Kitabı oku: «Hinkels Mord», sayfa 2
Ihre Augen suchten den gesamten Bahnhofsvorplatz nach einem Taxistand ab. Das Areal hier war sehr viel größer und lichter geworden, seit man die Straßenführung verändert hatte. Ein Taxi war dennoch nicht auszumachen, stattdessen zeigte die Anzeige vorne an der Bushaltestelle einen Bus zu den Lahnbergen an. Den würde sie wohl nehmen müssen. Zehn ewige Minuten Wartezeit.
Ein Typ mit langen Rastas saß wenige Meter entfernt auf der Bahnhofstreppe und trommelte auf einer Bongo. Die wilden Haare flogen ihm dabei um den Kopf, seine schlanken Arme steckten in einem weiten, bunten Hemd. Liva betrachtete ihn genauer. Das gab es doch gar nicht. Das war doch … »Gunnar?«
In Zeitlupe drehte der Typ den Kopf, die flinken Hände weiter am Instrument. Ein unsicheres Grinsen entstand, verging, bildete sich erneut. Der Typ stand unter Drogeneinfluss, so viel war klar. »Liv! Howdy?« Er grinste jetzt schief und schien sich gar nicht zu wundern, dass er sie hier traf. Für Gunnar, der in ihrer Nachbarschaft groß geworden war, bevor er als Jugendlicher in ein besetztes Haus an der Lahn gezogen war, war sie vielleicht nie weg gewesen.
Liva schaute nervös rüber zur Bahnhofsuhr. Noch acht Minuten, bis der verflixte Bus kam. Gerade wollte sie sich verabschieden, da versuchte Gunnar erneut ihre Aufmerksamkeit mit einem Trommelwirbel zu erreichen.
»Hömma, tut mir echt leid mit Alex. Ist jetzt fast auf den Tag drei Jahre her, oder?«
Erstaunlich, dass er sich nicht nur an ihren Bruder, sondern auch noch an das Datum seines Verschwindens erinnern konnte. »Das war’n feiner Kerl. Ich hab noch nie einen getroffen, der sich so gut mit der Marburger Geschichte und dem ganzen alten Kram auskennt. Voll der Nerd. Schad drum, echt. Aber gegen bad vibration kann man nix machen.« Gunnars helle, blaue Augen standen im krassen Gegensatz zu seinen großen, schwarzen Pupillen. »Bad vibration everywhere.«
»Was, wenn er noch lebt?«, entgegnete Liva trotzig. Es klang nicht sehr überzeugt. Schnell wandte sie sich ab. Fünf Minuten bis der Bus kommen würde. Eigentlich fehlten ihr gerade die Nerven für ein solches Gespräch. Während Liva sich anschickte, die Straße rüber zur Haltestelle zu überqueren, schien Gunnar ganz versunken in seine Erinnerungen und bemerkte nichts von ihrer Eile.
»Hab ihn ja noch kurz vorher getroffen. Waren wieder mal oben im Wald spazieren, haben ein Tütchen geraucht und rumphilosophiert. Ging in unseren Gesprächen viel um Schuld und Vergebung, den ganzen big stuff. Um Hater und Love, Selbsthass und Selbstliebe und so. Mega interessante Themen, aber schon harter Tobak, wenn man grade selbst am Wanken ist. Und wenn man nicht weiß, zu wem man gehört.«
Liva verstand jetzt gar nichts mehr von dem, was der Junkie da faselte. Der Typ schien ihr wirklich komplett durch den Wind und brachte offenbar einiges durcheinander. Der sprach doch nur von sich selbst – Alex hätte nie im Leben gekifft. Und gehörte ganz sicher nicht zu der Sorte Menschen, die nicht wussten, wer sie waren und wo sie hingehörten. Ganz im Gegenteil!
»Nur, wenn wir uns unserer Wurzeln bewusst werden, haben wir eine Chance, mit uns selbst in Frieden zu leben. Hat er gesagt. Immer wieder. Hat wohl geahnt, dass da was nicht stimmt. Alter, was für eine Geschichte. Crazy stuff!«
Liva sah, wie der Bus nun in die Bahnhofsstraße einbog und auf die Haltestelle zusteuerte. Sie hatte eh genug gehört. Nichts wie weg hier.
Als sie endlich auf einem der Fensterplätze im Bus Platz genommen hatte, schaute sie noch mal rüber zu Gunnar, der immer noch an seinem angestammten Platz auf dem Asphalt saß. »It’s a crazy world!«, krächzte er und hatte die Augen dabei fest geschlossen.
Eine Passantin schüttelte verächtlich den Kopf. Jemand wie Gunnar wurde hier geduldet, klar. Es gab genug Verrückte und Grenzgänger in der kleinen Stadt. Ernstgenommen wurden sie nicht. Liva ging der Typ dennoch nicht aus dem Kopf. Was hatte er damit gemeint, dass Alex immer schon geahnt hatte, dass etwas nicht stimmte?
12. September 1861, Oberstadt, Lorenz Reinhardt
Er war so schnell gerannt, wie ihn seine Füße mit den klobigen Schuhen tragen konnten. Den ganzen Berg durch den Wald hinunter, an Lederers Garten vorbei, durchs Kalbstor, die Kugelgasse lang rüber zum Markt. Es waren nur wenige Menschen so früh schon unterwegs, manche schliefen vielleicht noch selig, andere fütterten das Vieh.
Lorenz Reinhardt betrat mit eiligen Schritten das Eckhaus an der Reitgasse und bog ganz gegen seine Gewohnheit nicht zur Wirtschaft im Erdgeschoss ab, sondern nahm die steilen Treppen ins Obergeschoss, wo sich seit Jahr und Tag die Kurfürstliche Polizei-Direktion befand. »Esch häße Reinhard«, keuchte er mit hochrotem Kopf. »Forstläufer. Mir hun e Leich obbe am Dammelsberch! Kumme se schnell!«
In der Amtsstube hatte der Regierungs-Polizeidirektor offenbar gerade seinen Dienst angetreten. Er schien sich über die überschwängliche Energie des jungen Mannes am frühen Morgen zu wundern, sicher hatte er wieder die halbe Nacht unten in der Gaststätte verbracht. Man munkelte schon länger, dass er ein Verhältnis mit dem Staatsprokurator habe und deswegen regelmäßig nach den Dienstbesprechungen noch auf ein paar Schnäpse beim Georg unten einkehrte, um später mit seinem Geliebten in einem Hinterzimmer zu verschwinden. Das passierte natürlich nicht täglich, aber schon hin und wieder. Manchmal, so unkten die Leute, lohne sich für ihn nicht mal mehr der Heimweg in sein windschiefes Häuschen zu seiner kugelrunden Frau unten an der Augustinertreppe.
»Jetzt mal langsam!« Betulich nahm der hohe Staatsbeamte erst einmal Platz und knöpfte in Ruhe seine Jacke auf. Dann suchte er gemächlich einen Stift und ein Blatt Papier auf dem zugemüllten Schreibtisch, auf dem sich Geständnisse und Zeugenaussagen stapelten.
Keiner Wunder, dachte Reinhardt, dass die Schuldigen der Massen-Schlägerei der betrunkenen Verbindungsstudenten am 1. Mai oder des Branntwein-Skandals vom Frühjahr noch nicht überführt waren. Was für eine abgründige Arbeitsmoral hier herrschte! Mitten auf allen Blättern und Kladden lag ein dickes, angebissenes Brot mit ahler Wurst. Unter anderen Umständen hätte er ihm das geneidet, heute war Reinhardt der Hunger wirklich vergangen.
»Eine Leiche also. Männlich, weiblich, tot oder lebendig?« Er lachte über seinen eigenen Witz.
Lorenz Reinhardt kratzte sich am Kopf. Er hätte es gleich wissen müssen. Der Alte war der falsche Ansprechpartner für einen solchen Notfall. Die Frau dort oben im Wald war übel zugerichtet worden. Alles blutverschmiert, und es saßen Tausende Fliegen auf ihren halbgeschlossenen Augen. Ihr Bauch hatte eine deutliche Wölbung, so als hätte sie ein Kind getragen. Reinhardt hatte sich ein ganzes Stück weiter unten im Wald gehörig übergeben müssen und stand unter Schock. Totes Wild hatte er ja schon oft geborgen. Ein totes Weib bislang noch nie.
»Es ess e Frah. Dos Gesicht is unkenndlich«, stammelte er jetzt. Er konnte die Schnapsfahne seines Gegenübers bis zur Tür riechen. »Isch kenne se nit. Esch mähn, s’ könnt ä Tagelöhnerin sain!«
»Sehr gut, Reinhardt. Das ist ein neuer Fall für die Kurfürstliche Polizeidirektion Marburg. Endlich mal was los in der Bude. Ich schreibe das jetzt alles genauestens auf, und Sie setzen Ihren Egon drunter. Dann sind wir schon einen großen Schritt weiter!«
»Egon?« Was wollte der von ihm? Der Mann dachte sicher, er sei was Feineres als er, nur, weil er kein Platt sprach.
»Na, Ihre Unterschrift, mein Lieber«, fügte der Beamte selbstgefällig hinzu. Und während er den Gerichtsdiener aus dem Vorzimmer herrief, um beim Kriminalgericht Meldung zu machen, schrieb er gleichzeitig dem Physikus Stadler eine Botschaft. »Jetzt fehlen nur noch die Männer aus der Anatomie in der Ketzerbach. Dann geht es los!«
»Häst dos, mir müsse noch wordde?«
»Eins nach dem anderen, nicht wahr? Entspannen Sie sich! Wenn schon die Fliegen da sind, liegt die Leiche eh schon ein paar Tage. Da kommt es auf ein paar Stunden jetzt auch nicht mehr an. Und wehe, wir finden dort oben nix. Sagen Sie es lieber gleich, wenn Sie heute Morgen schon einen über den Durst getrunken und sich das Ganze nur eingebildet haben.« Der Polizeidirektor brach in schallendes Gelächter aus. Dann nahm er sich das Brot vom Teller und biss herzhaft hinein. »Köstlich, Reinhardt. Es geht doch nichts über die ahle Wurst vom Liebig!«
2. Kapitel
Der weiße Verband verdeckte die langen, grauen Haare, die Theresa Lohrey sonst am Hinterkopf zum Knoten trug. Kaum sichtbar hob und senkte sich ihr Brustkorb. Sie lebte. Das war die Hautsache.
Liva starrte die Frau, ihre Mutter, einfach nur an. So fremd kam sie ihr vor, wie sie da lag, um Jahre gealtert. Jetzt nahm sie behutsam die kleine Hand der Patientin. Ob sie überhaupt etwas mitbekam? Konnten Komapatienten hören, riechen, fühlen, etwas empfinden?
»Mama.« Wie lange hatte sie dieses Wort nicht mehr gesagt. Liva kam sich seltsam vor. So klein und schutzlos, wie ein Kind, verkleidet mit einem Mundschutz und einer albernen Kopfbedeckung. Jetzt brachen sich doch die Tränen Bahn, und Liva vergrub das Gesicht in die weiße Bettdecke, die Hand auf die ihrer Mutter gelegt. »Ich habe dich so sehr vermisst.«
Eine Weile verharrte sie so. Dann richtete sie sich auf.
Ihr Blick fiel auf die silberne Kette mit dem Elisabeth-Taler, die ihre Mutter stets um den Hals trug. Jemand hatte sie ihr wohl vor der Operation abgenommen und in ein offenes Schälchen auf den Nachttisch gelegt. Nachdenklich nahm sie sie in die Hand und betrachtete das Bild, das die Marburger Heilige zeigte und die Elisabethkirche, die man über dem Grab der Landgräfin errichtet hatte.
Als kleines Mädchen hatte sie einmal unachtsam an der Kette gerissen. Da hatte es ein großes Donnerwetter gegeben, weil das gute Stück danach repariert werden musste. Das Prägejahr der Münze war auf 1509 datiert – so etwas war selten und unglaublich wertvoll. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen, woher der Taler stammte. Nur einmal hatte sie angedeutet, dass sie ihn trage, um nicht zu vergessen. Was sie damit meinte, war immer im Dunkeln geblieben.
Liva legte sich die Kette um. An ihrem Hals war sie sicherer als in ihrem Geldbeutel oder in der Hosentasche. »Ich passe auf deinen Anhänger auf, so gut ich kann.« Es war weniger der weiße Verband um den Kopf, der sie beunruhigte, als dieser bittere Zug um die schmale Lippen der Frau, der ihr fremd war. Dieser Mund hatte ihr früher so oft Trost gespendet und sie zum Lachen gebracht. Verdammt, sie musste sich zusammennehmen. Auf keinen Fall wollte sie ihrer eigenen Wut und Trauer Raum geben und noch mal hier losheulen. Nicht hier, nicht jetzt. Nicht vor dem Arzt, der angekündigt hatte, mit ihr »über Wichtiges« sprechen zu wollen. Nicht vor den Schwestern, die hier nur leise miteinander redeten, sicher auch aus Respekt vor den Angehörigen auf dieser Station, in der Sterben und Hoffnung Hand in Hand gingen. Und schon gar nicht vor ihrer Mutter, die jetzt all ihre Kraft und Zuversicht brauchte.
»Gut, dass Sie da sind.« Lautlos hatte sich ein Mann im weißen Kittel hereingeschlichen und stand jetzt direkt hinter ihr. »Konrad Naumann, ich bin der behandelnde Arzt.« Er beließ seine Hände im Arztkittel. Immer wieder ein seltsamer Moment, fand Liva, dass sich die Begrüßungsrituale in Zeiten von Pandemien und weltweiten viralen Katastrophen so massiv veränderten. Aus reiner Angst vor Ansteckung verzichteten viele inzwischen darauf, sich die Hand zu geben, und selbst gute Freunde umarmten sich nicht mehr zur Begrüßung. Was verband denn Menschen noch, wenn sie sich permanent voreinander fürchteten?
Dennoch: Er hatte ja bereits am Telefon einen sympathischen Eindruck gemacht, der sich nun bestätigte.
»Was … genau ist denn überhaupt passiert?« Liva hörte sich mehr stammeln als reden. »Wer hat ihr … das angetan?«
Dr. Naumann zeigte auf die Kranke und deutete dann mit dem Kinn zur Tür. »Gehen wir lieber in mein Besprechungszimmer!«
Liva folgte dem Arzt. Während sie den langen, weißen Krankenhausflur durchquerten, erzählte ihr der Mediziner, was sich des Nachts in ihrem Elternhaus zugetragen haben musste. Es habe also einen Einbruch gegeben, das Türschloss sei unversehrt geblieben, was der Polizei wohl Rätsel aufgebe. Ihre Mutter müsse die Täter reingelassen haben oder sie hätten einen Schlüssel gehabt. Jemand müsse ihr mit einem harten Gegenstand den Hinterkopf zertrümmert haben, daraufhin sei sie die steile Treppe hinuntergestürzt und habe sich mehrere Rippenbrüche zugezogen. Eine Nachbarin habe sie am Morgen im Flur gefunden und sofort den Notarzt gerufen. Die habe auch erst mal den Hund zu sich genommen.
»Welche Nachbarin?«, fragte Liva tonlos.
»Müller heißt sie, glaube ich. Sie hat schon mehrfach heute hier angerufen, um zu fragen, was jetzt mit dem Hund passieren soll. Sie hat ihn erst einmal zu sich genommen, will ihn aber nicht behalten«, er blätterte in seinen Unterlagen. »Madeleine Müller, ja richtig.« Liva nickte. Die kannte sie natürlich. Eine unfreundliche Person, die Kinder und Haustiere gleichermaßen auf dem Kieker hatte – das war schon immer so gewesen. Der arme, kleine Wodka war also jetzt bei dieser Schreckschraube untergekommen. Sie würde ihn aus deren Klauen retten müssen.
Gemeinsam mit Alex hatte sie es damals geschafft, das Herz der Mutter für den kleinen Rehpinscher aus dem W-Wurf eines Hobbyzüchters aus dem Siegerland zu erwärmen. Ihn Wodka zu nennen, weil er auf seinen kleinen Beinchen immer so torkelte, hatten sie besonders lustig gefunden. Das war jetzt zehn Jahre her, Wodka war inzwischen ergraut und ein alter Herr geworden. Was würde mit ihm passieren, wenn die Mutter nicht mehr gesund wurde? Mit nach Köln würde sie ihn jedenfalls nicht nehmen können, Haustiere waren in ihrer Studentenbude untersagt. Sie nickte. »Ich kümmere mich!«
Mit einladender Geste bat der Arzt sie Platz zu nehmen. Medizinische Fachbücher türmten sich auf seinem Schreibtisch, das Foto eines kleinen Mädchens stand in einem goldenen Rahmen daneben. Der Typ war also Vater einer süßen Tochter und somit sicher liiert. Einen Ehering trug er jedoch nicht, das war ihr gleich aufgefallen. Im selben Moment schämte Liva sich, dass sie selbst, wenn es um Leben und Tod ging, bei attraktiven Typen auf den Familienstand achtete. Das war ja schon fast pathologisch.
»Espresso?«
Sie nickte.
Das heiße, duftende Getränk baute sie auf. Ihre Laune besserte sich schlagartig. »Und ich dachte, Ärzte hätten kaum Zeit für Gespräche mit Angehörigen. Dachte, die wären immer furchtbar gestresst und in Eile!«
»Ertappt. Sie sind einem Mythos auf den Leim gegangen«, sein Lächeln war wirklich entwaffnend. »Angeheizt durch etliche Arztserien, die man täglich im Fernsehen sehen kann.«
Veralberte er sie gerade? Und woher wusste er, dass sie mal eine ganz intensive Arztserien-Phase gehabt hatte? Noch gar nicht lange her.
Er hängte seinen weißen Kittel an die Garderobe. »Tatsächlich habe ich schon Feierabend. Aber wir müssen noch darüber reden, was passiert, wenn es Ihrer Mutter schlechter gehen sollte«. Der flunkernde Ton war jetzt weg, das fröhliche Leuchten aus seinen Augen verschwunden. Er schob ihr eine Erklärung zu, die aus mehreren Seiten Papier bestand. »Sie müssten das hier unterschreiben, damit die Kollegen handlungsfähig sind, wenn heute Nacht eine Verschlechterung eintreten sollte. Das Leben Ihrer Mutter hängt am seidenen Faden …«
Wieso sprach er es nicht einfach aus? Es ging darum, ob man sie künstlich am Leben erhalten sollte, wenn sie eigentlich tot war. Und das – da war sie sich sicher – wollte ihre Mutter nicht. Oder ging es um das Einverständnis wegen der Entnahme der Organe? Auch eine siebzig Jahre alte Niere konnte noch ein paar Jahre ihren Dienst tun und jemandem ein besseres Leben ermöglichen. Würde ihre Mutter Organe spenden wollen? Leber, Niere, Netzhaut? Was würde Alex in dieser Situation tun? Warum musste sie solche schwerwiegenden Fragen ganz alleine klären? Was hätte ihre Mutter sich jetzt gewünscht? Sie hatten nie darüber gesprochen.
»Ich bin unsicher. Ich …«, Liva zögerte. In den meisten Ländern wurde einem diese schwere Entscheidung automatisch abgenommen, nur in Deutschland galt die Widerspruchsregelung nicht. »Keine lebenserhaltenden Maßnahmen«, sagte sie.
Der Arzt reichte ihr einen Kugelschreiber und tippte mit dem Finger auf eine Zeile, die für die Unterschrift vorgesehen war. Sie bestimmte hier gerade über Leben und Tod eines anderen Menschen. Mit welchem Recht eigentlich?
12. September 1861, Medizinalrat Dr. Stadler
Jemand hatte die Frau regelrecht abgeschlachtet. Selbst für einen erfahrenen Gerichtsarzt wie Medizinalrat Dr. Stadler stellte die Leiche, die ihm da frisch auf den Tisch gelegt worden war, einen schauderhaften Anblick dar. Und ausgerechnet bei so einem besonderen Fall hatte man ihm diesen Grünspan Julius Nau zur Seite gestellt. Der machte einen so unterbelichteten Eindruck, dass man daran zweifeln musste, ob der überhaupt lesen und schreiben konnte.
»Parat, Nau?«
Er konnte den jungen Mann einfach nicht ernst nehmen. Gerade schien er zu überlegen, wie er Protokoll schreiben und das Taschentuch mit Veilchenduft weiterhin unter seine Nase pressen konnte – beides ging ja nun nicht gleichzeitig! Der Geruch der Leiche war in der Tat unerträglich. Die Fliegen hatten ganze Arbeit geleistet, und die Augen der Frau fast vollständig vertilgt. Ihr Körper war von Flecken übersät, der Leichnam bereits in Verwesung begriffen. Kein Wunder. Die Frau hatte drei Tage lang bei Höchsttemperaturen im Wald gelegen, bis man sie gefunden hatte. Die Identität des Opfers, so hatte man Stadler mitgeteilt, sei nicht bekannt.
»Schreiben Sie?«
Nau nickte.
»Also, der Tod ist am dritten Tage, höchstens vierten Tage vor Auffinden eingetreten. Der Tod wurde durch Verbluten in Folge des Durchschneidens der Gefäßstämme mit einem kräftigen Schnitt bewirkt«, er machte eine Pause, weil er sah, dass sein Gehilfe so schnell nicht mitschreiben konnte. »Mit absoluter Gewissheit handelt es sich nicht um eine Selbsttötung.« Stadler räusperte sich und nahm das Lineal zur Hand. Äußerlich tat er so, als wäre nichts. Innerlich schäumte er wegen Naus deutlichen Würgegeräuschen. Die konnte man nicht ignorieren. Der Mann war hier fehl am Platz, so viel stand fest. »Contenance, mein Lieber«, rutschte ihm ein aufmunternder Spruch heraus. Er konnte nur hoffen, dass diese Mimose sich nicht auch noch auf der Leiche erbrach und wichtige Spuren verwischte. Akribisch legte er das Lineal an die lange, klaffende Halswunde der Toten, die so tief war, dass sie die Wirbelsäule freigab.
»Weiter also: Der Körper ist kräftig und fünfeinhalb Fuß lang. Auf der Vorderseite des Halses, dicht unter dem Unterkiefer, befindet sich eine weitklaffende, fünf Zoll lange, eineinhalb Zoll tiefe, an der Grundfläche drei und ein drittel Zoll messende, scharfrandige Wunde. Die Halsadern und der Kehlkopf sind bis zu den Halswirbeln durchdrungen. Unterhalb der Wunde befinden sich noch alle drei Hautdecken durchdringende Schnittwunden. Haben Sie das, Nau?«
»Hm«, murmelte der schlaksige Jüngling, der inzwischen am Schreibtisch Platz genommen hatte, möglichst weit von der Leiche entfernt.
Stadler sehnte sich in solchen Momenten nach dem Treuerchen. Die junge, aufstrebende Medizinerin hatte ihm einige Monate assistiert, bevor sie – als Mann verkleidet – einen Studienplatz an der Universität bekommen hatte. Eine Schande, dass man Frauen mit einer solchen Begabung nicht ganz offiziell zum Studium zuließ. Sie war nicht nur wenig zimperlich und unglaublich schlau, sondern dazu noch unfassbar schön. Selbst seine Frau hatte ihn in diesen Wochen mehrfach gelobt, weil er so gut gelaunt von der Arbeit nach Hause kam. Mit einem Liedchen auf den Lippen. So ganz ohne den Leichengeruch, der ihm sonst an manchen Tagen anhaftete. Mit einem sauberen Hemd am Leib. Die Körperpflege war ihm zeitweise wichtiger als sonst gewesen. Ob das Treuerchen – eigentlich hieß sie Anna Treuer – irgendwann mal wieder zu ihm zurückkommen würde?
»Weiter, Nau, allez«, Stadler bemühte nun die Lupe. »An beiden Oberschenkeln finden sich rötliche, zum Teil der Haut beraubte Quetschungen und Eindrücke von Fingernägeln«, jetzt verharrte er kurz und dachte nach. Der Täter musste sich zunächst auf die Frau gelegt haben, um sie wehrlos zu machen. Die tödlichen Stiche hatten eindeutig im Liegen stattgefunden, bevor es zu einem Kampf gekommen war. Daran gab es keinen Zweifel. Die Frau hatte in ihrem Todeskampf keinerlei Chance gehabt, sich gegen den Täter zu wehren.
»Wichtig: Die Gebärmutter der Getöteten enthielt eine regelmäßig gebildete Frucht von sechzehn bis zwanzig Wochen.« Wer wohl der Kindsvater gewesen war? Der machte sich von vornherein verdächtig, denn die Tote trug weder einen Ehering noch die Tracht, die man von verheirateten Frauen kannte. Es war ja nicht an ihm, Schlüsse aus seinem Bericht zu ziehen. Aber die ermittelnden Kollegen würden das auch vermuten, da war er sich sicher.
In dem Moment erbrach Nau sein offenbar reichhaltiges Frühstück in das eigentlich für Leichenteile- und Gedärme-Reinigungen vorbereitete Waschbecken. Das, so dachte Stadler verächtlich, ohne sich herumzudrehen, würde er schön selbst saubermachen müssen. »Augen auf bei der Berufswahl«, murrte er nur. Die ganze Sache hier würde sich unnötig durch diesen Trottel herauszögern.
»Ein Letztes noch, dann sind Sie erlöst, Nau. Schreiben Sie, schreiben Sie: Die rechte, mit halbgeronnenem Blut ausgefüllte Hand zeigt auf der Innenseite des Mittel- und Ringfingers eine querlaufende Schnittwunde, die linke blutige Hand, in welcher das Tuch lag, auf der Innenseite des Zeigefingers zwei Hautabschürfungen, auf dem Mittelfinger nach innen eine Schnitt-, nach außen eine Schramm- oder Schnittwunde.« Stadler schaute nun rüber zu Nau, der sich wieder gefangen hatte. »Sag ich’s doch, Sie Idiot. Die hat sich bis zuletzt gewehrt. Und ihr Sterben muss sehr schmerzhaft und langwierig gewesen sein.«
In dem Moment betrat Gerichtsdiener Philipp Lyding den Raum, um sich nach den Ergebnissen des pathologischen Befunds zu erkundigen. Entsetzt starrte er auf die Leiche, die er am Morgen schon am Fundort gesehen hatte. Jetzt aber hatte man ihr das blutige Gesicht gewaschen. »Das … das …«, stotterte er.
»Was ist los, Lyding. Kommen Sie zum Punkt!« Stadler fehlte für solche Animositäten die Geduld.
»Erkennen Sie die Tote?«, fragte Nau. Und seine Stimme klang plötzlich ganz klar, und sein Gesichtsausdruck drückte deutliche Neugier aus. So hatte Stadler ihn noch nicht gesehen.
Lyding nickte nur und wandte die weit aufgerissenen Augen nicht von dem schlimm zugerichteten, aufgequollenen Gesicht der Leiche ab. »Das ist doch … das ist doch … die Dorothea Wiegand aus Ockershausen. Wird auch das Hinkel genannt, weil sie so dumm wie Brot ist. War. Und einen Hinkefuß hatte, mit Verlaub.«
Und nun falteten die drei Männer fast gleichzeitig die Hände andächtig zum Gebet und schwiegen für eine Minute. Die Tote hatte nun eine Identität – und dieser Tatsache zollten sie tiefen Respekt.