Kitabı oku: «Hinkels Mord», sayfa 3

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3. Kapitel

Das kleine, schräge Wohnhaus der Lohreys lag oben am Hang. Mit dem Rollkoffer und dem schweren Rucksack kein Spaziergang, stellte Liva fest. Schon zu Schulzeiten hatten sich ihre Freundinnen über diesen Anstieg beschwert. Manchmal hatte Liva den Eindruck gehabt, dass keiner aus der Klasse sie besuchen komme, weil man die Steigung so scheute. Das war natürlich Quatsch. Selbst ihre Mutter bewältigte ja noch in ihrem hohen Alter diesen Weg. Die Hohe Leuchte. Heute kamen Liva die paar Meter von der Ockershäuser Allee zum Haus ewig lang vor. Sie merkte, wie ihre Kräfte schwanden und sich der Schlafmangel der letzten Nacht bemerkbar machte. Hatte sie heute überhaupt mal was gegessen? Außer einem kleinen Keks zum Espresso in der Klinik nämlich nichts. Aber wie sie ihre Mutter kannte, war der Kühlschrank gut gefüllt.

Dass die schräge Alte von nebenan hinter den Gardinen saß und die Straße beobachtete, war dann auch keine Überraschung mehr. Manche Dinge änderten sich eben nie. Den Gefallen, sie von dem alten Hund zu erlösen, würde sie ihr trotzdem noch nicht tun. Sie musste erst mal ankommen, tatsächlich, aber auch mental. Das verlorene Schaf kehrte nun in die Herde zurück. Doch die Herde gab es nicht mehr. Das verlorene Schaf war die Herde. Da brauchte es genaugenommen gar keinen Hütehund mehr.

Liva steckte den Schlüssel in das Schloss, es war unbeschädigt. Wie waren die Einbrecher dann hineingekommen? Durch den Garten? Sie betreten hier einen Tatort, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Den ganzen Tag hatte sie mit Bauchschmerzen daran gedacht, wie es sich wohl anfühlen würde, in dem verlassenen Haus ganz alleine zu sein. Sie hatte auf Wodka gebaut, der zwar schüchtern und klein war, aber eben ein Hund. Die Einbrecher hatte er ja aber auch nicht in die Flucht schlagen können. Warum überhaupt hatte er nicht angeschlagen, um sein Frauchen zu warnen? Hatte er die Täter vielleicht sogar gekannt und war ihnen schwanzwedelnd um die Beine gelaufen?

»Okay, stay cool, Liva«, redete sie sich gut zu und betrat den dunklen Flur.

In der Diele hing dieser bestimmte Geruch, den sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Eine Mischung aus Putzmittel und Essen, aus feuchtem Keller und dem Holz, aus dem das Fachwerkhaus vor einigen hundert Jahren maßgeblich errichtet worden war – zwischen den Balken der Lehm der Geschichte. Was diese Wände erzählen konnten, wenn sie reden könnten. Vielleicht würden sie dann auch Auskunft geben über Alex’ letzte Tage und Wochen. Warum er sich immer häufiger in das kleine Dachzimmer im Haus seiner Mutter zurückgezogen hatte? Geredet hatten die Geschwister in dieser Zeit kaum miteinander. Ob es da etwas gegeben hatte, das ihn belastet hatte?

Nur, wenn wir uns unserer Wurzeln bewusst werden, können wir mit uns selbst Frieden schließen. Was hatte Gunnar da vorhin gefaselt? Wirre Fantasien eines Junkies? Oder wusste er mehr über den jungen Mann als die Menschen, die täglich um ihn gewesen waren? War sie nicht genug für ihn da gewesen? Tagsüber hatte sie für ihr Abitur gelernt, und abends war sie mit Jessi durch die Clubs gezogen.

»Hey Süße!«

Vor Schreck fiel Liva die Jacke zu Boden, die sie gerade an den Garderobenhaken hatte hängen wollen. Da stand ein Kerl mit dunklen Locken im Türrahmen und grinste sie spitzbübisch an. »Konstantin!«

»Hab dich eigentlich schon früher erwartet.«

»Was um alles in der Welt machst du in Marburg?« Wie war der hier reingekommen? Hatte er aus früheren Zeiten noch einen Schlüssel für das Haus? Oder hatte die Tür offen gestanden? Liva starrte ihn ungläubig an. »Musstest du heute nicht arbeiten?«

»Doch. Hab mich nach Feierabend direkt ins Auto gesetzt. Ich lasse dich eben sehr ungerne alleine in die Vergangenheit reisen.« Er grinste. »Muss allerdings morgen wieder zurück nach Köln.« Ein kurzer Blick über seine Schulter reichte, um festzustellen, dass er bereits eine Flasche Rotwein geköpft hatte und offenbar gerade dabei gewesen war, sich alte Fotos anzuschauen.

»Ist das Alex’ Fotokiste?« Obwohl sie sich sehr vertraut waren, empfand sie sein Verhalten gerade als übergriffig und unangebracht. Mit welchem Recht wühlte er hier in ihrer Familiengeschichte herum? Gut, er war Alex’ bester Freund gewesen, aber auch er hatte seiner Heimatstadt den Rücken gekehrt und war nur mal an Weihnachten oder an Geburtstagen auf Stippvisite zurückgekommen. Sein Verhältnis zu seiner Mutter, die ebenfalls alleinerziehend gewesen war, war zerrüttet. Zu dem Vater hatte er nie Kontakt gehabt. Das verband sie irgendwie, auch, wenn es nie groß Thema gewesen war.

»Woher wusstest du überhaupt, dass ich hier bin?«

Liva folgte ihm zum Esstisch, wo eine üppige Brotzeit auf dem Tisch bereitstand. Er schob mehrere Stapel Fotos beiseite. Ihr fiel auf, dass er die Abzüge fein säuberlich sortiert hatte. Warum?

Konstantin machte eine einladende Geste und setzte sich selbst auf den Platz, den früher ihre Mutter eingenommen hatte. Dann griff er in die Brotschale und bediente sich am Käse – es hatte etwas ganz Selbstverständliches. So, als würden sie jeden Abend zusammen essen. Liva merkte erst jetzt, wo all die Köstlichkeiten vor ihr standen, dass sie einen Bärenhunger hatte.

»Als heute Morgen keine Nachricht von dir kam, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich wusste ja nicht mal, ob du gut nach Hause gekommen bist. Und da ich eh in Ehrenfeld unterwegs war, habe ich so um die Mittagszeit mal bei dir zu Hause angehalten. Und da stand dieser junge, attraktive Mann mit dem Drei-Tage-Bart vor deiner Tür, halb verfroren in Jeans und einem bunten T-Shirt, und klingelte bei dir Sturm.« Er knabberte an einer Gewürzgurke. »Marcel heißt der. Und er wollte dich dringend sprechen.«

Die Beschreibung passte auf ihr nächtliches Date, den Bräutigam. Liva merkte, wie ihr eine leichte Röte übers Gesicht flog. Marcel hieß er also. Stimmt, jetzt fiel es ihr auch wieder ein. »Und?«

»Naja, er hat wohl seine Lederjacke bei dir vergessen«, Konstantin räusperte sich.

»Oh, das ist natürlich doof! Dann muss er warten, bis ich zurück bin, und solange eine andere Jacke anziehen«, sagte sie bewusst unbekümmert. Im Grunde interessierte sie dieser Marcel gerade nicht die Bohne, obwohl er ja wirklich ganz süß und aufmerksam gewesen war. Sie hatte gerade andere Sorgen. Kurz checkte sie ihr Handy, ob sie vielleicht einen Anruf aus der Klinik verpasst hatte. Keine Nachrichten waren in dieser Situation gute Nachrichten, so viel stand fest.

»Er war vor allem deswegen aufgelöst, weil sich in der Jacke die Ringe befinden, die er am Samstag benötigt! Er heiratet dann nämlich.« Vorwurfsvoller konnte man nicht gucken. Konstantin verzog pikiert den Mund. Okay, er hatte im Grunde ja Recht. Einen Bräutigam abzuschleppen, gehörte sich nun wirklich nicht. Dennoch konnte sie gerade keine moralische Keule brauchen.

»Er jedenfalls wusste zu berichten, dass du am Morgen einen Anruf aus einer Marburger Klinik erhalten hast und dass es deiner Mutter sehr schlecht geht. Dann habe ich eins und eins zusammengezählt und bin hergekommen.«

Während dieser Marcel im Bad gewesen war, hatte er also das ganze Telefonat mitgehört. Dass er dann in der Eile seine Jacke vergessen hatte, tat ihr natürlich leid. Und was nun?

»Netter Kerl«, Konstantin konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen. »Vielleicht ein bisschen zu sehr … verlobt.«

»Kann es sein, dass du dich gerade in etwas einmischst, das dich gar nichts angeht?« Liva schüttete ein Glas von dem Bordeaux hinunter, als handelte es sich um Wasser. Sie hatte einerseits Durst und andererseits Lust, sich gnadenlos zu betrinken. Doch irgendetwas bremste sie. Sie spürte, dass sie vernünftig bleiben musste. Sie brauchte einen klaren Kopf, weil sie Entscheidungen über Leben und Tod treffen musste.

»Ja, das stimmt. Ich habe ihm nämlich versprochen, ihm deine Nummer zu geben. Irgendwie muss er ja wieder an seine Jacke kommen, nicht wahr?«

»Oh, danke dafür!«, sagte Liva spöttisch. Sie konnte es nicht fassen. Konstantin würde doch nicht einfach die Regel Nummer eins brechen: Gib nie eine Nummer raus ohne Absprache.

»Oder du händigst mir deinen Haustürschlüssel aus und ich gebe ihm seine Sachen, wenn ich morgen zurück bin. Deal?« Konstantin streckte ihr die geöffnete Hand hin.

Er meinte es offenbar ernst. Seine permanente Hilfsbereitschaft nervte sie kolossal. Was ging ihn dieser Typ an? Warum um alles in der Welt solidarisierte er sich jetzt auch noch mit diesem Fremden?

Liva suchte in den Weiten ihres Rucksacks den Schlüssel und knallte ihn auf den Tisch. »Da!« Dann sprang sie auf. »Ich muss mich jetzt um Wodka kümmern. Der arme Hund harrt seit heute Morgen bei der Müllerin drüben aus. Sicher ist er schon schwer traumatisiert.«

»Liva?«

»Was?« Sie drehte sich um.

»Kann ich heute Nacht hierbleiben? Würde es mir einfach hier im Wohnzimmer gemütlich machen. Ist das okay für dich?«

Das olle Sofa. Dort hatte er früher auch oft gepennt, wenn er mit Alex auf Piste gewesen war und den Weg in sein Elternhaus in der Nacht nicht mehr hatte bewältigen können. Sie nickte. Auch, wenn sie es nicht zugeben wollte, war sie heilfroh, dass er gerade da war. Er war der einzige Freund, den sie hatte. Vielleicht eine Art Bruderersatz. Er war derjenige, der sie zur Not auch mal zur Vernunft pfiff. Und er konnte ihr ein charmanter Begleiter sein, wenn sich sonst niemand fand, der Lust auf Kultur oder Kneipe hatte. Und jetzt rettete er auch noch die Hochzeit eines wildfremden Paares, deren Ehe von vornherein unter einem schlechten Stern stand. Für all das war sie ihm dankbar. Aber dass er sich heute auf den Weg gemacht hatte, um ihr beizustehen, das würde sie ihm nie vergessen.

»Selbstverständlich«, sagte sie und verschwand durch die Tür.

14. September 1861, Witwe Hilberg

Was ist das doch für ein verdammter, dreckijer Lügner! Hat der lumpige Geselle vom Koburger wirklich behauptet, dass mein Ludwig was mit dem Mord zu tun hat? Herr Polizeioberhauptmann, das sagt er doch nur, um von sich selbst abzulenken. Was? Daran haben Sie noch gar nicht gedacht? Muss Ihnen eine alte Frau erklären, wie Sie Ihre Arbeit zu machen haben? Das weiß doch jeder hier, dass der seine Finger nicht bei sich lassen kann. Weil er nämlich aus demselben Holz geschnitzt ist wie die Wiegand, dieses dumme Hinkel. Gleich und Gleich gesellt sich gern, heißt es doch. Was? Der war zur Tatzeit auf der Arbeit, das können alle bezeugen? Pfff. Stecken doch alle unter einer Decke. Aber wenn Sie das glauben wollen, bitteschön. Mit einem Schreiner aus Niederweimar soll sie auch rumgemacht haben, das dumme Tier. Haben Sie den schon verhört? Vermutlich hat der sie abgeschlachtet. Ziemlich sicher sogar. Denn dass da ein Braten in der Röhre war, haben die Spatzen schon lange von den Dächern gepfiffen. Hat sich nicht mal geschämt dafür. Hat den Bauch stolz vor sich hergeschoben.

Woher ich die Wiegand kenne? Na, die hat hier doch gearbeitet. Ab und zu. Das war im Frühjahr. Aber das habe ich schon Ihren Kollegen von der Polizeidirektion gesagt. Heute könnt’ ich heulen, dass wir so ein Getier überhaupt ins Haus gelassen haben. Dumm und faul ist sie gewesen. Sollte dem Ludwig zur Hand gehen. Stattdessen hat sie nur rumgesessen, uns die Vorräte weggegessen und ist vorlaut und frech gewesen. Und sobald ich das Haus frühmorgens verlassen hab, hat sie aufreizend gelacht wie ein Pferd und sich an meinen Ludwig rangeschmissen. So, dass die Nachbarin mich schon darauf angesprochen hat. Da muss man sich doch schämen. Der arme Bub wusste nicht ein noch aus mit dem Weibsstück, da hab ich sie weggejagt. Wissen Sie, wie froh ich war, dass die dann nach Argenstein in den Dienst kam? Seitdem hab ich sie nur noch selten gesehen. Die hat sich ja schon als Kind hier mutterseelenallein in Ockershausen herumgetrieben und hat gebettelt und gestohlen. Die Mutter tot, der Vater weg. Um die ist es nicht schade, das sag ich Ihnen unter vier Augen. Da trauert keiner. Die hat ihren Tod durch ihr liederliches Verhalten doch selbst verursacht, wenn man so will. Und ihr Kind hat sie noch mit ins Verderben gerissen. Was ihr meinem guten Jungen da anhängen wollt, ist in Wahrheit Hinkels Mord. Dafür müsstet ihr euch schämen. Ihr haltet ihn schon tagelang ohne irgendwelche Beweise bei Wasser und Brot fest. Da geht es doch nicht mit rechten Dingen zu. Mein Bub ist ein Sündenbock, so sieht es nämlich aus. Weil es immer die kleinen Leute trifft, die sich nicht wehren können. Dabei hat er es schon schwer genug gehabt im Leben. Ohne Vater hat er aufwachsen müssen, weil alle aus der Familie so schwach auf der Brust sind und immer früh starben. Und als er tot war, mein Mann, hab ich mit seinen zwei Bälgern hier gesessen. Wir sind fast verhungert. Die Gürtelrose hat den Ludwig fast dahingerafft, da ist er erst elf Jahre alt gewesen. Ich hätt ja noch mal heiraten wollen, aber wer nimmt schon eine alte, krumme Witwe mit zwei Fressern? Aus dem Hettche-Haus hab ich mich aber nicht vertreiben lassen, obwohl die Haddamshäuser alles versucht haben, mich hier rauszuekeln. Krumm und buckelig geschuftet haben wir uns all die Jahre, die Buben und ich, um das Haus zu halten. Dabei pfeift es hier aus jedem Loch. Das Dach ist undicht und das Mauerwerk müsst mal nachgebessert werden. Hilfe bräucht ich. Und keine Scherereien.

Und jetzt kommen Sie daher und fragen mich, wo der Ludwig am Mordtag gewesen ist? Ja, hab ich das nicht schon Ihren Kollegen erzählt? Hier im Haus ist er gewesen. Gearbeitet hat er, den ganzen Tag, rechtschaffen wie er ist. Dann hat er, und das kann der feine Herr Steuereinnehmer Burk ja bezeugen, unsere Steuern entrichtet. Wie es sich gehört. Sehen Sie.

Was? Ich kann das gar nicht wissen, ob er zur nämlichen Uhrzeit daheim war, weil ich selbst nicht da war? Ich war beim Hassenpflug, in Gottes Namen. Wäsche waschen. Ja, darf man nicht mal seine Wäsche mehr waschen? Ich sag Ihnen mal was: Sie haben den Falschen in Gewahr. Ich gehe die Tage zum Koburger, sind ja nur ein paar Schritte rüber nach Marburg in die Barfüßerstraße 23, und werde ihn warnen, wen er sich da als Gesellen ins Haus geholt hat. Einen Lügner nämlich, der unbescholtene Familien beschuldigt.

Und was? Der Bürgermeister von Ockershausen hat Sie hier hergeschickt? ›Annere‹ sollen wir sein? Nur, weil der Ludwig nicht hier geboren ist? Über den feinen Herrn Bürgermeister könnte ich Ihnen auch allerhand erzählen, was nicht ganz koscher ist. Machen Sie schnell, dass Sie hier rauskommen, sonst vergesse ich mich noch. Verschwinden Sie sofort aus unserem ehrbaren Haus. Und bestellen Sie dem Herrn Staatsprokurator Brauns einen schönen Gruß. Seine Schuhe kann er in Zukunft woanders beschlagen lassen …«

4. Kapitel

Liva hatte geschlafen wie ein Stein. Und als sie wach wurde, verstand sie erst einmal gar nicht, dass sie sich in ihrem alten Kinderzimmer befand. Wodka, der kleine Rehpinscher, stand schwanzwedelnd vor ihrem schmalen Bett. Die Zunge hing fast bis zum Boden. War es wirklich schon zehn Uhr durch? Der Hund hob bittend die rechte Pfote.

»Du musst mal raus, hm?« Liebevoll streichelte Liva ihm über das weiche Fell, das an manchen Stellen schon ergraut war. Obwohl ziemlich kurzsichtig, hatte er sie nach all der Zeit stürmisch und voller Freude begrüßt, so wie früher, wenn sie gegen Mittag aus der Schule gekommen war.

Sie hatte den Hund gerade noch rechtzeitig aus den Klauen der Nachbarin gerettet, die gerade dabei gewesen war, das Tierheim zu verständigen. So eine gehässige Alte, der zur Begrüßung nichts Besseres eingefallen war als ein dummer Spruch. »Ja, ja, sich jahrelang nicht melden und sobald es ans Erbe geht, so schnell es geht auf der Matte stehen. Das hat man gerne.«

Liva hatte sich gerade noch zurücknehmen können, ihr etwas ebenso Böses zu entgegnen. Aber das war ja vermutlich genau das, was die Müller mit ihrem Verhalten provozierte, um sich später wieder das Maul über die »Bankerte« zu zerreißen. Die Tatsache, dass sie ohne Vater aufgewachsen waren, war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen.

Liva schlurfte die Treppe hinunter und öffnete die Gartentür, um Wodka rauszulassen. Wie selbstverständlich es sich anfühlte, wieder in diesem Haus zu sein – als wäre sie nie weg gewesen. Sie würde also die Blumen gießen, die Post reinholen, die Rollläden auf- und zumachen, die Mülleimer rausstellen. Sie kam sich dabei vor, als führte sie ein Doppelleben: Nachtschwärmerin und Herzensbrecherin in Köln, fürsorgliche Tochter und Hausmeisterin in Marburg.

Erst nachdem sie sich in der Küche einen Kaffee gezogen hatte, betrat sie das Wohnzimmer. Das Sofa war leer und die Decke fein säuberlich zusammengefaltet. Die Fotokiste stand wieder an ihrem alten Platz im Regal. Konstantin war verschwunden.

Sie hatten die halbe Nacht noch gequatscht. Darüber, wie schlecht es ihrer Mutter zurzeit ging, dass ihr Leben am seidenen Faden hing. Und dass sich Alex sicher noch verabschieden wollen würde, wenn er noch am Leben war. Liva brauchte nach so einem Abend ausgesprochene Ruhe. Konstantin dagegen war nie ein Langschläfer gewesen. Er hatte auf dem Tisch einen Zettel hinterlassen: Schaue heute mal kurz bei meiner Mutter vorbei, melde mich, wenn ich noch Zeit für einen Kaffee habe.

Hieß das, dass er doch heute noch in Marburg blieb? Dass sie sich weiterhin auf den Freund verlassen konnte? Liva faltete den Zettel ganz klein und steckte ihn ein.

Überhaupt wunderte sie sich, dass er sich offenbar mit seiner Mutter wieder gut verstand – eine Frau, die zeitlebens von schweren Depressionen geplagt wurde und mehrere Klinikaufenthalte hinter sich hatte. Konstantin war als kleiner Junge oft sich selbst überlassen gewesen. Später hatte er den Kontakt auf ein Minimum reduziert, damit gehe es ihm besser, sagte er immer.

Mit dem Plan, sich eine Dusche zu gönnen, um richtig wach zu werden, fiel ihr auch auf, dass sie die Zahnbürste und ihr Shampoo vergessen hatte. Liva öffnete den Badezimmerschrank und schaute alle Kisten, Tuben und Behälter durch. Ihre Mutter verwendete immer noch die gleichen Marken wie früher. Eine original abgepackte Zahnbürste lag obenauf. In der hinteren Reihe stieß sie auf ein Duschgel für Männer, das halbleer war. Reflexartig schnappte sie sich die Tube und roch daran. Dieser Geruch rief so unglaublich viele Erinnerungen hervor, dass sie es nicht verhindern konnte: Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dass die Mutter Alex’ Duschgel aufbewahrt hatte, zeigte doch, dass sie doch irgendwo ganz tief drinnen damit rechnete, dass ihr Sohn irgendwann wiederkam. Das tat weh. Und gut gleichzeitig. Ob sie noch mehr Erinnerungsstücke im Haus finden würde? Vielleicht waren ja auch welche darunter, die über seinen Verbleib Auskunft geben konnten? Vielleicht musste man mit einem zeitlichen Abstand einfach noch mal neu suchen, denken und forschen.

Ob das Schicksal sie nach all den Jahren wieder nach Marburg geführt hatte, um das herauszufinden? Denn seit gestern ließ sie das Gefühl nicht los, dass die Erklärung für Alex’ Verschwinden in diesem alten, verwinkelten Haus zu finden war, in dem sie ihre gemeinsamen Kindheitsjahre verbracht hatten.

Die Dachkammer. Den Raum hatte Alex als Studierstube und Rückzugsraum genutzt, der Familie war Betreten quasi untersagt gewesen. Und dennoch hatte die Polizei vor drei Jahren dort oben alles auf den Kopf gestellt und nichts Auffälliges gefunden.

Trotz des warmen Schauers, der kurze Zeit später in der Dusche auf sie niederrieselte, verkrampfte sich ihr Magen. Das Gefühl, dass ihr etwas den Hals zuschnürte, wurde immer stärker. Wer war sie schon ohne den großen Bruder, der sie so oft zum Lachen gebracht hatte und der ihr ein Vorbild gewesen war? Wer war sie ohne die Mutter, die zwar nie über den Vater ihrer Kinder gesprochen hatte, aber immer für sie da gewesen war? Den unbekannten Vater hatten Alex und Liva nie vermisst. Die Mutter fehlte schon jetzt.

Sie ließ das warme Wasser noch einige Minuten über das Gesicht laufen, als wollte sie all diese Gedanken abwischen. Nichts war man ohne die Menschen, die man liebte. Das kapierte man aber offenbar immer erst, wenn es zu spät war. Und plötzlich hatte sie so verdammt große Angst davor, was sie heute in der Klinik erwarten würde. Und die würde sie ganz alleine tragen müssen.


Auf Station herrschte emsiges Treiben, sodass man Liva zunächst gar nicht beachtete. Nahezu unbemerkt gelangte sie durch die erste Schleuse, wo man die Hände desinfizieren und sich den Mundschutz umlegen musste, zum Zimmer ihrer Mutter, nachdem ihr eine nette Dame die sonst verschlossene Tür zur Intensivstation aufgehalten hatte. Die Schwestern, die Dienst hatten, waren wieder andere als am Tag zuvor. Und von Dr. Naumann war keine Spur zu sehen, was sie ausnehmend schade fand. Stattdessen huschte ein kleines, nervöses Männlein im weißen Kittel über die Flure und schaute sie hektisch über den Brillenrand an, als sie ihn ansprach. Er stellte sich als Dr. Schoner vor. Und er hatte es furchtbar eilig, das merkte man.

»Wir rufen Sie an, sollte sich der Zustand Ihrer Mutter ändern. Das habe ich Ihrem Bruder heute Morgen auch schon gesagt. Aber, machen Sie sich keine Sorgen. Momentan ist sie stabil«, war seine knappe Antwort. Prompt wendete er sich ab und blätterte schon in den Unterlagen eines anderen Patienten. Da hielt Liva ihn – vielleichte eine Spur zu grob – am Arm fest. Erstaunt schaute er sie an.

»Wollen Sie damit sagen, dass mein Bruder hier war? Alexander Lohrey?« Das konnte doch nicht sein, das war unmöglich.

»Jedenfalls hat er sich als der Sohn der Patientin Lohrey ausgegeben. Ich muss gestehen, dass wir momentan richtig Stress auf Station haben und ich seinen Ausweis nicht kontrolliert habe. In den Unterlagen stand auch was von einem Sohn …« Er blinzelte nervös durch die kleine Brille hindurch. »Haben Sie denn keinen Bruder?«

»Schon. Aber …«, Liva bremste sich, die ganze Geschichte wollte sie dem Arzt jetzt ersparen. »Wie sah der Mann denn aus?«

»Er hatte schwarze Haare, daran erinnere ich mich wohl. Und er war sehr groß und schlank. Ansonsten hatte er einen weißen Kittel an, eine blaue Haube über den Haaren und trug einen Mundschutz um. Es tut mir leid, hier sehen irgendwie alle Menschen gleich aus. Vorsichtsmaßnahmen eben.« Offenbar war ihm die Sache mehr als unangenehm. Die Station war nur den Angehörigen vorenthalten. Das wussten sie beide.

Liva saß eine lange Zeit am Bett ihrer Mutter und streichelte ihr die Hand. Sie beobachtete, wie die Kranke gelegentlich nach Luft rang. Einmal kam eine Schwester herein und erinnerte sie daran, dass die Besuchszeit bei Patienten auf der Intensivstation gleich vorbei sei. Es ging ihr nah, hier zu sitzen und nichts tun zu können. Es zerriss sie innerlich. Wenn das wirklich stimmte, dass Alex am Morgen hier gewesen war, musste ihn jemand über den Zustand seiner Mutter in Kenntnis gesetzt haben. Es war nahezu unmöglich, dass ein Mensch nach drei Jahren ganz plötzlich einfach so auftauchte, nur, um dann wieder zu verschwinden. Liva hatte einen ganz anderen Verdacht. Sie vermutete stark, dass es Konstantin gewesen war, der auf dem Weg nach Köln hier vorbeigeschaut hatte. Er hatte sich immer gut mit Theresa Lohrey verstanden, war ihr jahrelang wie ein Sohn gewesen. Und die Beschreibung passte auch auf ihn. Dennoch: Solche Momente machten etwas mit ihr. Sie feuerten eine Hoffnung an, die in ihrem Herzen einen großen Schmerz verursachte.

Als ihr Magen grummelte, fiel ihr ein, dass sie außer dem schnellen Kaffee heute Morgen nichts zu sich genommen hatte. Bevor sie den Bus runter in die Stadt nehmen würde, musste sie sich im Krankenhaus-Café nach etwas Essbarem umschauen. Und dann musste sie sich beeilen, weil Wodka auf einen ausführlichen Gassi-Gang wartete. Darauf freute sie sich schon: Sie würde mal hoch zum Heiligen Grund laufen, nahm sie sich vor. Dort, wo sie einen Garten hatten, von dem aus man einen wunderschönen Blick über die alten Apfelplantagen hatte. Alte Wege gehen. Sich auf Spurensuche begeben. Dabei Alex vermissen.


Der Cafébetrieb brummte. Es roch nach Krankenhaus, dennoch bemühte man sich hier um ein gewisses Maß an Normalität. Wer sich in dem Bistro tummelte, war entweder auf dem Weg der Besserung oder hatte Besuch. Die Fenster waren mit bunten Girlanden geschmückt, auf den Tischen standen kleine Vasen mit frischen Blumen darin. Es gab kaum freie Plätze, nur im hinteren Bereich saß eine einzelne junge Frau an einem Vierer-Tisch und hantierte mit ihrem Smartphone herum.

Liva erkannte Melli sofort. Sie trug die Haare kürzer als früher, vielleicht war ihr Gesicht etwas fülliger geworden, was ihr gut stand. Unverwechselbar waren ihre Gesten – ganz eindeutig immer noch eine sanfte Frau, die jedoch genau wusste, was sie wollte. Liva hatte sich der Freundin ihres Bruders gegenüber immer wie ein junges, unreifes Mädchen gefühlt. Die kleine Schwester eben, manchmal auch wie der Klotz am Bein.

»Ist hier noch frei?« Liva zeigte auf den Stuhl am selben Tisch.

Melli zuckte zusammen und starrte sie an wie einen Geist. Fast drei Jahre waren vergangen, seit sie sich zum letzten Mal gesehen hatten. Nur einige Wochen nach Alex’ Verschwinden hatte Theresa Lohrey ein paar Leute zum Abendessen eingeladen. Vermutlich hatte sie damals nur Zusammenhalt demonstrieren wollen, dennoch hatte man sich wie auf einer Beerdigung gefühlt. Mellis Gesicht war vor Trauer ganz grau gewesen, ihr Blick entrückt, und Liva war sich nicht sicher gewesen, ob sie überhaupt irgendetwas von den Gesprächen am Tisch verstanden hatte. Konstantin hatte sich direkt nach dem Essen höflich verabschiedet und war generell sehr schweigsam gewesen. Tante Hedwig war eigens aus Frankfurt gekommen, um ihr Beileid auszusprechen und der Schwester beizustehen. Da die Schwestern sich nie viel zu sagen gehabt hatten, war Hedwig am späten Abend wieder abgereist. Alles drehte sich um den verlorenen Sohn – dass ihre Tochter bald nach Köln ziehen würde, um ein Journalistik-Studium zu beginnen, war nur mal kurz Thema gewesen. Der Abend war Alex gewidmet gewesen, dessen Platz leer geblieben war. Keiner hatte damals weitergewusst. Keiner hatte eine Ahnung, wie man mit diesem Schmerz würde weiterleben können.

Melli streckte nun spontan den Arm aus und ergriff Livas Hand. Eine seltsam vertraute Geste für zwei sich fremd Gewordene. Doch ihr Blick war mitfühlend und aufrichtig. Sie meinte es offenbar ernst mit ihrer Anteilnahme. »Wie geht es deiner Mutter?«

Jetzt war Liva baff. Offenbar war sie bestens informiert. War sie etwa deswegen hier? Um sie zu besuchen?

»Ich wollte nach ihr sehen, man hat mich aber nicht reingelassen, weil ich keine direkte Angehörige bin.«

Liva betrachtete ihr Gegenüber. Hier hatte die Einlasskontrolle auf der Intensiv also doch funktioniert. Seltsam, ihre Mutter hatte nie erwähnt, dass sie mit Melli noch in Kontakt stand.

»Da hilft nur beten«, sagte die nun und senkte den Kopf.

»Beten?! Schadet zumindest nicht«, Liva staunte nicht schlecht. Seit wann glaubte Melli an Gott? Und überhaupt kam sie ihr total verändert vor, viel weicher und zugänglicher als früher. Bei genauem Hinsehen hatte sie sich in der Zwischenzeit auch äußerlich verändert, war fraulicher und reifer geworden. Vielleicht kam ihr das aber auch nur so wegen der schicken Bluse vor, die den bedruckten, ausgewaschenen Kapuzenpullis gewichen war.

»Woher weißt du eigentlich, dass meine Mutter auf der Intensiv liegt?«, wagte sich Liva vor. Dass ihre gehässige Nachbarin den Vorfall schadenfroh in Ockershausen herumtratschte, war klar. Doch Melli wohnte im Südviertel. Und verkehrte ganz sicher nicht in den Müller’schen Kreisen.

»Na, Konsti hat es mir erzählt«, Melli trank den Rest ihres Kaffees in einem Zug aus. »Er ist gestern kurz bei mir gewesen. Hat er es nicht erwähnt?« Melli stand auf und klopfte sich die Hose zurecht, die voller Sitzfalten war.

»Nö«, sagte Liva fast schnippisch. Die Lust auf die fett mit Butter beschmierten und spärlich mit Wurst belegten Brötchen und den dünnen Kaffee hier war ihr vergangen. Irgendetwas an Mellis Anwesenheit kam ihr seltsam vor. Und, dass Konstantin nichts von der Begegnung erwähnt hatte, hatte ebenfalls einen Beigeschmack. Andererseits war ein Krankenbesuch ja eine nette Geste. Denn ihre Mutter hatte »Mellimaus«, wie sie ihre Schwiegertochter in spe immer genannt hatte, von Anfang an ins Herz geschlossen gehabt.

»Ich werde wohl noch ein paar Tage in Marburg bleiben.« Liva musste an ihr Reportage-Seminar denken und daran, dass sie bis Donnerstag ihr Abschlussthema einzureichen hatte. Wenn sie mit den vielen unentschuldigten Fehlstunden überhaupt zugelassen wurde. Eigentlich konnte sie es sich gerade jetzt gar nicht erlauben, dem Unterricht fernzubleiben.

»Cool, dann lass uns doch morgen in Ruhe einen Kaffee zusammen trinken«, Melli umarmte sie kurz, schnappte sich ihre Handtasche und schaute auf die Uhr. »Sorry. Ich muss los. Meldest du dich? Meine Nummer ist noch die alte. Und sag mir bitte Bescheid, sobald ich Theresa besuchen kann.«

Theresa also. Nicht mehr Frau Lohrey. Dann duzten sich die beiden inzwischen. Da war dann wohl hinter ihrem Rücken eine innige Frauen-Freundschaft entstanden. Vielleicht ja auch eine Art Mutter-Tochter-Verhältnis, wo sich die eigene Tochter rargemacht hatte. Na, dann mal herzlichen Glückwunsch.

Liva beobachtete durch die Scheibe, wie Melli draußen auf dem Parkplatz in einen blauen Berlingo stieg, dessen hintere Fenster mit einem kunterbunten Biene-Maja-Sonnenschutz verdunkelt waren. Dann brauste sie in hohem Tempo vom Parkplatz, tangierte dabei beinahe einen Mann mit Krücken, der hinter einem Auto hervorgehumpelt kam. Die leidenschaftliche Fahrradfahrerin und Umweltaktivistin hatte sich in eine Tussi mit Familienkutsche verwandelt. Strange.

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