Kitabı oku: «Aus dem kalten Schatten», sayfa 3

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Kapitel 4

Manhattan

Montag

Paul

Er sollte in seinem Bürostuhl sitzen. Den Fall Suzan Wickles vom Schreibtisch aus verfolgen. Stattdessen schloss er sich in diesem Moment Craig und Ava Davi an und folgte ihnen hoch in den Umkleideraum. Etwas trieb ihn, was vermutlich sämtlicher Ratio entbehrte. Es war die Sorge um Jade, deren Leben, wie er wusste, irgendwie mit Suzans verstrickt gewesen war.

Seine »Beauty«, so hatte er sie genannt. Lange her. Schön war sie zweifellos, mehr denn je, das Haar etwas dunkler, in Richtung Kastanienbraun. In gleichem Maße schien sie ihm selbstverliebt. Da waren neue Züge in ihrem Gesicht, die er nur mit ganz viel gutem Willen lieben könnte: Eitelkeit und eine gewisse Arroganz.

Die meisten Abteilungen waren offen gehalten. Wie in einem Wespennest schwirrten die Menschen von einer Wabe zur anderen. Paul hatte Interessantes in Erfahrung gebracht. An die fünfzig feste Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bildeten das Basisteam dieser ganz besonderen Ateliers, in denen vom Entwurf über den Zuschnitt bis zur fertigen Kollektion alles unter einem Dach stattfand.

»Ich arbeite mit zwei Designern zusammen«, hatte Ava berichtet. »Wir liefern die Entwürfe und kaufen die Stoffe ein.« Sie beschäftigte Fotografen und Modejournalisten und betrieb daneben die Agentur, die Models auch an die Konkurrenz vermittelte. Auf den ersten Blick ließ sie sich in die Kategorien »professionell« und »mitarbeiter- und kundenfreundlich« einsortieren. Auf den ersten Blick sah er bei ihr kein Motiv für Mord. Zwei Leute standen in seinem Fokus: Joe Wiseman und Margie Fox, jene zwei Menschen, die Suzan vermutlich zuletzt gesehen hatten.

In der Umkleide reihten sich linker Hand acht Kabinen mit puderfarbenen Georgettevorhängen aneinander. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Tisch, bestückt mit einer Lampe und mit Schneiderutensilien, einem Kleid mit Schleppe, lässig darübergeworfen, daneben ein Kreide-Saummarkierer. Unter dem Tisch ein Abfallkorb, gefüllt mit Seidenpapieren, Stoffresten, leeren Garnrollen und einer leeren Kaugummipackung, vermutlich von Suzan, die laut einigen Kollegen das klebrige Zeug im täglichen Dutzend verschlang. Nichts, was ermittlungstechnisch von Interesse sein dürfte.

Nur flüchtig ging Paul das Kaugummimuster auf dem Boden des Hofes durch den Kopf. Er trat zu Craig ans offene Fenster. Es war das einzige in den schmucklosen verklinkerten Wänden, rund wie ein Bullauge, wie er aus der Hofperspektive bemerkt hatte. Es sorgte für das nötige Tageslicht in der Umkleide, wo diffizile Arbeiten stattfanden.

Vorsichtig beugte er sich hinaus. Von hier aus ließ sich der Hof kaum einsehen: Eine betörende Duftmischung aus Noten von Honig, Rosenholz und Mandeln wehte zu ihm herüber. Er schaute auf die ausladende Krone des Jacarandas. Was darunter vor sich ging, blieb unliebsamen Blicken verborgen.

Er wandte dem Baum den Rücken und lehnte sich gegen die Fensterbank, während Ava auf einem blauen Pouf Platz nahm. Eine atemlose Sekunde verging, bis Margie Fox ihren mächtigen Hintern auf einen zierlichen Klappstuhl gepflanzt hatte. Entgegen Pauls Befürchtung hielt der Stuhl dem Gewicht stand.

»Sagen Sie, Mrs Fox: Wie gut kannten Sie Suzan Wickles?«

Margie zuckte leicht zusammen, als sie ihren Namen hörte. Paul kannte diese Reaktion. Dahinter steckte die Angst, als Tatverdächtiger zu gelten.

»Eine reine Routinefrage«, fügte er daher rasch an.

»Nicht besser als andere Mädchen, auch wenn sie gern plapperte und Geschichten erzählte«, gab Margie nun zur Antwort. »Vor allem von ihren Schutzbefohlenen. Da blühte sie richtig auf. Das mit den Pennern war einfach ihr Ding. Sie lebte ja hier in New York und verbrachte viel Zeit mit denen, solange sie nicht unterwegs war.«

»Mit den – Pennern?«

»´Gemeinsam stark`. So heißt ihre Stiftung für Obdachlose.«

»Davon hab ich gehört«, sagte Paul und Craig nickte eifrig dazu. »Aber ich wusste nicht, dass Suzan … Erstaunliches Engagement für eine so junge Person.« Jetzt wurde ihm klar, warum ihm so viele verhärmte Gesichter von Leuten mit abgetragenen Klamotten im Hof entgegengesehen hatten.

Margie winkte genervt ab. »Sie lief praktisch nur noch mit der Spendendose herum. Hier das Mittwochstreffen, dort die Miete für passende Nachtlager – das alles frisst Geld. Sehr viel Geld. Und, ganz nebenbei, war das nicht gerade geschäftsfördernd für Ava.« Sie schien einen Moment nachzudenken. »Für manche griff sie dann schon mal tiefer in die eigene Tasche. Wissen Sie, was das Neueste war? Tierheim. Erst der klapprige Wagen für diese Laurie. Dann sollte ein Hund her. Zum Wohlfühlen und Liebhaben. Laurie hätte ja ach so viel durchgemacht. Vorhin hat das Tierheim hier angerufen, wegen des verstrichenen Abholtermins …«

»Laurie – und wie weiter?« Craig hielt das Handy schon für die Notiz bereit.

»Tut mir leid … Gehen Sie doch mal zu den Kaffeekränzchen. Sicher erfahren Sie da mehr.«

Paul stellte weitere Fragen. Er erfuhr, dass Suzan das Modeln mit fünfzehn angefangen hatte, für einen Versandhauskatalog, und von da an von keinem »anständigen Beruf« mehr hatte etwas wissen wollen. Mit ihren alten Herrschaften hatte sie sich deshalb überworfen. »Lern lieber etwas Anständiges, modeln kannst du immer noch.« Die üblichen Sprüche besorgter Eltern. Doch in dem Job ging es um Jugend und Frische, je jünger, je besser.

»Suzan ist von zu Hause ausgerissen, hat eine Weile in London gelebt und ist dann wieder nach New York übergesiedelt. Was soll ich sagen? Blitzkarriere. Ein neuer Stern am Modehimmel war geboren«. Einen Herzschlag lang blickte Ava mit leuchtenden Augen in die Vergangenheit.

»Klingt nach einer sehr straighten Person«, resümierte Paul. »Nach einer, die wusste, was sie wollte.«

»Das war sie bei Gott. Auf dem Boden geblieben und hochprofessionell. Das lässt sich nicht von jeder sagen.«

»Neider?«

»Selbst damit konnte sie umgehen.«

Paul warf Craig, der nun mit den Schultern an der Rückwand einer Kabinentür rechter Hand lehnte, einen vielsagenden Blick zu. Es gab also durchaus Leute, die Suzan ihren Erfolg missgönnt hatten. Das zog womöglich den Kreis der Verdächtigen enger.

»Das hier war ihr Lieblingsplatz«, murmelte Margie und wies auf einen mit grünem Samt bezogenen Stuhl. » … Ich seh’ sie noch vor mir … Wie sie da sitzt, die Hände im Schoß, und unschuldig schaut … und ständig dieser Spearmint-Geruch …« Sie erntete einen warnenden Blick Avas und verstummte abrupt.

Paul horchte auf. »Sie sprachen gerade recht nett von ihr. Jetzt höre ich andere Töne heraus. Gab es Schwierigkeiten? Wegen Suzans direkter Art?«

»Wenn ich ehrlich sein soll …«

»Mochten Sie Suzan?«

»Als Kollegin war sie mir lieb und teuer.«

»Als Mensch aber nicht?«

»Hat Ava schon den Diebstahl erwähnt?« Sie schlug die Augen nieder und mied Avas Blick.

Paul schüttelte den Kopf. Margie sah zum Fenster.

»Im Frühjahr hatte ich einen Lottogewinn und eine Stange Geld bei mir. Der Plan war, in der Mittagspause eine Reise zu buchen, direkt im Reisebüro. Ich traue dem Internet einfach nicht. Einmal im Leben Europa, dafür hatte es nie gereicht. Wurde dann leider wieder nichts draus.«

»Sie wurden bestohlen?«

»Mehrere tausend Dollar. Einfach futsch.«

»Sie hatten Suzan in Verdacht?«

»An dem Vormittag war sie mein einziges Mädchen hier. Dabei hatte sie das Klauen weiß Gott nicht nötig, bei der Gage! Ich kann mir schon vorstellen, wer davon profitierte. So viel zum Thema Vertrauen und gute Zusammenarbeit.«

Mit dem »Profitieren« meinte sie wohl die Obdachlosen. Paul wandte sich Ava zu. »Mrs Davi, reden wir über das weiße Kleid.«

»Das ist wirklich seltsam. Wie kam sie nur auf die Idee? Sie war gar nicht der Typ für …«

»… Verkleidespiele«, ergänzte Margie und Ava nickte ihr beipflichtend zu.

»Sie tat doch ohnehin beruflich nichts anderes als sich ständig umzuziehen. Sie muss das Kleid aus dem Fundus geholt haben. Aus den Kellerräumen. Keine Ahnung wieso.«

Von draußen hörte er Stimmen. Im Hof waren die Untersuchungen in vollem Gange. Zwischen dem dichten Astwerk hervor blitzte das helle Dach des Faltpavillons. Er war errichtet worden, um die Tote vor neugierigen Blicken zu schützen und ihre Würde zu wahren. Sie würden Suzan vollständig entkleiden, sie auf Flecken und Verletzungen hin untersuchen und in alle Körperöffnungen blicken – Vorschrift für das Verhalten am Tatort beim geringsten Verdacht auf Mord.

Aber was, spann Paul sein Gedankengespinst um das weiße Kleid herum weiter, wenn nicht Suzan auf die Idee gekommen war, es zu tragen – sondern ihr Mörder?

Aus dem Pavillon drangen dienstbeflissene Stimmen nach oben. Eine von ihnen klang ganz nach Coroner James Ward. »Dreh sie auf die Seite, Winnie. Gut so.« Danach herrschte Schweigen. Dank seiner beruflichen Ausbildung war Paul geläufig, was da gerade mit Suzan passierte, auch wenn er persönlich selten einer Spurensicherung im Mordfall beigewohnt hatte.

»Wenn Sie mich dann entschuldigen wollen«, flötete Margie und präsentierte ihre Winke-Arme. »Mir geht’s nicht so gut. Mein Sohn holt mich ab.«

Drei Augenpaare blickten ihr nach, als sie den Raum verließ. Paul vermutete, dass da mehr hinter ihrem Unwohlsein und ihrem schnellen Abgang stecken könnte. Er beschloss, Margie im Auge zu behalten.

»Margie Fox und Sie, Mrs Davi«, fuhr er fort. Würden Sie sagen, es harmoniert?«

»Sie ist eine Perle.«

»Sie weichen aus.«

»Unsinn, ich hab nichts zu verbergen. Ja, tut es. Menschlich und fachlich. Sie quatscht halt gern, aber das ist schon okay. Mir gegenüber ist sie, glaub ich, loyal. Tut alles, was ich ihr sage.«

»Da schneid dir ruhig mal eine Scheibe von ab«, sagte Paul grinsend, an Craig gewandt. Der zeigte ihm dezent den Vogel.

»Sie redet also«, wandte er sich wieder an Ava. »Tun übrigens viele Leute. Was noch?«

»Kann nichts Schlechtes sagen, ehrlich.«

»Margies positive Seiten?«

»Erwähnte ich bereits. Loyalität, Humor …«

»Aggressionen?«

»Null Komma null.«

»Schön. Und Sie und Suzan?«

»Zwischen uns war alles okay.«

»Wann haben Sie Suzan zuletzt gesehen?«

Ava brauchte eine Weile, um in ihrem Gedächtnis zu forschen. Paul kannte das. Er hatte im Leben selbst zur Genüge erfahren, wie hartnäckig Extremsituationen die Gehirnfunktion blockierten.

»Wann ich sie gesehen habe … Zuletzt an ihrem Todestag. Ein Walk in unserem Haus mit Publikum«, sagte sie mit rauer Stimme. »Die Premiere zu zwei weiteren Abenden. Es war schwer, sie unter Vertrag zu bekommen, immer war sie unter Zeitdruck. Trotzdem hat sie eine Kollegin vertreten, Jade Duncan, und dafür war ich ihr sehr dankbar. Ich wollte mich ja mit ihr treffen. Am Tag darauf. Nach einem frühen Termin am Morgen.«

Paul merkte, wie er sich in den Schultern verkrampfte. »Diese … Kollegin.«

»Jade?«

Er hüstelte. »Genau die. Weshalb musste Suzan denn für sie einspringen?«

»Sie kommt aus Berlin. Ihr Flug wurde gestrichen.«

»Soso. Und mit wem, Mrs Davi, war dieser frühe Morgentermin?«

»Lorne Bishop, Designer aus Spanien. Hab ihn persönlich vom Flughafen abgeholt, mit reichlich Verspätung seinerseits. Wir sind noch eine Kleinigkeit frühstücken gegangen, dann hab ich ihn ins Hotel gebracht.«

Paul notierte den Namen Lorne Bishop und fragte nach seiner Adresse.

»Worum ging es bei Ihrer Verabredung? Mr Bishop und Sie?«

»Lorne Bishop, Jade Duncan und ich. Jade steht unter Zwei-Jahres-Vertrag als Model für »Avas Line«. Sonder-Kollektion, dezente Farben, viel Beige, bisschen Gold, Zielgruppe Generation Ü-30. Wie auch immer. Lorne hätte sie gern zwischenzeitlich für seine Handtaschen-Präsentation. Er ist vor allem extra aus Barcelona gekommen, um sie zu sehen. Vielleicht nicht nur beruflich?« Sie lächelte mäßig und zog dann die Luft scharf ein. »Beim letzten Besuch hat er sie nicht aus den Augen gelassen …«

Paul schluckte hart. »Ich nehme an, es wurde nichts aus dem Treffen? Die schrecklichen Umstände … Und Jade, ich meine Ms Duncan? Haben sie und Suzan sich noch gesehen?«

»Nein. Es tut mir so leid. Die beiden standen einander sehr nahe. Arme Jade. Zum Glück kümmert sich Joe um sie.«

»Joe – Wiseman?«, erkundigte sich Paul, überflüssigerweise.

»Ein Herz und eine Seele die beiden, er tut ihr gut.«

Das war es nicht, was Paul hören wollte. Er merkte selbst, wie er Ava anstarrte. Joe, natürlich! Es gab ihn also noch in Jades Leben.

Ava zitterte und schlang die Arme um ihre Schultern. »Wieso fragen Sie? Jade ist nun wirklich die Letzte, die mit der Sache hier was zu tun haben könnte. Ich sagte es schon: Die Mädchen waren so.« Sie überkreuzte zwei Finger, als Zeichen der Innigkeit.

»Tut mir leid, Mrs Davi. Wir müssen in alle Richtungen ermitteln.« Dass Jade etwas mit dem Mord zu tun haben könnte – das wollte er doch nicht hoffen!

Wohlweislich verschwieg er, dass er nicht wirklich zu den Ermittlern zählte. Er sah auch nicht zu Craig hinüber, um sich einen tadelnden Blick zu ersparen, da er mit der Befragung nicht aufhören wollte. Die Namen Lorne Bishop und Joe Wiseman schwirrten ihm durch den Kopf wie eine hängende Schallplatte.

Wieder drangen Stimmen aus dem Hof nach oben.

»Jetzt das Kleid über den Kopf ziehen, Winnie. Vorsicht, die Wunde.«

»Krieg dich ein, James! Ich mach das nicht zum ersten Mal.«

»Sieh´s mir nach, Schätzchen. Aber du bist ein Cop.«

Pauls lautstarkes Hüsteln kam zu spät, Ava verzog bereits die Mundwinkel Richtung Weinkrampf. Das war der Moment, in dem Craig zur Tat schritt. Er trat ans Fenster.

Ein empörtes Prusten von draußen. »Nur ein Cop also, ja? Hör genau hin, Coroner! Blutende, nässende Wunde heißt: Finger weg. Wahrscheinlich waren schon Fliegen dran – wichtige Hinweise für die Forensiker. Kopfwunde heißt: zweimal Finger weg. Deine Säge setzt nämlich hier an, quer über den Scheitel, von einem Ohr zum anderen. Dann das Gehirn entnehmen, direkt neben der Wunde. Noch Fragen? Ich würde nicht aufpassen, pah!«

»Woher weißt du …«

»State University of Albany. Bachelor in Forensik.«

»Wow.«

»Und du so, James? Wie lädt man eine Beretta? Nur ein Cop, hm?«

Zu spät hatte Craig den Fenstergriff erwischt. Mit Schwung drückte er den Flügel zu, doch etwas stoppte seine Bewegung. Paul trat zu Craig, hob den auf den ersten Blick unscheinbaren Gegenstand auf und entsorgte ihn mit spitzen Fingern in ein Plastiktütchen für die Asservatenkammer. Es handelte sich um einen blutroten dünnen Stift – wahrscheinlich die Farbe, mit der die Brief-Botschaft an Suzan verfasst worden war.

»Ein Lippenkonturenstift«, murmelte Ava. »Stumpf noch dazu. Die Dinger liegen hier überall rum, in allen möglichen Farben. Den Tag, an dem die Mädchen Ordnung lernen, streiche ich rot im Kalender an.«

Paul sandte Craig einen dankbaren Blick. Einen Tick zu spät, doch immerhin schien er mit dem Schließen des Fensters einen größeren Gefühlsausbruch Avas verhindert zu haben. Weinende Frauen machten ihn hilflos. Außerdem hatte er kein Interesse daran, dass dieses dürre Gestell von Ava, das da schon wieder wie Espenlaub zitterte, vor seinen Augen zusammenklappte, falls die da draußen ihre Schwanzvergleiche fortsetzten. Und in dem Fall zählte er Winnie als Kerl.

»Vielen Dank, Mrs Davi. Sie sollten sich etwas Ruhe gönnen. Die Kollegen vom CSI kommen wieder auf Sie zu.« Paul drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand und nickte zu Craig hinüber, als Zeichen zum Aufbruch.

Kapitel 5

Manhattan

Dienstag/Mittwoch

Jade

Ava hatte den Loft bis einschließlich Dienstag geschlossen, um den Mitarbeitern Gelegenheit zur Trauer zu geben. Des Weiteren nutzte sie die Zeit, Top-Model Carola Berger aus Berlin einfliegen zu lassen, die beim Shooting für »Pure« Suzans Part übernehmen sollte. Jade mochte Carola, mit der sie so manche schöne berufliche Erinnerung verband. Sie hatte eine angenehme Art, war nicht so vorlaut und selbstgefällig wie viele andere von ihnen. Zuerst überlegte Jade, Zeit mit ihr zu verbringen, doch allein Carolas Anwesenheit würde ihr das Grauen der letzten Tage noch einmal so richtig vor Augen führen.

Sie hatte sich mit dem Laptop auf den winzigen Hotelbalkon mit dem noch viel winzigeren Bistrotisch zurückgezogen: Buchführung war angesagt. Kurz dachte sie an das Telefonat mit dem international hochgeschätzten Designer Lorne Bishop, den sie leider verpasst hatte und der sich bereits wieder auf dem Heimweg nach Spanien befand.

»Tut mir leid, das mit meiner Verspätung … und dann waren Sie nicht mehr auffindbar … Suzans Ermordung … schreckliche Sache. Bin sofort wieder in mein Hotel gefahren … hätte doch nur gestört … und Ava, die Arme, konnte sich sowieso auf nichts konzentrieren … Wir beide sehen uns dann bei der Bag-Show, ja? … und falls Sie Veränderung brauchen, kommen Sie gern vorab mal nach Barcelona.« Dann ließe sich alles persönlich besprechen, hatte er ihr am Handy gesagt. Für den Flug würde natürlich gesorgt und den Zeitraum überlasse er ihr, sie sei jederzeit herzlich willkommen.

Sie erinnerte sich an ihre erste Begegnung bei Ava. An Lornes entwaffnenden Charme. Er trug Stoffhose, ein blütenweißes Hemd dazu und lächelte, die Zahnreihen in Arktisweiß. »Sie sind mir gleich aufgefallen«, meinte er. »Das Video von der »Venus« Berlin, dazu Ihre Sedcard …« Sie wusste, dass er sie sich nicht nur als Eröffnungsmodel für die Bag-Show wünschte, die Fachmesse für Taschen, Lederwaren und Modeaccessoires, deren rare Auftritte heiß umkämpft waren unter den Mädchen. Er wünschte sich durchaus mehr von ihr.

Er war genau Jades Kragenweite. Sehr groß und schlank, leicht hervorspringendes Kinn, nach hinten gegeltes Haar, gepflegte Hände. Und obendrein hatte er Geld wie Heu und eine eigene Yacht an der Rambla del Mar, im alten Hafen von Barcelona – einer ihrer Lieblingsstädte. Doch der Funke war nie übergesprungen und sie sah in dem Brand Stylisten des Handtaschenproduzenten Hoffman & Son nur einen väterlichen Freund.

Die Konzentration auf die Buchführung ließ zu wünschen übrig. Mit einem Seufzer klappte sie den Laptop zu und ging ins Bad, um sich die Lippen nachzuziehen und ihr Haar zu bürsten. Wenig später stand sie, bepackt mit einer kleinen Umhängetasche und etwas unschlüssig, wohin sie gehen sollte, in der Hotellobby. Sie entschloss sich, nach Midtown zu fahren. Mitten im Herzen der Stadt, umringt von Menschen, war die Chance am größten, mit sich selbst allein zu sein.

Schwungvoll stieß sie die Eingangstür auf. Ein Mädchen mit traurigen Augen saß auf dem Sidewalk direkt vor dem Eingang. Sie glaubte, sie schon gesehen zu haben. Bei Jades Anblick sprang sie auf.

»Hi. Ich bin Laurie. Hättest du ein paar Cent?« Sie sprach mit leichtem französischem Akzent.

»Kennen wir uns?«, schoss Jade zurück und nahm automatisch Abstand. Diese Leute waren arbeitsscheu, Alkoholiker, drogensüchtig oder hatten Läuse im Pelz. Möglichst unauffällig suchte Jade mit den Blicken die Arme des Mädchens nach Einstichstellen ab. Wie sie die Bettelei hasste! Dass das überhaupt passierte, hier vor Avas Toren, daran hatte Suzan einen erklecklichen Anteil. Je dreckiger es ihren Schützlingen gegangen war, desto selbstverständlicher hatten sie ihre Nähe gesucht. Wie wilde Tiere, die sich in die Städte wagten, wenn es in den Wäldern nichts mehr zu beißen gab.

»Nein, ich meine ja …«

Jade musterte die Kleine mit dem dunkelblauen Hemd eingehend. Es war ein Mädchen, von denen es viel zu viele gab in dieser bunten und reichen Stadt. Hübsch nicht gerade, eher klein und kräftig, grünäugig mit dunklem Teint und einer etwas zu breiten Nase.

»Ist Suzan da?«, fragte das Mädchen nun zögerlich. »Ich hab euch neulich zusammen gesehen. Beim Nachmittagstee. Im ´Castle`. – Erinnerst du dich?« Ihr Blick ruhte gespannt auf Jade. Dieses Gesicht – na klar! Hatte sich das Mädchen nicht am Montag in Avas Hof aufgehalten? Sie war sich sicher. Aber dann überlegte sie: Warum fragte die Kleine sie jetzt nach Suzan? War ihr nicht klar, was passiert war? Sie musste sie verwechselt haben. Sie kam Jade bekannt vor, nur woher? Oder hatte sie sie beim Treffen der Obdachlosen gesehen, mittwochs um vier, bei Tee und Kuchen? Jade hatte Suzan, die Gründerin der Veranstaltung, einmal dorthin begleitet. Widerwillig.

»Es wird dir gefallen, Jade. Danach dann Tretbootfahren auf dem Hudson. Nur wir beide. Versprochen.« Und nur deshalb.

Ein Gefühl der Scham bemächtigte sich ihrer, als sie sich erinnerte. Jenen heißen Sommertag in der Stadt war sie nicht gerade zimperlich mit den Gefühlen des Mädchens umgegangen. Sie wirkte jung und kräftig auf sie. Wer ernsthaft Arbeit wollte, bekam auch welche, davon war Jade fest überzeugt. Die Schwarzen Bretter der Supermärkte waren bespickt mit Angeboten.

»Warum bist du hier?«, hatte sie wissen wollen, auf die Gefahr hin, dass Suzan sie rügte. »Der Herrgott hat dir zwei gesunde Hände geschenkt …« Bis heute vermisste sie eine Antwort.

Das Mädchen ließ ihre Blicke aufmerksam über Jades Gesicht wandern. »Suzan ist deine Freundin, nicht wahr?«, fragte sie dann.

»Die beste.«

»Du musst ein guter Mensch sein.«

Jade schluckte hart, da schon wieder die Tränen aufstiegen. »Nein«, sagte sie leise. »Ich fürchte, Suzan kommt heute nicht.«

»Schade. Hast du vielleicht was zu essen für mich?« Sie legte den Kopf schief. »Du hast doch nicht etwa geweint?«

Jade schluckte hart, während sie ihre Tasche von ihrer Schulter gleiten ließ. Sie würde jetzt ihr Portemonnaie zücken und der Kleinen einen Schein zustecken, auch wenn sie, wahrscheinlich dank Suzan, nicht allzu bedürftig herüberkam und recht vernünftig gekleidet war. Halb verhungert wirkte sie auch nicht. Jade würde ihr sagen, dass sie sich trollen und sich nie wieder hier blicken lassen sollte, denn Suzan hätte der Stadt für immer adieu gesagt. Dann würde sie ein Stück die Straße entlanggehen und an der Kreuzung links Richtung Subway abbiegen. Für Fälle wie diesen hier waren andere zuständig und in New York musste sicher niemand verhungern. Hier herrschte das »Right-to-Shelter-Gesetz, das die Stadt verpflichtete, Obdachlosen Unterkünfte zur Verfügung zu stellen.

Etwas hielt sie zurück. Suzans Stimme in ihrem Inneren. »Schäm dich, Jade! Nicht jeder hat so ein Leben wie du und du weißt nichts von diesem Mädchen.«

Kurz schloss sie die Augen und atmete tief. »Wie war noch mal dein Name?«, hörte sie sich plötzlich murmeln.

Das Mädchen sah sich verwirrt um, ob wirklich sie gemeint wäre und suchte dann wieder Jades Blick.

»Ich heiße Laurie. Und du?«

»Jade Duncan. Freut mich sehr, Laurie. Sag mal: Hättest du Lust auf einen Stadtbummel? Und dann was Warmes in den Bauch?«

»Falsche Reihenfolge«. Laurie grinste und entblößte eine charmante Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen. »Erst Frühstück. Und vielleicht duschen?«

»Einverstanden.«

Später, bei einem Spaziergang durch den Central Park, schüttete Jade, die doch am Morgen noch hatte allein sein wollen und, ähnlich wie ihre Schwester Serah, nicht der Mensch war, der sich leicht einem anderen öffnete, Laurie ihr Herz aus. Das Mädchen war eine Fremde und als Fremde würden sie wieder scheiden. Sie konnte ihr alles erzählen. Es gab keinerlei Verbindungen zwischen ihnen. Lediglich ein Thema sparte sie aus: Suzan.

»Heilige Scheiße«, meinte Laurie. »Jede Woche in einer anderen Stadt? Klingt irgendwie … heimatlos. Und unfrei. Stress pur. Da frag ich mich: Wer von uns beiden hat’s besser getroffen?« Sie grinste schief. »Dazu dieser Irre am Telefon. Gott, mir wird ganz schlecht bei der Vorstellung. Aber mach dir mal keine Sorgen. Es heißt, das sind arme Würstchen, vor allem die mit dem Gestöhne. Harmlos. Familienväter, die sich im wahren Leben nichts zutrauen und sich am Telefon einen runterholen.«

Jade merkte, wie ihre Hände kalt wurden.

»Mein Verehrer hat’s ja nicht so mit dem Stöhnen.«

»Sondern?«

»Ich höre das Rauschen von Bäumen, Vögel, die in den Lüften zwitschern …« Hörte sich irgendwie nach Yoga und progressiver Muskelentspannung an, das merkte sie selbst.

»Klingt schräg«, meinte Laurie mit großen Augen und stopfte sich einen von den vorhin am Kiosk erstandenen Lollis in den Mund. Wie alt war sie? Man konnte sie auf sechzehn schätzen, und in einem anderen, einem ihrer nachdenklichen Momente, wenn sie die Stirn runzelte und mit leerem Blick in die Ferne sah, vermittelte sie den Eindruck einer reifen, vom Leben gezeichneten Frau.

Ja, schräg. Da konnte Jade nicht widersprechen. Oder eher krank? Vor ein paar Wochen hatte es angefangen, mit einer dubiosen Nachricht auf Facebook.

»Ich sehe dich.«

»Es gibt kein Entrinnen.«

»Irgendein Spinner«, hatte sie sich noch eingeredet. Mit Neidern hatte sie in ihrem Job öfters zu kämpfen. Doch der schreckliche Kerl schien ihr wie ein Schatten zu folgen. Seit sie wieder in New York war, spielte er neue Spielchen. Telefonterror der hartnäckigsten Sorte. Und nie meldete sich der Feigling persönlich. Nur Donnergrollen drang an ihr Ohr und heulender Wind: Wetterkapriolen. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte.

Jade löste ihren Pferdeschwanz, schüttelte ihr Haar auf, kämmte es mit den Fingern durch und bändigte es wieder mit dem roten Gummi. Es war eine Verlegenheitsgeste. Natürlich machte sie sich Sorgen, dass mehr als nur ein billiger Spaß dahinterstecken könnte. Zeitweilig hatte sie sogar überlegt, die Polizei einzubinden.

Linker Hand auf einer Rasenfläche fanden Tai-Chi-Übungen statt, und skatende Mütter mit Kopfhörern und Kinderwagen passierten sie. Heile Welt. Eigentlich.

»Aber ich rede die ganze Zeit«, murmelte Jade. »Nun zu dir, Laurie.«

»Da gibt es nicht viel«.

Lauries Stimme klang spröde, als sie das sagte. Jade betrachtete sie. Der Reißverschluss der hautengen Jeans war nur mit Jades Hilfe zugegangen, doch das Outfit brachte nun Lauries drahtigen Körper zur Geltung und die eierschalenfarbene Bluse kontrastierte hübsch mit dem dunklen Ton ihres Teints und den schwarzbraunen Locken, die ihr bis zu den Schultern flossen. Sie war weiß Gott nicht der klassische Modeltyp, doch sie war ungeschminkt vorzeigbar und je länger Jade sie betrachtete, desto mehr erkannte sie, bei aller Robustheit, eine gewisse Grazie.

»Warum das alles?«, bohrte Jade weiter. »Du bist jung – und klug. Mach was aus dir! Du hast dieses Leben doch gar nicht nötig.«

»Es war schon mal anders. Nicht so cool wie bei dir. Aber anders. Ich hatte einen Job an der Kinokasse … Aber dann musste ich wieder zurück … Sie hatte … war … Ach, egal.«

»Was ist passiert? Du bist doch nicht krank?« Was meinte sie mit »sie musste wieder zurück«? Zurück auf die Straße? Und wer war diese ominöse »Sie«?

Jade wollte nachhaken, doch die heile Parkwelt bekam einen Riss, als sich ein paar Armlängen entfernt eine Schlägerei zwischen zwei Männern anbahnte. Der ältere lag auf dem Boden und der jüngere drosch mit beiden Fäusten auf ihn ein und verdünnisierte sich erst, als ein Martinshorn aufheulte.

»Verf… «, rief Laurie. »Robin ist in der Stadt.« Nur kurz blickte sie dem Jüngeren nach, der mit eiligen Schritten entschwand. Sie sprang auf den älteren, verlebt aussehenden Mann am Boden mit der zerlöcherten Hose zu. »Scheiße, Henry! Alles in Ordnung?«, rief sie, laut genug, um einen Schwarm Krähen aus der Baumkrone über ihm aufzuschrecken. »Henry ist schwerhörig, musst du wissen«, sagte sie Jade. »Das hat sein Sohn auch verbrochen. Trommelfell zerrissen. Nimmt dem Alten sein vermurkstes Leben übel.«

Der Mann stank aus dem Mund wie ein kompletter Spirituosenladen und ein Faden Blut lief ihm aus der Nase. Automatisch trat Jade einen Schritt zurück. Sein Sohn – das war sicher dieser Robin.

»… und er kann sich den Doc nicht leisten. Ganz normale Härte für einen wie uns«, fügte Laurie an. Während sie Henrys Kopf stützte, musterte sie Jade auf eine geradezu anklagende Weise. Der Blick sagte: »Feine Mädchen wie du kapieren das nicht.«

Jade überwand sich, nahm ein Taschentuch aus ihrer Tasche und reichte es dem Penner, als auch schon Polizei und Krankentransport heranfuhren. Henry dankte ihr mit einem Lächeln von einem zahnlosen Mund.

»Hör mal, Laurie«, murmelte Jade. Sie sahen dem Krankenwagen nach. »Wenn du willst, helfe ich dir. Wir suchen dir einen Job und eine Wohnung. Solange kannst du mein Hotelzimmer haben.«

Laurie sah sie erstaunt an, mindestens so erstaunt, wie Jade selber war, blieb aber die Antwort schuldig. »Diese Menschen haben sich in ihrem Elend eingerichtet«, hatte Suzan einmal gesagt. Die meisten wollten sich gar nicht helfen lassen, viele hatten nicht nur körperliche, sondern auch psychische Krankheiten, und es war schwierig, an sie heranzukommen.

»Was habe ich für ein Glück?!«, sagte Laurie dann schließlich auch, und nun funkelten ihre Augen. »Jetzt habe ich zwei Schutzengel. Suzan und dich. Danke fürs Angebot, aber mir gefällt mein Leben so, wie es ist.«

Jade nickte langsam. »Was Suzan angeht, da gibt es etwas«, begann sie vorsichtig, doch Laurie überhörte es.

»Einer wie Henry kommt wohl nie auf die Beine«, sinnierte sie, riss einen Grashalm ab und kaute darauf herum. »Aber ich, mit viel Glück vielleicht … Weißt du, dass Suzan mir ein Auto gekauft hat? Alt und rostig, doch es ist mein geliebtes Zuhause.«

»Ist das wahr?« Jade lächelte wehmütig.

»Du musst es dir ansehen.«

»Ein andermal«, versprach Jade. Der Tag war zu kurz für all diese Dinge. Sie kramte in ihrer Tasche. »Lass uns demnächst mal telefonieren. Hier, meine Nummer. Und jetzt komm! Mittagessen am Times Square.« Und danach gern einen alhoholfreien »Skinny Bitch« genießen, dachte sie, in der sich drehenden Bar »The Overview«.

Fröhlich hakte sich Laurie bei Jade unter. Jade begann zu begreifen, was die Arbeit mit den Obdachlosen Suzan gegeben hatte. Dieser Tag mit Laurie war eine echte Bereicherung, fernab von Maskeraden und Inhaltslosigkeit.

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