Kitabı oku: «Seidenkinder», sayfa 2

Yazı tipi:


Kapitel 2

Anne stand vor dem Spiegel und trug sorgfältig etwas Lippenstift auf, dezent, rosig. Sie lächelte sich selber zu und sagte: „Anne, sei mutig! Du schaffst das.“ Ein kurzer Schwindel überkam sie bei dem Gedanken, dass sie in diesem letzten Abschnitt ihres Lebens noch so scheinbar unendlich viel zu erledigen hatte. So viele Geheimnisse mussten bewahrt, andere dagegen dringend enthüllt werden. Sie warf sich einen letzten trotzigen Blick zu und ging die Treppe hinunter in die Küche.

Wie jeden Morgen nutzte sie die vierundzwanzig Stufen, um sich auf die ersten Begegnungen des Tages vorzubereiten. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter würden beide eine Tasse heißen Kaffee vor sich stehen haben, daneben ihren jeweiligen Lieblingsteil der Tageszeitung. Sie fragte sich, ob Matt jemals etwas anderes las als innen- und außenpolitische Neuigkeiten und ob Amys Welt nicht ohnehin nur ein einziges Feuilleton war. Die beiden würden nicht viel reden, sie mit einem kurzen Nicken begrüßen und wieder zwischen den Zeilen versinken. Anders Tom, ihr Enkel, der sich tatsächlich immer noch jeden Morgen zu freuen schien, sie zu sehen. Und das war jetzt seit seiner Geburt vor siebzehn Jahren so.

Als sie die Küche betrat, spürte sie sofort, dass etwas Wichtiges geschehen sein musste. Wenn es wohl auch noch nicht zur Sprache gekommen zu sein schien, denn alle schwiegen. Sie sah zu ihrem Sohn hinüber und ihre Blicke trafen sich. Wärme überkam sie und die Gewissheit von Verbundenheit und Verstehen. Es war wieder so weit. Er würde sie erneut für eine Weile verlassen. Sie wusste es sofort. Sie riss sich zusammen, um nicht ihren ersten Impuls laut zu äußern: Bitte, entscheide dich diesmal aber endlich für das richtige Land!

Matt wusste später nicht mehr, warum ausgerechnet dieser Zeitungsartikel ihn so berührt hatte. Vielleicht lag es an seiner eigenen Angst vor Wasser. Schwimmen hatte er eigentlich nie richtig gelernt, was für einen Jungen in Kalifornien, der wie alle seine Freunde einen großen Pool im Garten hatte, äußerst ungewöhnlich war. Die Vorstellung, nachts im Schlaf von einer nassen Flut überrascht zu werden, war einfach unerträglich. Die Bilder, die der kurze Artikel in ihm auslöste, waren schrecklich. Er sah ganze Dörfer, die weggeschwemmt wurden, weil niemand der Bevölkerung rechtzeitig Bescheid gesagt hatte. Er sah Kinder. Er sah die gigantischen Mauern eines Staudamms. Und spürte plötzlich den spontanen Wunsch, nach Indien zu reisen.

Er hatte solche Gedanken schon früher gehabt, war in Nicaragua gewesen, in Brasilien, in Israel und Palästina, in Südafrika. Er hatte sich als Wahlbeobachter engagiert und in der Entschuldungskampagne, hatte immer wieder kleine Projekte unterstützt, die ihn überzeugten, sich als Anwalt eingemischt, für amnesty gearbeitet. Aber Indien war bisher nicht in seinen Plänen vorgesehen gewesen. Er reiste gerne. Aber nicht, um Urlaub zu machen, sondern um die Welt kennenzulernen, um zu verstehen und, wenn es möglich war, um irgendwie zu helfen. Um zu tun, was er konnte. Er hatte genug Geld verdient, jetzt fragte er sich, wozu.

Er sah seine Frau an und nahm ihre Hand, drückte sie kurz, beugte sich zu ihr und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange. Sie dankte es ihm mit einem Lächeln, allerdings ohne sich auch nur einen Moment wirklich ablenken zu lassen. So war sie, Amy. Er sah seinen Sohn an, Tom. Die perfekte Mischung aus Amy und ihm selbst. Er hatte ihren Stolz, aber nicht ihr Misstrauen, seine Zugänglichkeit, aber nicht seine Leichtgläubigkeit. Er hatte außerdem ihren Sinn für Kunst und Logik und sein Faible für Sprachen. Lange Beine wie sie beide und seine hohe Stirn. Und er hatte die Liebe, die beide diese siebzehn Jahre lang an ihn weitergegeben hatten. Ob er eher ihren Ehrgeiz oder seinen Idealismus geerbt hatte, würde sich wohl erst in den kommenden Jahren herausstellen. Er sah ihn an und ein zweiter Gedanke überkam ihn, ebenso heiß wie der plötzliche Wunsch, nach Indien zu reisen: Er würde Tom mitnehmen. Diesmal würde ein Sohn ihn begleiten und sie beide, ein Vater und sein Kind, würden gemeinsam eine neue Welt entdecken.

Manchmal dachte er, dass seine Mutter tatsächlich Gedanken lesen konnte. Auf ihrem Gesicht lag in diesem Moment so etwas Friedliches, wie ein Schimmer von tiefer Freude, unterstützt vielleicht von dem zarten Rosa ihres Lippenstiftes. Sie sah auf die Zeitung, die vor ihm lag, und dann hoch zu ihm. Ihre Blicke trafen sich. Er wusste, sie hatte wahrgenommen, dass er den Artikel über das Narmada-Tal gelesen hatte. Sie hatte Tränen in den Augen und nickte ihm zu. „Endlich“, sagte sie. „Endlich wirst du nach Indien reisen.“

Amy guckte fragend Matt an, der unsicher und wie ertappt sagte: „Der Gedanke kam mir tatsächlich gerade erst, heute Morgen, als ich diesen Artikel hier las.“

Amy las schnell die Überschrift und fragte leise: „Und wann? Wann wirst du dorthin reisen?“

Matt zögerte, als würde er auf eine innere Uhr hören, und meinte dann: „Im Frühjahr, wenn Tom mit der Schule fertig ist. Ich will, dass Tom diesmal mitkommt.“ Amy stand auf, ging zum Kaffeeautomat. Das Zermahlen der Bohnen dröhnte in der Stille wie ein feindlicher Hubschrauber im Anflug.

Mit einer Tasse frischem Espresso kam sie zurück an den Küchentisch und sah jetzt herausfordernd ihre Schwiegermutter an. „Und du? Was sagst du dazu? Wirst du deinen Sohn wieder mit deinem Segen ziehen lassen? Und wirst du auch erlauben, dass er diesmal sogar deinen Enkel mitnimmt? Dass er ihn mit hineinzieht in diesen Spleen, die Welt zu verbessern, der offensichtlich niemals enden will?“

Amy sah herausfordernd in die Runde am Tisch, sah die tiefen dunklen Augen ihrer Schwiegermutter, die unruhig suchenden Augen ihres Mannes. Dem irritierten Blick ihres Sohnes wich sie schnell aus, schüttelte den Kopf und setzte sich auf ihren Platz. In der rechten Hand hielt sie die kleine Kaffeetasse, mit der linken strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, steckte eine Strähne hinter das linke Ohr, zuckte die Schultern, griff wieder nach der Zeitung, begann zu lesen und atmete dann, wie um das Ganze abzuschließen, hörbar aus. Wieder einmal fragte sich Anne, wie ein Mensch so viel Verachtung in so ein kleines Geräusch wie ein Schnauben legen konnte. Eine Weile sagte niemand etwas. Angespannt warteten alle darauf, wie dieses Gespräch wohl weitergehen würde. Von Amy würde sicherlich nicht der nächste Impuls ausgehen, sie las betont interessiert den Artikel.

Anne blickte ruhig vom einen zum anderen, räusperte sich, nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und sagte dann: „Ich bitte dich, Amy, lass ihn gehen.“ Und dann, an ihren Sohn gewandt: „Und dich bitte ich, in Indien einen Auftrag für mich zu erfüllen. Ich wünschte, ich könnte selbst reisen, aber ich bin zu alt. Deshalb musst du jemanden für mich finden und etwas für mich erledigen.“

Damit stand sie auf, nickte in die Runde, scheinbar ohne jemanden besonders zu meinen, und sagte in einem Ton, der kein Nachfragen und erst recht keine Diskussion erlaubte: „Ich habe noch eine Menge zu erledigen, bevor du abreist.“ Und damit verließ sie die Küche.

Sie ging und ließ die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen. Am Fuß der Treppe blieb sie kurz stehen, als müsse sie innerlich für sich klären, ob dieses Gespräch ihr Kraft gegeben oder ob es sie Kraft gekostet hatte. Sollte sie mit dieser überraschenden neuen Aussicht, dass ihr Sohn nach Indien reisen würde, die Treppe hinauflaufen wie ein junges Mädchen und zwei Stufen auf einmal nehmen wie früher, weil diese Wende, die sich mit diesem Morgen andeutete, sie beschwingte? Sie entschied sich, der anderen Stimmung zu folgen, und ging bedächtig Stufe für Stufe nach oben, das Tempo nicht nur angemessen für eine ältere Dame, sondern sie würdigte damit auch die Aufgabe, die vor ihr lag, und den teuren Gedanken, dies könne die letzte große Tat in ihrem Leben sein.

Oben angekommen merkte sie, wie ihr Herz klopfte, und der Takt schien sich mit Hämmern in ihrem Kopf, hinter ihren Schläfen, fortzusetzen. Eine Flut von Bildern und Worten, Erinnerungen, geflüsterten Versprechen, Geräuschen, Farben und Gerüchen wollten all ihre Aufmerksamkeit, wie die Kinder einer ihrer Schulklassen früher, die sie umringten, ihr etwas zuriefen, an ihrem Rock zupften, ihre Hand nahmen. Sie war zu alt für dieses Durcheinander im Kopf. Im Herz, dachte sie. Es ist das Herz, das noch einmal gefordert ist, wenn alte Geschichten, die begraben waren, neu zum Leben erweckt werden. Mit diesem Gedanken setzte sie sich in ihren großen alten Sessel am Fenster, legte die orangefarbene Wolldecke auf ihre Knie, nahm ihr Tagebuch zur Hand und begann zu schreiben.

In der Küche war Tom der Erste, der die Stille unterbrach, allerdings nur mit einem fragenden Wort, das dann allein im Raum stand: „Indien?“ In seiner Stimme lag dabei etwas Ungläubiges, ein Staunen. Und jetzt schien es, als würden sie alle drei vorsichtig um dieses eine Wort schleichen, würden sich anpirschen, um sich sehr behutsam zu nähern.

„Indien“, wiederholte Tom nach einer Weile schließlich, aber bevor er noch sagen konnte, was dieses Wort in ihm auslöste, unterbrach seine Mutter ihn schon und meinte: „Seid ihr jetzt alle verrückt? Indien liegt am anderen Ende der Welt. Was haben wir mit diesem Land zu tun? Aber das hat dich ja noch nie gehindert, hier alles im Stich zu lassen. Gibt es in unserem eigenen Land nicht genug zu tun? Was ist so schlimm an Amerika, dass du ihm ständig den Rücken kehren musst? Brasilien, Israel, Südafrika - du bist fast fünfzig und immer noch auf der Reise? Findest du das nicht lächerlich? Was suchst du eigentlich? Was ist so toll daran, weit weg zu reisen? Langweile ich dich? Ist es das?“

Amys Stimme war immer schriller geworden und als Matt beruhigend sagte: „Amy, Schatz, jetzt mach doch nicht gleich wieder etwas Persönliches daraus“, fing sie an zu weinen und meinte unter Tränen und mit kalter leiser Stimme: „Wie soll ich das nicht persönlich nehmen, wenn immer alles reizvoller ist als das Leben an meiner Seite?“

Anne saß oben in ihrem Sessel. Obwohl sie keines der Worte hörte, die unten in der Küche ihrer Kinder gewechselt wurden, ahnte sie, wie sich das Gespräch entwickelte. Amy würde Matt anfahren, mit lauten und scharfen Worten, ihm Vorwürfe machen, ihn zum zigsten Mal einen Weltverbesserer nennen und sich dann zurückziehen, verletzt und unerreichbar für ihn. Matt würde immer stiller werden, würde erst noch eine Weile versuchen, um sie zu werben, und es dann müde aufgeben und sich ebenfalls in seine Welt zurückziehen. Tom würde dabeisitzen und nicht verstehen, wie zwei erwachsene Menschen so aneinander vorbeireden können. Aneinander vorbeileben, dachte sie.

Es kam ihr vor, als würden ihr Sohn und seine Frau tatsächlich in zwei völlig verschiedenen Welten leben. Matt in einer Welt, die aus Nationen und Mächten, Geschichte, Wirtschaftsinteressen und Systemen, Ideologien und großen Zusammenhängen bestand. Er hatte sich nie damit abfinden können, wie diese Welt tickte. Er hatte immer versucht, zu verstehen. Zu hinterfragen. Den Konflikten auf den Grund zu gehen. Hinter die Kulissen von Wahlergebnissen und Reden zu blicken. Er hatte immer betont, dass jede Stimme zählt. Dass jeder Mensch einen Beitrag leisten konnte. Leisten musste. Dass man sich nicht gewöhnen durfte an die Gewalt. Dass Gleichgültigkeit die unmenschlichste Regung von allen war und Desinteresse eigentlich nicht zu verzeihen. Er hatte die unmöglichsten Fälle vor Gericht durchgefochten, angeklagt, verteidigt, um Gerechtigkeit gekämpft.

Amy lebte in einer Welt, die aus Tanz, Musik, Ballett und Theater bestand. Sie trainierte hart und der Erfolg gab ihr recht, zumindest innerhalb ihres Wirkungsbereichs.

Als die zwei sich kennengelernt hatten, damals an der Universität, waren sie beide rebellisch gewesen und hatten sich gegenseitig inspiriert mit Ideen, das Establishment aufzurütteln. Amy hatte die Bühne nutzen wollen, um die allzu Sesshaften mit ihren Tanz-Inszenierungen aus den Sitzen zu holen und wachzurütteln. Mit der Zeit aber, so dachte Anne, hatte sie diese Ziele und Ideale aus den Augen verloren und war selbst immer mehr Teil einer künstlichen Theaterwelt geworden. Ihre jetzige Protesthaltung wirkte zu gewollt. Und wenn sie das Publikum auch animierte, aufzustehen, konnte sie ihm doch nicht genau sagen, wofür oder wogegen eigentlich. Matt hatte ihr ihren Erfolg immer gegönnt, sie unterstützt. Aber er hatte sie gleichzeitig auch beständig dazu herausgefordert, sich treu zu bleiben. Bis er ihr irgendwann vorwarf, ihre gemeinsamen Ideale verraten zu haben. Nur um im Gegenzug von ihr zu hören, dass er nie wirklich erwachsen geworden sei und auf dem Niveau eines Träumers lebte.

Anne wurde traurig bei dem Gedanken, wie wenig sich die beiden inzwischen noch zu sagen hatten. Sie dachte an eine kleine Szene, die ihr offenbart hatte, wie es um ihren Sohn und seine Frau stand: Amy war schweißgebadet vom Training oder vom Joggen, sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, nach Hause gekommen und war in die Küche gegangen, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Matt hatte sie vom Treppenabsatz aus gesehen und einen kleinen Kommentar abgegeben: „Was für ein Luxus, in einer Welt zu leben, in der einen sonst nichts mehr zum Schwitzen bringt.“

Ob er gewollt hatte, dass Amy diesen spitzen Satz hörte, war Anne nicht klar. Aber sie hatte ihn gehört. Und seit diesem Tag war sie immer seltener zu Hause, blieb immer häufiger im Theater, auch über Nacht, wie, um seinem Zynismus auszuweichen. Anne wusste, dass hinter den bissigen Worten eine tiefe Unruhe lag, eine Sehnsucht, wirklich etwas zu verändern. Und sie wusste, dass sie selber ihrem Sohn diese Haltung vererbt hatte, anerzogen, weitergegeben. Wenn diese Sehnsucht ihn jetzt nach Indien bringen würde, könnte er vielleicht sein Glück finden, dachte sie. Aber er musste seinen eigenen Weg dorthin finden, sie würde sich nicht zu sehr einmischen dürfen. Wie sie sich wünschte, er würde Priya sehen! Und Priya würde ihn sehen - und sie würden das alte Versprechen einlösen können, das sie sich gegeben hatten. Sie merkte, wie unruhig sie bei dem Gedanken wurde. So war es immer schon gewesen: Wenn ihr etwas wirklich am Herzen lag, wollte sie unbedingt, dass Matt es mit ihr teilte. Aber er sollte es freiwillig tun, selbstständig.

Sie kreuzte die Arme vor dem Oberkörper, schloss die Augen und begann sich selbst hin und her zu wiegen. Dazu summte sie ein Kinderlied, aus einer anderen Welt.


Kapitel 3

Priya stand vor der Tür ihres Hauses. Gleich würde Jaya kommen und sie wollte ihn heute direkt hier empfangen. Der Himmel war den ganzen Tag über schon strahlend blau gewesen, die Sonne heiß. Die Mangos am Baum waren reif, auch heute Abend würden sie wieder eine Frucht essen können.

Ein Geräusch ließ sie aufhorchen und zum Nachbargrundstück hinüberschauen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte sie die Tochter ihrer Nachbarin, die auf dem Boden vor dem Eingang zu ihrem Haus kniete und traditionelle Ornamente auf den Boden malte. Sie grüßten einander freundlich, die jüngere Frau verbeugte sich, aber Priya gab ihr mit einem Lachen und einem Wink zu verstehen, dass sie es nicht übertreiben solle mit diesen Gesten des Respekts, weil sie sich lieber unterhalten wollte.

Shanti war gerade einmal sechzehn Jahre alt. Sie würde wahrscheinlich demnächst verheiratet werden. Dass ihre Mutter es ihr überließ, die althergebrachten Verzierungen zu malen, sprach dafür, dass sie wie eine erwachsene Frau angesehen wurde. „Was malst du?“, wollte Priya wissen. Shanti trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick frei auf das Muster. Es zeigte eine Lotusblüte, ganz nach herkömmlichem Vorbild. Priya nickte anerkennend, die junge Frau hatte sehr sorgfältig und ebenmäßig gearbeitet. Die Blüte wirkte sehr symmetrisch; ihre Mutter würde zufrieden sein. Priya schaute noch genauer hin und musste sich dafür auf die Zehenspitzen stellen, um über die Hecke sehen zu können.

„Aber womit malst du denn da?“, fragte sie und Shanti zeigte ihr ein Stück Kreide. Priya schüttelte ärgerlich den Kopf. „Warum nimmst du nicht gemahlenen Reis?“

Aber Shanti konnte nur mit den Schultern zucken. Priya wollte gerade anheben, die junge Frau zu belehren, entschied sich dann aber dagegen. Sie behielt ihre Gedanken für sich. Aufmunternd und zum Abschied nickte Priya ihr zu, lobte sie noch einmal für die Genauigkeit, mit der sie gearbeitet hatte, und ließ einen Gruß an ihre Mutter bestellen. Sie wandte sich wieder ihrem Haus zu, drehte sich dann aber im Gehen doch noch einmal um und forderte Shanti auf, ihre Mutter danach zu fragen, seit wann die Ornamente mit Kreide gemalt wurden statt mit zermahlenem Reis.

Priya setzte sich auf die Stufen vor ihrer Haustür. Der Reis gäbe den Ameisen Futter und würde so verhindern, dass sie ins Haus kämen. Über diesen praktischen Nutzen hinaus war es aber auch eine religiöse Handlung, auf diese Weise Reis zu opfern. Priya selbst hatte sich von den hinduistischen Traditionen ihres Landes gelöst, aber sie dachte doch, dass Bräuche, wenn man sie denn ausübte, auch ihren Sinn behalten müssten und dass Eltern ihren Kindern diesen Sinn begreiflich machen sollten. Sonst sähen die Kinder eines Tages nicht mehr ein, warum sie eine Tradition bewahren sollten. Warum Rituale pflegen, deren Bedeutung man nicht mehr verstand? Von solchen Bräuchen würde man sich über kurz oder lang lösen.

Sie setzte sich auf ihren Lieblingsplatz, die Treppen vor ihrem Haus. Ornamente und gemahlenen Reis gab es hier nicht. Aber sie hatte einige Niemblätter auf den Stufen ausgebreitet, grüne und einige junge kleine Blätter, die bei diesem Baum rötlich, pink waren. Mit dem Niembaum verbanden sich viele alte Geschichten, dem Baum, seinen Blättern, seinen weißen Blüten und dem Öl seiner Früchte wurden magische Kräfte zugeschrieben, ja manche meinten auch, dass im Niembaum ein Gott wohne. Früher hatte sie gesehen, wie ihre Tante und die anderen Frauen Niemblätter in ihre Kleider nähten und sich davon eine Art übermenschlichen Schutz versprachen. Für Priya war ein Baum ein Baum, kein Gott. Aber sie wusste auch, dass hinter den alten Riten oft nicht einfach ein naiver Aberglaube steckte, sondern etwas Wahres oder eine alte Weisheit. Sie wusste, dass sie nicht wie ihre Tante mit einer unbestimmten Angst vor den Göttern leben wollte, ständig darum bemüht, Geister und Kräfte zu beruhigen oder durch bestimmte Riten für sich zu gewinnen. Dennoch, sie wollte immer gerne herausfinden, ob mit einem Ritual eine hilfreiche Erkenntnis verbunden war, und war immer bereit, zu glauben, dass hinter einer Tradition etwas zum Vorschein kam, das dem Leben diente. Und wenn diese Entdeckung ihren eigenen spirituellen Auffassungen nicht widersprach, würde sie die Erkenntnisse, ihre tiefe Weisheit, vielleicht sogar die Rituale dann auch gerne bewahren.

So hatte sie als Erstes entdeckt, dass der Niem gegen Bakterien und Viren wirkte, und sie hatte schon damals, als ihre Kinder noch klein waren, ihren Husten damit gelindert. Oder einmal hatten ihre Kinder und die des weißen Missionars auch alle miteinander Kopfläuse gehabt und sie hatte ein bestimmtes Gemisch aus den Blättern und dem Öl des Niems genommen und die kleinen Insekten damit besiegt.

Ihr Sohn Jaya war ein echter Gärtner. Hier, rund um ihr kleines Haus und auch in dem Garten hinter dem Kinderheim, erst recht aber auf dem großen Gelände in den Bergen, wo das Kinderhilfswerk ein Camp führte, hatte er schon oft bewiesen, dass er geschickt war im Umgang mit Grün, im Aufziehen von Bäumen und im Züchten von verschiedenen nützlichen Pflanzen. In den Bergen gab es Obstbäume, Orangen, Mangos, Feigen und Granatäpfel, es gab Bohnen, Erbsen, Okra, Kartoffeln, Kräuter wie Petersilie, Thymian, Salbei, Koriander, kleine Beeren, rote und schwarze Johannisbeeren, sogar Kaffee und ein Meer aus Blumen, die jeweils zu ihrer Zeit dem Camp seine Farbe verliehen. Jaya hatte ihr erklärt, dass er das Öl aus dem Niemsamen zur Schädlingsbekämpfung nutzte und als Dünger. Er hatte sie aufgefordert, die alte Tradition, Niemblätter um das Haus zu verteilen, weiter fortzusetzen.

Auf ihre ängstliche Frage, ob er glaube, dass der Niembaum göttliche Macht habe, hatte er sie kurz umarmt und dann geantwortet: „Gott hat göttliche Macht - und ist ein weiser Schöpfer aller Bäume und ein großzügiger Erfinder vieler wunderbarer Geheimnisse, die das Leben unterstützen. Und es ist sehr aufregend, wenigstens einige von ihnen zu entdecken.“ Sie stimmte ihm zu.

Jetzt wartete sie auf ihn. Sie nahm eins der kleinen rosafarbenen Blätter in die Hand und zupfte daran, roch den Geruch an ihren Fingern, legte es wieder aus der Hand. Sie freute sich darauf, die Gedanken dieses Tages mit Jaya zu teilen. Wie, um sich besser auf ihn vorzubereiten, überlegte sie schon einmal, was er wohl an diesem Tag erlebt hatte, welchen Menschen er begegnet und an welchen Orten er gewesen war.

₺262,90
Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
431 s. 3 illüstrasyon
ISBN:
9783865064417
Yayıncı:
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip