Kitabı oku: «Aus dem kalten Schatten», sayfa 2

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»Hi Paul«, meinte der. »Kann nicht sagen, dass ich mich freue, dich heute zu sehen. Was verschlägt dich in die Gegend?«

Paul legte den Arm um Craigs Schultern. »Mein lieber Freund Craig hier. Sehnsucht nach den alten Zeiten, stimmt’s, Craig? Und Zahnweh.« Vorsichtig befühlte er bei der Gelegenheit seine Wange – alles schien gut. Stanton schob fragend die Augenbrauen zusammen.

»Und natürlich das Mädchen«, fügte Paul rasch hinzu. »Böse Sache. Hätte mir meinen Tag anders gewünscht.« Ava neben ihm schniefte erneut in ihr Taschentuch. Stanton atmete zischend aus.

»Es gibt so Zeiten …« Mit einem Seufzer brach er ab. Paul vollendete den Satz in Gedanken. … Zeiten, in denen man seinen Job als Ermittler verfluchte.

»Wer hat das Mädchen gefunden?« Stanton blickte in die Runde.

»Es war der Hausmeister, Mr Faulkner«, erwiderte Ava. »Er sagt, er kann sich keinen Reim darauf machen, wie sie nach draußen gelangt ist. Vorder- und Hintertür der Halle waren sorgfältig abgeschlossen. Und nur Mr Faulkner und ich haben einen Schlüssel.« Sie zog einen Schlüsselbund aus ihrer Rocktasche und hielt ihn den Beamten unter die Nase. Das hieß, der Täter musste sich hinter Avas Rücken einen Schlüssel verschafft haben.

»Ah, da ist ja Mr Faulkner!«, rief Ava aus und deutete auf den Mann mittleren Alters mit ausgeprägter Stirnglatze, der soeben zu ihnen trat. Er sah seine Chefin nicht an, als er sich den Beamten mit seinem Namen vorstellte.

»Bin noch mal in mich gegangen«, sagte er kleinlaut zu Paul. »Kleiner Nachtrag zum Thema Schlüssel. Ist schon einige Wochen her – also die Sache ist die: Margie hat jetzt auch einen.«

»Margie Fox, die Garderobiere?«

»Genau. Sie bringt manchmal Sachen zum Lüften raus. Sie glauben gar nicht, wie die Frau nerven kann: ´Wenn man Sie braucht, Faulkner, sind Sie verschollen. Wo treiben Sie sich bloß ständig herum? Vermieten Sie ihr Büro doch unter!` Was soll ich sagen? Seither ist Ruhe.«

»Sie haben – was? Faulkner! Ich glaube, ich höre nicht recht. Ohne es mit mir zu besprechen? Das gibt eine saftige Abmahnung, ist Ihnen das klar?«

Pauls Blicke flogen von Faulkner zu Ava. Es war ganz sicher eine gute Idee, die beiden Streithähne zügig zu trennen. Sollten sie doch später ihren Kleinkrieg unter vier Augen austragen. Die Art und Weise, wie sie miteinander umgingen, überzeugte ihn davon, dass zwischen Chefin und Mitarbeitern nicht immer eitel Sonnenschein herrschen dürfte. Wie hatte Ava wohl menschlich zu Suzan Wickles gestanden?

»Danke, Mr Faulkner, wir kommen dann später auf Sie zurück.« Stanton nahm Paul das Wort aus dem Mund. Faulkner sowie vor allem die festen Mitarbeiter von Ava Davi würden in diesen Tagen noch ein ausführliches Interview mit der Polizei haben, ob in den Ateliers oder auf der Dienststelle.

Die Leute waren in die Häuser gegangen und hatten Suzan ihrem letzten Date mit den Ermittlern überlassen. Paul, Craig und Ava waren Stanton zurück an den Tatort gefolgt.

»Miss Wickles Blut konzentriert sich auf sehr begrenzte Bereiche«, stellte Stanton fest, mit einer halbkreisförmigen, das Opfer und den Baum umfassenden Bewegung seiner Arme.

Paul nickte. »Die Messerattacke als Todesursache schließe ich aus. Das Wesentliche dürfte sich direkt hier an Ort und Stelle abgespielt haben.« Still betrachtete er die Tote. »Wahrscheinlich hat der Kerl sie bedroht, mit dem Dolch. Sie haben zusammen den Hof betreten. Oder war das Opfer vorher schon da? Das Mädchen musst noch gelebt haben, als der Kerl mit dem Dolch …« Aber das wollte er sich noch nicht einmal ansatzweise vorstellen. Endlich entledigte er sich der Handschuhe und ließ frische Luft an seine Haut.

»Was macht dich da so sicher?«, klinkte Craig sich ein.

Paul deutete auf den kleinen roten Fleck direkt unterhalb des Mädchens. »Sie hat kein Blut im restlichen Hof verloren, und sobald das Herz stillsteht, hört der Blutfluss auf. Ich wundere mich nur … Außer ein paar kleineren Blutergüssen an den Armen sind kaum Kampfspuren zu erkennen.« Der eine oder andere Zweig in der näheren Umgebung der Leiche war abgebrochen, doch das war es dann auch schon, was auf ein Gefecht hindeuten mochte.

Craig nickte. »Könnte auf eine Sedierung vor dem Tod hinweisen«, ergänzte er Pauls scharfsinnige Kombinationen. Paul nickte grimmig. Das hoffte er.

»Die Platzwunde seitlich am Kopf?«, fragte Craig.

»Womöglich ein Sturz, in letzter Sekunde. Aber warten wir den Bericht des Coroners ab.«

»Eins steht fest: Der Täter hat ein Faible für Theatralik«, meinte Stanton und in der Tat sah das Ganze aus wie die bühnenreife Inszenierung eines Thrillers. Der in diesem Hinterhof seinen Anfang genommen hatte. Suzan Wickles Teint schimmerte bleich im Sonnenlicht hinter blütenübersäten, doch noch blattlosen Zweigen des Jacarandas. Selbst jetzt, dachte Paul bitter, brauchte das Mädchen die Kamera nicht zu scheuen. Er wünschte, es wäre so, und Suzan gäbe nur die hübsche Leiche für »CSI New York« ab. Leider war das hier echt.

Stanton suchte Pauls Blick. »Ich teile deine Theorie. Sie muss noch gelebt haben, als der Kerl zustach.«

Erst als Ava aufstöhnte, wurde Paul klar, was sie angerichtet hatten. Ava war definitiv keine Kandidatin für die deutlichen Dienstgespräche. Ruhig, sachlich und diskret bleiben, egal was kommt. So wenig wie möglich preisgeben und nach außen dringen lassen. Die Basics lernte man früh im Beruf. Darin enthalten war bei Befolgung ein gewisser Eigenschutz vor den unberechenbaren Emotionen der Leute.

»Craig, würdest du bitte?«

»Klar, Chief. Kommen Sie, Mrs Davi, wir gehen schon mal rein.«

»He Boss?«, rief einer der jüngeren Ermittler von der anderen Baumseite her. »Ich hab da was für Sie.« Automatisch drehte Paul sich zu ihm um, nur um festzustellen: Er war gar nicht gemeint. Er spielte nicht mehr in dieser Liga, die Zeit als Detective war lange vorbei und er zum Bürohengst mutiert, zu einem, dem man die Fälle in schriftlicher und digitaler Form unterbreitete. Es stimmte, was Craig sagte. Man lebte weniger gefährlich. Doch im Grunde seines Herzens war Paul der Macher geblieben. Auch wenn er nur zufällig in die Sache hier hineingeschlittert war: Wie konnte er stillhalten und darauf warten, dass andere den Job erledigten, Beweismittel sicherstellten, Puzzleteil für Puzzleteil aneinanderfügten und den Täter dingfest machten?

Dass er in der Chefetage saß, lag nur an den Frauen. An Jade, die schon zu Uni-Zeiten nichts mehr von ihm hatte wissen wollen, sodass er sich neben belanglosen Frauengeschichten in die Arbeit gestürzt hatte. An seinem verstorbenen Töchterchen Florina, dem er ein besseres Leben hatte bieten wollen, als er es in seiner kargen Kindheit in Minnesota gehabt hatte. An seiner Ehefrau Mia, die der Kaufsucht erlegen gewesen war, gern schöne Kleider getragen, Gäste eingeladen und das Haus mit hübschen Dingen ausgeschmückt hatte, um die Tatsache zu verdrängen, auf welch dünnem Eis sich ein einfacher Cop wie Paul bewegte. Dass jeden Tag und jeden unbedachten Moment irgendein Irrer ein Messer zücken konnte …

»Ich muss dann«, sagte Stanton. »Halt die Ohren steif, Paul! Mrs Davi, Officer!«

Paul warf einen letzten Blick auf Suzan, um sich danach ebenfalls in Richtung Ausgang zu wenden und das Einsatzteam seine Arbeit machen zu lassen. Mehrere Männer waren mit der Bergung der Leiche mittels einer Bahre beschäftigt. Ein jäher Windzug ließ blau-lila Blüten auf ihr Haar regnen. Die Szene hatte etwas kindlich Verspieltes und gleichzeitig bot Suzan ein Bild des Schreckens und der maßlosen Grausamkeit.

Im Nest unter dem Vordach suchte er beim Verlassen des Hofes nach dem Goldzeisigjungen. Er hatte kein Glück. Das niedliche Ding hatte inzwischen wohl seine Flügel entdeckt.

Kapitel 3

Manhattan

Jade

9:00 Uhr

Vom Treppenhaus her kamen Stimmen auf, laut und erregt. Jade und Ava folgten ihnen in Windeseile und fanden sich gleich darauf im Erdgeschoss wieder. Feueralarm fegte durch die Flure wie ein wild gewordener Drache.

»Was verflucht …« Jade blieb keuchend stehen. Ava war hinausgeeilt, um mit den Feuerwehrleuten zu reden. Sich zitternd am Treppengeländer festhaltend, starrte Jade durch die Scheiben auf den Vorplatz. Zwei Einsatzwagen standen dort und irgendwo musste es brennen. Doch Jade sah nicht das geringste Flämmchen.

Zwei Mädchen rannten an ihr vorüber. »Endlich mal was los in dem öden Kasten«, sagte die eine ganz aufgeregt zur anderen. Jade aber schloss die Augen, um ruhigeren Atem bemüht.

Vermutlich hatte keiner von diesen Leuten hier je einen Brand hautnah miterlebt. Sie hatten ja keine Ahnung, was es mit einem machte, vor haushoch lodernden Flammen zu stehen, beißenden Rauch in den Lungen, Angst um sein nacktes kleines Leben.

Es gelang ihr nicht, die Bilder von damals zu vertreiben. Ihre Nanny und ihr eigener Vater, den sie liebevoll Daddy-one nannte, waren in einer lauen Sommernacht bei lebendigem Leibe verbrannt, als Jade fünf Jahre alt gewesen war. Damit war sie zur Vollwaise geworden, denn Mom war bereits kurz nach Serahs Geburt für immer gegangen.

Sie sah ihren Bruder Flynn und seinen Freund Joe aus der Nachbarschaft, Serah und sich selbst vor sich, das unzertrennliche Kleeblatt des Viertels. In den weit aufgerissenen Augen der Mädchen das lichterloh brennende Abbild der katholischen Kirche St. Ignatius Loyola. Und sie hörte noch ihre eigenen verzweifelten Rufe. »Daddy! … Dada! …« So hatte sie ihre Nanny, Dara, genannt. Wie sie ausgesehen hatte, das war eines der wenigen Dinge, an die sie sich deutlich erinnerte: braune Augen, braunes Haar und ein olivfarbener Teint, fast so dunkel wie Jades Ankleidepuppe.

Der Alarmton stoppte. »Was ist denn passiert?«, fragte Jade ein Mädchen, das von draußen hereinkam. Ihre Knie zitterten immer noch.

»Sie haben … irgendwas mit Suzan Wickles … ehrlich? Keine Ahnung. Jemand hat wohl den Alarmknopf gedrückt.«

Jade spürte ihr Herz bis zum Hals schlagen. »Kein Feuer?« Das Mädchen zuckte mit den Schultern und ging weiter. Selbst von Brandgeruch war keine Spur, auch wenn seit Wochen derartige Trockenheit und Hitze herrschten, dass man auf den Kühlerhauben Spiegeleier braten konnte.

Aber … und das drang erst jetzt zu ihr vor: Was hatte das Mädchen gesagt – mit Suzan sei etwas passiert? Jade spürte, wie ihr Hals eng und ihre Hände kalt wurden. Zwei Feuerwehrleute bewegten sich Richtung Hauseingang, und Ava kehrte mit ihnen, kreidebleich, ins Gebäude zurück. Sie sah Jade nicht in die Augen, als sie an ihr vorüberging.

»Ähm, Jadie … für dich gibt’s hier heute nichts mehr zu tun«, murmelte sie, mit dem Blick krampfhaft am Boden. »Fahr nach Hause. Wir telefonieren.« Sie konnte Jade nichts vormachen. Ihre monotone Stimme … und Suzan … was war hier los?

»Wohin gehst du?«, wollte sie wissen und heftete sich Ava und den Männern frech an die Fersen.

»Verschwinde, Jade!« Wenn Ava unter Druck war, konnte sie irgendwie … gewöhnlich werden.

»Einen Teufel werd ich! Rede mit mir! Was ist mit Suzan?«

»Ist wirklich kein schöner Anblick«, warnte Ava sie noch, aber dann gab sie, selbst reichlich genervt, den Widerstand auf und ließ es geschehen, dass Jade ihr in den Innenhof folgte.

9:10 Uhr

Die plötzliche Konfrontation raubte ihr fast den Verstand. Für einen Moment schwankte sie und war einer Ohnmacht nahe. Zwei Schritte vor Suzans Leiche war sie wie angewurzelt stehen geblieben, weil sie Angst hatte, sie zu berühren oder ihrem starren Blick hautnah zu begegnen. Weil ihr das vielleicht die letzte Hoffnung nahm, dass das hier nur ein böser Traum sein könnte.

Jade merkte, wie wieder ein Zittern durch ihren Körper ging und sie schlug die Hände vor das Gesicht. Gestern noch, am Telefon, hatte Suzans freches Mundwerk nicht stillgestanden. Doch je länger Jade da stand, desto stärker drang die Wahrheit zu ihr vor. Suzans Schweigen hatte so etwas verdammt Endgültiges. Es machte Jade betroffen, dann traurig, dann wütend. So wütend, dass sie sie am liebsten bei den Schultern gepackt und »Hör-auf-mit-dem-Quatsch-das-ist-nicht-lustig« zu ihr gesagt hätte. Aber da stand schon Ava hinter ihr.

»Du kannst nichts mehr tun.« Worte, scharf wie Messerklingen, obwohl sie bemerkte, dass Ava selbst am ganzen Leib zitterte.

»Lass mich. Wir sind Freundinnen«, knurrte sie Ava an, die erstaunliche Kräfte im Umklammern ihres Armes entwickelte. Köpfe flogen zu ihnen herum, Blicke musterten sie. Da standen Leute, die Jade im Leben noch nicht gesehen hatte und Suzan ganz sicher auch nicht. Wahrscheinlich hatten sich viele aus dem Schuh- und Strümpfelager im benachbarten Häusertrakt hierherverirrt. Außerdem wurde Jade den Verdacht nicht los, dass sich hier doch einige von diesen verlausten Obdachlosen herumtrieben, mit denen Suzan ehrenamtlich zu tun gehabt hatte.

»Nun sperr dich nicht so«, beharrte Ava. »Sag ihr Lebewohl. Und dann lass uns hineingehen, Jadie. Die Polizei ist unterwegs, sie wird sich um alles Weitere kümmern.« Dann bot sie Jade ihren Arm an. Innerlich unbeteiligt, begegnete Jade noch vor dem Ausgang dem verstörten Blick eines Mädchens in dreckigen Jeans. Wo hatte sie sie schon gesehen? Egal. Alles war egal.

»Ich hätte es verhindern müssen«, murmelte sie, während sie den langen Flur entlanggingen. »Ich hätte sie beschützen müssen.« Jetzt war es zu spät.

»Unsinn, niemand ist schuld!«, schimpfte Ava, der sie folgte, mit tattrigen Schritten und dumpfem Schädel, ihre Hand in ihrer Armbeuge, wie ein Tanzbär an der Leine. Ob ihr unterwegs jemand Bekanntes begegnet war? Sie hätte nicht einmal einen weißen Elefanten bemerkt. Irgendwann, es war in Avas Büro und nach dem zweiten Bourbon, gingen bei ihr alle Schleusen auf. Sie schluchzte, bis ihr der Rotz aus der Nase lief. Suzan nicht wiedersehen. Nie mehr nervtötendes Gequengel. Kein Kuss, keine Umarmung, kein freudiges »Nice«.

»Warum«? Die Frage stellte nicht nur sie sich. Sie stand über den Köpfen aller, denen sie heute begegnet waren. Ava schenkte von dem guten Whiskey aus der sonst verschlossenen Bar nach. »Trink«, forderte sie Jade auf. »So ist es gut. Und jetzt rufen wir Joe an, Honey. Er wartet in der Kantine auf dich. Kaffee und Kuchen gehen heute aufs Haus.« Damit ließ sie Jade allein.

Als ob sie auch nur einen Bissen hinunterbrächte! Aber die Energie für den Widerspruch fehlte. »Joe wartet«, klang es in ihr nach, als sie Avas Schritte über den Flur hallen hörte. Natürlich wussten alle Bescheid über sie beide. In Wahrheit wussten sie nichts. Ava glaubte doch allen Ernstes, Joe würde Jades Tröster spielen! Kannte sie Joe?

Sie schüttelte den Kopf. Tat sie nicht.

9:25 Uhr

Etwas in ihr zwang sie, sich mit dem Stuhl, in den Ava sie gedrückt hatte, Richtung Fenster zu drehen. Durch die bodentiefen Fensterscheiben sah sie einen Polizeiwagen auf dem knapp bemessenen Parkplatz halten. Zwei Männer stiegen aus und Ava ging auf die beiden zu. Den einen, von gedrungener Gestalt und mit klaren, klugen Augen, beachtete sie kaum. Den anderen mit dem dunklen Schopf starrte sie wie elektrisiert an. Er hatte die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen und es war ein paar Jahre her, dass der Zufall sie noch einmal in sein Revier geweht und sie sich wiedergesehen hatten. Doch sie hätte ihn unter Hunderten wiedererkannt.

Aber nein, sie würde da jetzt nicht hingehen und ein paar Worte mit ihm wechseln. »Mach erst mal reinen Tisch«, hatte sie ihm damals empfohlen, als er sie um ein Date gebeten hatte. Er könne wiederkommen, wenn er frei sei. Ob sie dann noch auf ihn warten würde, würden sie sehen.

Scharf zog sie die Luft ein. Beinahe wäre er ihr wieder gefährlich geworden, doch sie war sich zu schade, um als Geliebte im Schatten zu stehen. Und falls er es ernst mit ihr meinte? Sie in seinem Leben willkommen hieß, anstatt im Wartezimmer der Gefühle? Das wäre fast noch tragischer gewesen. Eine feste Beziehung gab ihr Beruf einfach nicht her. Und Liebe, pah! Ihre Pflege-Eltern, Geza und Ray Guthrie, die sich nie mit vollem Herzen zur Adoption durchringen konnten, hatten als Vorbilder ganze Arbeit an ihr und ihren Geschwistern geleistet, wahlweise mit ihren bösen Zungen oder mit tagelangem, biestigem Schweigen. In ihrer Ehe hatten sie ihr täglich vor Augen geführt, was das Zusammenleben mit einem anderen Menschen bedeutete: Respektlosigkeit und seelischen Schmerz.

Ohne Concealer und Make-up und völlig verheult fühlte sie sich plötzlich nackt und bloßgestellt. Es war sicher eine gute Idee, augenblicklich die Beine in die Hand zu nehmen und von hier zu verschwinden, bevor sein Blick doch noch in ihre Richtung ging. Sie konnte und wollte jetzt mit niemandem reden und schon gar nicht mit ihm.

10:00 Uhr

Brooklyn, Williamsburg

Joe hatte sie nicht vorgefunden, das Gebäude in aller Eile verlassen und war mit dem Taxi ins Hotel gefahren. Weinend auf ihrem Bett kauernd, über dem ein Gedankenkarussell zu kreisen schien – aus lauter Wortfetzen bestehend: Walk, Hochzeitskleid, Blut, Mord und Suzan, liebe, gute Suzan … – fühlte sie sich einer Panikattacke nahe. Ihr Atem ging viel zu schnell und sie spürte Schweiß auf ihre Stirn treten. Wimmernd sah sie sich um. Ein Wall aus Taschentüchern flankierte sie und es war kein Ende des Weinkrampfes abzusehen. Sie war mit vielen Hoffnungen im Gepäck nach New York gekommen, und eine davon war gewesen, Suzan wiederzutreffen, die sie seit Wochen nicht gesehen hatte.

Jemand klopfte, das Karussell im Kopf stoppte abrupt. Ihr war schlecht und sie wankte zur Tür. Beim Öffnen blickte sie in Joe Wisemans Augen: tintenblau und unergründlich wie der Brant Lake. Wie üblich meldete sich, flüchtig, dieses nicht tot zu kriegende Gefühl von Heimat bei seinem Anblick, von unbeschwerter Kindheit, von »Barfuß im Regen« und einer »bunten Tüte« vom Kiosk. Und das, obwohl sie sich erst vor zehn Tagen in Mailand zu einer Session getroffen hatten.

»Hi, Joe«, murmelte sie. »Komm doch rein.« Er drückte ihr einen vorsichtigen Kuss auf die Wange und ein Präsent in die Hand, unter dessen Stanniolverpackung sie eine preisgünstige Lidschattenpalette vermutete – irgendein Werbegeschenk. In puncto Geschenken hatte Joe nie viel Einfallsreichtum an den Tag gelegt, schon damals nicht, wenn er mit den selbst gepflückten Blumen aus den benachbarten Vorgärten zum Kindergeburtstag erschien.

Mit spitzen Fingern schob er das eine oder andere Taschentuch beiseite, nahm auf der Bettkante Platz und blickte Jade an. »Wo warst du gestern Abend, Babe? Hab dich vermisst.«

Jade legte die Schachtel mit der roten Schleife ungeöffnet auf die schmale Ablage des Schreibtischs und ging, an Joe vorbei, langsam zum Fenster. Durch die weißen Fadengardinen sah sie hinab zum Sidewalk, wo eng umschlungen ein junges Pärchen stand.

»Jetzt bin ich ja hier«, murmelte sie. Sie drehte sich zu ihm um. Er lächelte zögerlich.

»Flug verpasst? Kommst du direkt von zu Hause? Was macht mein Berlin?«

»Wartet schon lange auf deinen Besuch«. Sie hatte es so leise gesagt, dass sie nicht sicher war, ob die Antwort zu Joe vorgedrungen war. Früher hatte er sie mehrmals im Jahr in ihrer Wahlheimat Deutschland besucht, aber mit der Zeit waren die Besuche spärlicher geworden. »Im Ernst, Joe!«, fügte sie an, diesmal schon lauter. »Mir ist gerade nicht nach Smalltalk.« Sie deutete auf ihn. »War das Avas Idee?«

»Tut mir leid.« Er machte eine kurze Pause, nach Worten suchend. »Ich bin doch auch traurig«, sagte er. »Wir alle.«

»… Wie sie da hing … das kriege ich nie mehr aus meinem Kopf«, hörte Jade sich murmeln.

»Es tut mir so leid.«

»Mir tut es leid für Suzan.«

»Das hat sie echt nicht verdient.«

Sie war selbst erstaunt über die Heftigkeit, mit der sie sich ruckartig wegdrehte. »Komm schon, Joe!«, fuhr sie ihn an. »Du hast Suzan so oft zum Teufel gewünscht …« Energisch presste sie ihren Rücken an das Fenstersims.

»Meine engste Vertraute war Suzan nie, das gebe ich zu«, erwiderte der Gespiele aus fernen Kindertagen. »Aber so was wünscht man seinem ärgsten Feind nicht. Was denkst du nur von mir? Dass mir die Sache am Hintern vorbeigeht?«

»Engste Vertraute? Kein gutes Haar hast du an ihr gelassen!« Wieder rollte eine Träne.

Sein Mundwinkel zuckte leicht. Eine Hand hatte er seitlich in die Matratze gestemmt, die Beine von sich gestreckt. Die freie Hand hielt er ihr hin.

»Kommst du mal her?«

Sie betrachtete ihn: dunkle Stoffhose, helles Shirt, Bärtchen, Männerdutt. Eine blauschwarze Strähne zerschnitt seine Stirn. Die Sonnenbrille hatte er am Ausschnitt befestigt. Seine Haltung drückte Stolz und Selbstsicherheit aus. Er kannte seine Wirkung auf Frauen sehr genau, und an einem anderen Tag hätten sie sich längst geküsst.

In ihrer Affäre ging es vor allem um Sex. Ein wenig vielleicht um die Vertrautheit aus Kindertagen, sogar bei Joe. Und es hatte bei Jade eine Zeit mit Schmetterlingen im Bauch gegeben. Die Erinnerung an noch weiter entfernte Tage zauberte ihr flüchtig ein Lächeln auf die Lippen. Sie waren einmal ein Team gewesen. Zusammen mit Joe Wiseman hatten Jades Bruder Flynn, ihre Schwester Serah und sie sogar Blutsbrüderschaft geschlossen – die vier vom Township, wie man sie damals nannte, bis das schreckliche Unglück passierte, die Duncan-Kinder auch noch ihren Vater verloren und Hals über Kopf aus Cherry Hill wegzogen, zu Pflegeeltern.

Sofort wurde sie wieder ernst. Wie auch immer, es mochte ihn Überwindung gekostet haben, hier aufzutauchen. Joe war kein großer Redner, schon gar keine Stütze, wenn’s einem einmal dreckig ging. Er wollte das Leben locker und easy – das war immer schon so. Jade nahm darauf Rücksicht. Normalerweise. Dies hier war eine Extremsituation und Jade durchdrungen von Schrecken und Schmerz.

Sie trat auf ihn zu. »Kannst du mich kurz in den Arm nehmen?«

Er zog sie zu sich heran, an seine Seite, und sie schloss die Augen, doch die Bilder blieben präsent. Bilder von Suzan, dem Walk auf der Messe, und …

»… einem Hochzeitskleid …«

»Hochzeitskleid?« Joe stutzte.

Ups. Da hatte sie wohl zu laut gedacht. Sie hatte das Kleid von der vergangenen Great-Bridal-Messe, das sie damals selbst getragen hatte, sofort wiedererkannt. Warum hatte Suzan es an? »Und warum nicht ihre normalen Klamotten?«, bohrte Jade weiter und starrte zu Boden.

Joe fasste nach ihren Schenkeln, wo sich der Saum ihres bequemen Rockes wölbte, den sie gegen die Jeans eingetauscht hatte. Ein kaltes Prickeln durchfuhr sie. Alles, was sie gerade benötigt hätte, wäre eine Umarmung gewesen. Ein Zeichen des Mitgefühls. Eine liebe Kollegin, eine Freundin war tot …

Gänsehaut überzog ihre Beine und sie drehte sich instinktiv weg. Joe entließ sie aus seinem Arm und murmelte aus dem Mundwinkel heraus.

»Hör auf, dir deinen hübschen Kopf zu zerbrechen, das bringt doch nichts ein. Überlass das besser den Bullen.« Er nahm die Ray Ban vom Ausschnitt des Shirts und kaute auf den Bügeln herum. Jade erkannte eine gewisse Betroffenheit in seinen Augen und eine Portion Hilflosigkeit.

»… und Margie ist das mit dem Kleid auch aufgefallen«, fügte sie trotzig an. »Sie meinte …«

Mit zwei Fingern verschloss er ihr den Mund. »Mal was anderes: Ist noch von dem guten Hauswein im Kühlschrank?«

Sie musste ihn angestarrt haben wie einen Einarmigen mit zwei Händen. Jedenfalls merkte sie, wie ihr Lächeln gefror. Wie konnte er einfach zur Tagesordnung übergehen? Oder war das seine unbeholfene Art, sie zu trösten?

»Joe …«

»Schluss jetzt«, entschied er. »Du wirst noch ganz krank davon. Also?«

»Ja«, sagte sie schroff, »für mich bitte kein Glas«, und er stand auf, um den Wein zu holen. Sie wagte einen letzten Versuch.

»Margie meinte«. Das war längst ein geflügeltes Wort in der Szene. Wer immer sich mit Sorgen plagte – Margie hatte eine Meinung dazu, stets zur »Hilfe« bereit. Sie war die Mutter Teresa des Lofts. Nur in neugierig und intrigant.

Mit einem gut gefüllten Glas trat Joe auf Jade zu und hielt es ihr an den Mund.

» … Zu mir meinte Margie«, fuhr er leise fort, »du bräuchtest dringend etwas Trost. Also?«

Ihr war nicht klar, welche Frage noch offen war. Also Sex oder Also-was-meinte-Margie? Sie wendete ihren Kopf zur Seite, um dem Glas und dann Joes gespitztem Mund zu entrinnen. Sein Kuss landete, warm und feucht, auf ihrem Hals. Ein Mensch war gestorben, nein, mehr noch, viel mehr. Eine der besten Freundinnen, die ihr das Leben geschenkt hatte. Eine mit Tiefgang. Nichts vermochte ihr ihren Verlust so sehr zu verdeutlichen wie Joes oberflächliches Grinsen.

»Also runter in die Bar«, erwiderte sie schnell. Rotwein war womöglich gerade nicht hilfreich. »Ein doppelter Bourbon wär jetzt gut.« Sie würde fortführen, was sie bei Ava begonnen hatte, und falls sie dann, mit genug Alkohol intus, noch dazu fähig sein würde, würde sie ihren Koffer packen, um keine Minute zu verschwenden. Um sofort nach den Shootings, am Ende der Woche, nach Hause, nach Cherry Hill, zu Flynn zu fliehen. Dorthin, wo sie aufgewachsen war und wo eine vertraute Gegend ihr ein Gefühl von Heimat vermittelte. Nur weg von hier, aus dieser Stadt. Von diesem Ort des Schreckens.

Der Gedanke an ihren Halbbruder trieb ihr ein sanftes Lächeln auf die Lippen, während sie Joe den Flur entlang zum Aufzug folgte. Mom hatte Flynn mit in die Ehe gebracht und Daddy-one, wie Jade ihren Vater noch heute liebevoll nannte, hatte nie wirklich Zugang zu ihm gefunden.

Die großzügige Villa hatten die Töchter geerbt, doch es war Flynn, der ihr heute Leben einhauchte. Sie freute sich schon auf Flynns kleine Chirurgen-Anekdoten aus dem Schönheitsbusiness und die größeren aus seinem turbulenten Junggesellenleben. Nein, halt: aus seinem Leben mit der neuen Flamme. Und auf sein Sorgen vertreibendes Lachen, ansteckend wie ein Grippevirus.