş beschäftigt diese leidvolle Geschichte, von der sie vorher nicht viel wussten, seit sie beschlossen haben, sich außerhalb von Istanbul eine Rückzugsmöglichkeit zu schaffen. So ist das in der Türkei: Man geht auf die Suche nach einem ruhigen Ort und stößt auf ein unbewältigtes Stück Geschichte. Ayvalık, wo sie ein Haus suchten, liegt an der Ägäisküste. Die Stadt mit etwa 70.000 Einwohnern ist bei Istanbuler Künstlern und Kreativen beliebt. Wegen des milden mediterranen Klimas und auch, weil das politische Klima nicht so rau, liberaler ist. Die griechische Insel Lesbos liegt in Sichtweite vor der Küste. Diese Küste hat schon viele Flüchtlingsdramen gesehen.
In Ayvalık lebten bis 1923 fast nur griechisch-orthodoxe Christen. Als sie das Land verlassen mussten, zogen in ihre Häuser aus Griechenland vertriebene Muslime. Aber einige Häuser blieben ungenutzt, verfielen. »Als wir das erste Mal in Ayvalık waren, haben wir gespürt, da gibt es viel Unausgesprochenes«, sagt Gabi, »ich hatte das Gefühl, da klebt Blut an der Erde.« Ihr Mann sagt: »Wenn ich davon erzähle, merke ich, wie mich das mitnimmt.« Sie restaurieren jetzt mehrere alte griechische Häuser, ergänzen sie modern. Zusammen mit Erdoğans über achtzigjährigem Vater und einem nicht viel jüngeren Onkel haben sie in einem Haus einen Terrazzoboden gelegt. Seit der Antike ist diese Technik bekannt. Aus kleinen Steinchen werden schöne Fußböden erschaffen. »Wir haben die ganze Insellandschaft vor der Küste als Mosaik auf den Boden gelegt«, sagt Erdoğan. Er hat an dieser Küste erlebt, wie nah sich Türken und Griechen nicht nur geografisch sind, sondern auch in der Alltagskultur, beim Essen, in der Musik.
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