Kitabı oku: «Die Brücken zur Freiheit - 1864», sayfa 2

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3 Annie – 13. Dezember 1863

E in Knall durchbrach die eisige Ruhe des Dezembernachmittags. Die Gestalt, die eben auf Zehenspitzen durch den Dienstboteneingang der Schule für höhere Töchter ins Freie geschlüpft war, zuckte zusammen, blickte sich hastig um und zog die Kapuze ihres Mantels tiefer ins Gesicht. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. So erreichte die Vermummte unbehelligt das schwere Eisentor zur Straße, glitt durch den Spalt und verschwand aus der Sichtweite des Herrenhauses. Nur die Spuren im frisch gefallenen Schnee zeugten davon, dass sie da gewesen war.

Annika Bailey atmete erleichtert aus, als sie zwischen den Häusern in die Gassen Cincinnatis eintauchte, und schob eine kohlschwarze Locke, die sich frech aus ihrem Knoten gelöst hatte, zurück unter die Kapuze. Wieder einmal war sie den strengen Augen von Mrs. Hodgers entkommen, die über die vierzig Schülerinnen wachte, wenn kein Unterricht stattfand. Jetzt musste sie nur noch vor dem Abendessen zurück sein und in der Stadt niemandem begegnen, der sie kannte.

Es waren deutlich weniger Menschen als normalerweise auf der Straße, die ohne Ausnahme dick eingehüllt ihrem Ziel entgegenhasteten. Keiner achtete auf die junge Frau, die mit einem Korb bewaffnet das Militärlager der Unionisten am Stadtrand ansteuerte. Viel hatte sie in dieser Woche nicht vom Tisch abzweigen können. Unter ihrem Tuch befanden sich zwei Äpfel, frisch gebackenes Weißbrot, ein Stück Hartkäse und ein Wurstzipfel, den sie der Köchin hatte abschwatzen können. Annie hoffte, mit den Köstlichkeiten die Zungen der Soldaten etwas zu lockern. Vielleicht erhielt sie so endlich Neuigkeiten von der Front!

Belustigt beobachtete die Fünfzehnjährige einen Mann mit schwarzem Spitzbart, dessen Besorgungen so hoch auf seinen Armen gestapelt waren, dass sie seine fliehende Stirn gut zwei Fuß überragten. Entfernt kam ihr sein Gesicht bekannt vor, doch sie konnte sich nicht entsinnen, woher. Der Mann schaffte es kaum, um seine Ladung herumzuspähen. So kollidierte er mehrmals mit anderen Passanten und entschuldigte sich jedes Mal wortreich. Gerade steuerte er auf eine junge Mutter zu, die auf dem einen Arm einen Säugling balancierte und mit dem anderen einen heulenden Buben hinter sich herzog. Im letzten Moment verhinderte sie den Zusammenstoß mit einem Sprung zur Seite und schimpfte dem Mann hinterher. Vor Schreck hatte ihr Sohn aufgehört zu weinen. Doch kaum war die Gefahr vorüber, fing er mit doppelter Lautstärke erneut an.

Anders als alle anderen hatte es Annie nicht eilig. Die strenge Temperatur störte sie nicht, hatte sie doch, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war, gerne Zeit im Freien verbracht. Sie hob den Kopf und inhalierte den Nachmittag in Freiheit.

Obwohl sie die ständige Bevormundung schwer zu ertragen fand, liebte Annie die Schule in der Stadt. Sie genoss ein seltenes Privileg, indem sie eine umfangreiche Ausbildung in Geschichte, Latein, Rhetorik, Algebra, Logik und Naturphilosophie erhielt. Eines Tages würde sie eine der wenigen Frauen sein, die über ihr eigenes Leben bestimmen konnten. Sie grinste.

Ihre feine Stiefmutter ging wie selbstverständlich davon aus, dass Annie eine normale Mädchenschule besuchte und ausschließlich in Etikette, Literatur und Französisch unterrichtet wurde. Geschah ihr ganz recht! Immerhin hatte Theresa sie vor drei Jahren eigenhändig in das Internat im hundert Meilen entfernten Cincinnati abgeschoben. Natürlich war es ihr primär darum gegangen, Annie aus dem Weg zu schaffen. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, dem Institut selbst einen Besuch abzustatten.

Warum nur hatte Annies Vater ein zweites Mal heiraten müssen? Und dann auch noch eine so überzüchtete Schönheit aus den Südstaaten? Eine, die lediglich neun Jahre älter war als seine Tochter! Wenn Annie auch nur an die wippenden blonden Korkenzieherlocken ihrer Stiefmutter dachte, überkam sie das Bedürfnis, Kletten zu sammeln und jemandem in die Haare zu hängen. So, wie sie das früher bei Theresa immer gemacht hatte.

Vielleicht hoffte ihre Stiefmutter auch, dass man Annie an der Schule Manieren beibrachte und man sie zu einer ebenso stocksteifen Lady erzog, wie sie selbst eine war. Wer wusste das schon so genau? Seit drei Jahren hatte Annie ihre Heimat nicht mehr gesehen, da kurz nach ihrer Ankunft in Cincinnati der Krieg zwischen den Staaten ausgebrochen war. Kentucky lag im Grenzgebiet zwischen den Kontrahenten und Annies Vater hatte bestimmt, dass es für sie sicherer war, weiter nördlich zu bleiben.

Annie war froh darüber! Viel lieber war sie an ihrer geliebten Schule, statt täglich Gefechte mit Theresa auszutragen. Welch glückliche Fügung, dass sie in Cincinnati ausgerechnet an das Institut gekommen war, das die Revolutionärin Miss Catherine Beecher gegründet hatte! Diese beschritt neue Wege in der Erziehung junger Frauen und kämpfte für eine angemessene Bildung für die künftigen Mütter der Nation. Nur Politik wurde als männliche Domäne betrachtet und stand nicht auf dem Stundenplan. Annie zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen. Politik ging jeden an. Natürlich fochten nur Männer im Krieg – aber auch Frauen waren unmittelbar davon betroffen. Warum sollten sie nicht die Hintergründe der Gewalt kennen, die ihr Leben zerstören konnte?

Jeden Tag hoffte Annie, dass die bornierten Südstaatler einsahen, dass eine Demokratie aus Kompromissen bestand – und sorgte sich um ihren Vater. Seit Kriegsbeginn hatte sie ihn nur einmal gesehen, nämlich als sein Regiment bei Cincinnati gelagert hatte. Aber jetzt musste er lediglich noch ein paar Monate durchhalten! Wie die meisten hatte er sich für drei Jahre verpflichtet und diese liefen im April aus. Dann würde er endlich nicht mehr in Lebensgefahr schweben und sie wieder ruhig schlafen können.

Colonel Bartholomew Bailey war in die Heimat Kentucky abkommandiert. Seit Wochen hatte Annie keine Nachricht über ihn oder seine Einheit bekommen können. Sie beruhigte sich damit, dass Kentucky zurzeit nicht im Fokus der Kämpfe stand. Aber das konnte sich im Nu ändern.

Selbst Cincinnati war nicht sicher. Vor fünf Monaten war der gegnerische General Morgan mit zweitausendfünfhundert Mann in den Norden bis hier vorgestoßen und hatte die Stadt in Angst und Schrecken versetzt. Die Zeitung nannte ihn zu Recht ›den Donnerkeil‹. Annies Vater und seine Einheit hatten die Gefahr gebannt und Morgan mit einem Teil seiner Männer gefangen genommen!

An einer Straßenecke kramte das Mädchen ein paar Münzen aus ihrem Beutel und kaufte einem Zeitungsjungen mit übergroßer Schiebermütze die Sonntagsausgabe ab. Sie warf einen Blick darauf und schob sie dann in den Korb. Daheim würde sie ihren Schatz in ihrem Versteck herausholen und genüsslich die Nachrichten aus der echten Welt verschlingen, die sonst nur tröpfchenweise und gefiltert zu den behüteten Schülerinnen durchdrangen.

Annie näherte sich dem Stadtrand. Die Häuser wurden niedriger und waren häufiger aus Holz statt aus Stein gebaut. Aus allen Schornsteinen stieg dichter Rauch. Dessen würziger Geruch legte sich auf die Stadt und die bleiche Wintersonne drang wie durch einen Schleier in die düstere Gasse.

Plötzlich registrierte Annie Tumult am Ende der Straße. Beim Näherkommen richteten sich ihre feinen Härchen im Nacken auf. Eine Gruppe aus fünf oder sechs Burschen hatte einen Kreis gebildet. Sie malträtierten johlend irgendeine Kreatur in ihrer Mitte. Immer wieder löste sich einer aus der Runde und vollführte im Zentrum einen schwankenden Tanz, während die anderen die Lücke sofort schlossen. Sie boten ihrem Opfer keine Möglichkeit zur Flucht. Hatte eine bedauernswerte Ratte das Pech gehabt, der Bande in die Hände zu fallen?

Die Halbstarken mochten knapp jünger sein als Annie, und der guten Kleidung nach zu urteilen waren es allesamt Sprösslinge von bessergestellten Handwerkern. Sie hatten bestimmt nur Flausen im Kopf und fühlten sich in der Gruppe unbesiegbar.

Während die spärlichen anderen Passanten in großem Abstand die Straßenseite wechselten und demonstrativ auf den Boden oder in die Luft starrten anstatt auf die Jugendlichen, näherte sich Annie rebellisch dem Geschehen. Sie sah gar nicht ein, einen Umweg in Kauf zu nehmen und im Straßenmatsch aus Staub, Schnee und Pferdeäpfeln ihre Schuhe zu beschmutzen.

Da setzte ein unheimliches Heulen ein und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Hatten diese Wüstlinge einen streunenden Hund in der Mangel? Annie beschleunigte ihre Schritte, und obwohl die langen Röcke sie ausbremsten, erreichte sie die Gruppe in wenigen Augenblicken. Über die Schultern der lachenden und grölenden Jungen warf sie einen Blick auf deren Opfer.

»Ach, du meine Güte«, entfuhr es ihr.

Nicht eine Ratte oder ein Streuner war in die Fänge dieser Tunichtgute geraten! Im Matsch der Straße lag ein etwa zehnjähriger Schwarzer. Seine Oberlippe war aufgesprungen, ein Auge schwoll bereits zu, und auf seinem hellen Hemd hatten Stiefel schwarze Abdrücke hinterlassen. Das Kind hielt die Lider geschlossen. Wenn der Kleine nicht den grauenerregenden Heulton ausgestoßen hätte, hätte Annie angenommen, dass die Burschen ihr grausames Werk schon zu weit getrieben hatten.

Hitze rauschte durch Annies Adern. Wie konnte jemand so unmenschlich handeln? Wie ein Racheengel fuhr sie zwischen die überraschten Peiniger.

»Was glaubt ihr eigentlich, was ihr da tut?«, kreischte sie. »Haut bloß ab, bevor ein Unglück geschieht!«

Sie stürmte ins Zentrum der Gruppe und schubste den Jungen weg, der noch über dem Kleinen stand und gerade zu einem Tritt ausholte. Immerhin hatte er den Anstand, eine ertappte Grimasse zu schneiden. Dann drehte er sich um und verschwand zwischen den Häusern.

Die anderen ließen sich nicht so leicht einschüchtern. Jetzt war es Annie, die in die Mitte genommen wurde. Feixend und Schmählieder singend, tanzten die Teufel um sie herum. Immer enger wurde der Kreis. Schon zogen ihr die ersten die Kapuze vom Kopf und rissen an ihren Haaren. Wie weit würden sie gehen? Annie verwünschte sich für ihr kopfloses Eingreifen. Ausgeliefert stand sie da und hielt mühsam die Tränen zurück. Diese Genugtuung wollte sie den Unholden nicht gönnen. Da zwickte sie einer der Lümmel in den Hintern und sie schoss herum. Genug war genug! Mit brennenden Augen sprang sie auf ihn zu, holte aus und traf ihn mit ihrem Korb voll an der Schläfe. Ein weiterer Schritt und sie war an ihm vorbei und dem Kreis entkommen.

Ihr war klar, dass sie sich lediglich einen Aufschub erkämpft hatte. Die Burschen waren schneller und in der Überzahl. Annie drehte sich um und wappnete sich gegen den nächsten Angriff – doch die Meute rannte, immer noch spottend, die Gasse hinunter und davon. In einem letzten wütenden Aufbäumen griff sie in ihren Korb und schleuderte ihren Peinigern die beiden Äpfel hinterher, erntete aber nur schallendes Gelächter, das zwischen den Häusern verklang.

Zitternd hielt Annie mitten auf der Straße an. Jetzt, da die Bedrohung verschwunden war, wich alle Kraft aus ihr. Es blieb nur Platz für eine niederschmetternde Frage: Wie konnten Menschen so grausam sein?

Der Junge hatte mit seinem erschütternden Geheul aufgehört und das unverletzte Auge aufgeschlagen. Als Annie ihm aufmunternd zulächelte, drehte er sich auf die Seite und kämpfte sich auf die Knie, dann auf die Füße. Dabei guckte er sie durchdringend mit seinem dunklen, gehetzten Rehauge an. Erst jetzt sah sie, dass er barfuß im Schneematsch stand. Seine fadenscheinige Kleidung war vollgesogen mit kalter Nässe und er bibberte am ganzen Leib.

Was sollte sie mit ihm anstellen? Unmöglich konnte sie ihn zu seinen Eltern ins Schwarzenviertel begleiten. Das war kein Ort für Weiße und erst recht nicht für weiße Frauen, die alleine unterwegs waren. Unsicher griff Annie erneut in den Korb und hielt dem Kind den Kanten Brot und das Stück Käse hin. Erst zögerte der Kleine, dann schnappte er blitzschnell danach, und humpelte mit einem kurzen Blick über die Schulter davon.

Wohin jetzt? Ohne Tauschware brauchte Annie bei den Soldaten nicht aufzukreuzen. Möglicherweise würde sie zwar Neuigkeiten erfahren, aber sicher nicht, ohne sich Anzüglichkeiten anhören zu müssen. Dafür war sie nach dem gerade Erlebten nicht in Stimmung.

Noch hatte sie sich nicht entschieden, da vernahm sie hinter sich ein Hüsteln. Sie zuckte zusammen. In einem Hauseingang lehnte ein buckliger Greis, der sich mit der einen Hand auf einen kunstvoll geschnitzten Stock stützte und in der anderen eine Pfeife hielt. Wie lang stand er schon da? Hatte er die Burschen in die Flucht geschlagen? Mit listigen Augen blinzelte der Mann zu ihr herauf.

»Warum hast du ihm geholfen?«, wollte er mit knarziger Stimme wissen. »Er ist doch nur ein Schwarzer.«

Empört richtete sich Annie zu voller Größe auf, überragte ihn jetzt um zwei Hauptlängen.

»Er. Ist. Ein. Mensch.« Sie betonte jedes Wort. Leiser fügte sie hinzu: »Nur ein Kind.«

Bedächtig nickte der Alte. »Wohl. Wohl. Das war die richtige Antwort.«

Er musterte sie von oben bis unten, bis Annie sich unbehaglich in ihrer Haut fühlte. Endlich unterbrach er die Stille: »Dass du dich für ihn eingesetzt hast, war tapfer. Und nicht ungefährlich. Meine Frau hat alles vom Fenster aus beobachtet, sich aber nicht selbst auf die Straße getraut. Eine Schande ist das, wie wir unsere schwarzen Mitbürger behandeln. Jedoch ist es allemal besser als ihr Sklavendasein in den barbarischen Südstaaten.«

Im ersten Moment wollte Annie voller Überzeugung zustimmen. Dann wurde ihr mulmig. Ihre Heimat Kentucky hatte sich zwar den Nordstaaten angeschlossen, aber Sklaverei war dort immer noch nicht verboten. Selbst ihr Vater hatte früher einige Sklaven besessen. Ihre leibliche Mutter hatte vor der Hochzeit dafür gesorgt, dass er ihnen die Freiheit schenkte. Zumindest hatte das ihre Haushälterin Mrs. Foster einmal erzählt, als Klein-Annie sie wieder einmal um Geschichten von früher angefleht hatte.

Die Zeiten änderten sich. Nur waren die Menschen im Süden zu eigensinnig, um das zu akzeptieren.

Waren die Rebellen nur rückständig oder von Natur aus blutdürstig? Immerhin führten sie einen Krieg für das Recht, eine andere Rasse zu unterdrücken. Annie hatte davon gehört, dass auf so manchen Plantagen im Süden Sklaven grausam misshandelt wurden. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Wenn die Südstaatler ihre Macht nicht derart missbraucht hätten, wäre es nie zu diesem blutigen Bürgerkrieg gekommen!

Zögerlich fasste sie ihre Gedanken in Worte: »Ich kann es nicht leiden, wenn jemand gequält wird.«

Der Alte sah sie seltsam an und fragte dann: »Hast du je von der Untergrundbahn gehört?«

Verwirrt schüttelte Annie den Kopf.

Er kicherte. »Da könnten wir mutige Frauen wie dich gut gebrauchen. Dank des vermaledeiten Krieges ist der Großteil unseres Schienennetzes zusammengebrochen.«

Annie verstand nur Bahnhof.

Der Kauz wurde plötzlich todernst. »Kurz zusammengefasst: Wir sorgen dafür, dass befreite Sklaven sicher bis nach Kanada gelangen. Das ist natürlich illegal. Aber ist das die Rettung eines Menschenlebens nicht wert?«

Er starrte das Mädchen so lange durchdringend an, bis Annie nicht anders konnte, als zustimmend zu nicken. Erst dann fuhr er fort. »Wir stecken in einer schwierigen Situation. Unser regulärer Schaffner ist noch unterwegs und demnächst erwarten wir eine Lieferung. Hier kommst du ins Spiel. Deine Gesinnung und deinen Mut hast du gerade bewiesen. Falls der Herr nicht rechtzeitig zurück ist – kannst du dich mit einer gewissen Vorankündigung freimachen?«

Annie schwieg überrumpelt. Was wollte der Alte von ihr?

»Du bist doch auch für die Abschaffung der Sklaverei, oder etwa nicht?«, hakte er mit einem schmalen Lächeln nach.

Diese Frage hatte ihr bis heute noch niemand gestellt.

War sie für die Haltung von Sklaven? Ihr Magen zog sich bei dieser Vorstellung zusammen.

Mit dem unguten Gefühl, in eine Sache verwickelt zu werden, die sie nichts anging, brachte sie hervor: »Ich glaube schon.«

»Gut, dann ist alles gesagt.« Mit einem listigen Blick auf die Schuluniform, die unter ihrem verrutschten Mantel hervorlugte, fügte er hinzu: »Wenn es notwendig werden sollte, finden wir dich im Institut für Schülerinnen des Westens.«

Bevor Annie protestieren konnte, hatte er sich umgewandt und ihr seine Haustür vor der Nase zugeschlagen.

4 Nick – 13. Dezember 1863

S obald ich den Kamm erreicht hatte, überblickte ich die ganze Szene vor mir. Fremde Reiter waren über den Hof hereingefallen; trampelten den Gemüsegarten meiner Ma nieder; johlten siegessicher; gaben Schüsse aus ihren Revolvern ab. Einer von ihnen sah in meine Richtung und ich konnte mich gerade noch flach auf den Bauch werfen. Mit klopfendem Herzen lugte ich am Gebüsch vorbei. Was ging dort vor sich? Einer der Burschen hielt Daisy am Zügel. Mein Pferd gebärdete sich wie wild; stieg; verdrehte die Augen. Der Kerl musste die Fersen in die Erde stemmen, damit es nicht ausbrach.

Da entdeckte ich meinen Vater. Trotz seines lahmen Beins stand er aufrecht inmitten der Eindringlinge, an seinem bloßen Hals eine Messerklinge. Der Besitzer des Messers überragte meinen Vater um mehr als eine Hauptlänge. Im Gegensatz zu seinen Kumpanen trug er keinen Hut. Immer wieder hob er seine Hand und strich sich die langen, weißblonden Haare aus dem bartlosen Gesicht, die der Wind sofort erneut nach vorne wehte. Den Blick hielt er starr auf den Stall gerichtet. Kalte hellblaue Augen, wie ich von unseren früheren Begegnungen wusste. Freddy Johnson.

Fast überhörte ich seine sanfte Stimme. Bei seinen Worten wurde mir eiskalt: »Ich frage jetzt ein letztes Mal: Wo. Hast. Du. Die. Sklavin. Versteckt?«

Die Männer waren auf der Suche nach Delilah. Ich musste aufstehen und meinem Pa helfen! Die Schuld auf mich nehmen! Aber würden sie mir überhaupt zuhören? Was konnte ich gegen so eine Übermacht ausrichten? Verspielte ich meinen Vorteil, wenn ich mich jetzt zeigte? Zitternd drückte ich mich auf den Boden. Unfähig, die Augen von der Szene abzuwenden.

Vater wirkte keineswegs verängstigt oder betrunken. »Und ich bleib dabei: Es gibt auf dieser Ranch keine Sklaven.«

Seine Antwort war fest. Er hatte keinen Zweifel daran, dass er im Recht war.

Der Blonde verzog sein Gesicht zu einem freudlosen Lachen. »Wir wissen, dass sie hier ist. Wir haben ihre Spur bis hierher verfolgt. Ich möchte nur hören, wo ihr sie versteckt habt.«

Vater würdigte ihn keiner Antwort mehr. Sekunden verstrichen in angespanntem Schweigen.

Als klar war, dass keiner von beiden nachgeben würde, wandte sich Freddy Johnson mit kalter Stimme an seine Männer: »Durchsucht alles und bringt mir dieses elende Miststück!«

Darauf hatten die anderen nur gewartet. Hilflos sah ich mit an, wie zwei, in denen ich mittlerweile Cowboys von Mr. Goodman erkannt hatte, das Ranchhaus stürmten.

Drei andere schoben das Stalltor auf. Sie mussten Mitglieder des Heimatschutzes sein, schloss ich anhand ihrer fleckigen grauen Hosen und militärisch geschnittenen Mäntel. Einer von ihnen trug seinen rechten Ärmel verknotet. Vermutlich war er wegen seiner Verstümmlung aus der Armee ausgeschieden.

Aus dem Haus schrillten Schreie. Charlotte, Ben, Ma und Mary waren da drin! Was taten diese Schufte ihnen an? Ich spannte alle Glieder an, aber in diesem Moment tauchten auch die anderen drei aus dem Stall wieder auf und zerrten Delilah hinter sich her. Das Mädchen sandte hilfesuchende Blicke in alle Richtungen und stemmte sich mit ihrem ganzen Körper gegen die Hände, die sie gepackt hielten, wurde aber Fuß um Fuß weitergeschleift.

Warum war ich so nachlässig gewesen? Noch vor wenigen Stunden hatte ich Delilah versprochen, sie zu beschützen. Ich hätte sie besser verstecken müssen! Zumindest hätte ich darauf achten müssen, unsere Spuren zu verwischen! Was konnte ich jetzt noch für sie tun? Ich biss mir in den Handrücken, damit ich nicht in Tränen ausbrach. Mit verschleierten Augen sah ich, wie ein Lächeln Freddys Lippen kräuselte.

»Du hättest mich nicht anlügen sollen«, sagte er sanft.

Ohne meinen Vater noch eines Blickes zu würdigen, zog er ihm das Messer die Kehle entlang. Pa brach gurgelnd zusammen.

Nein! Nicht Pa! Eiswasser pumpte durch meine Adern. Meine Gedanken wurden zäh. Nie würde ich Vaters ungläubigen Gesichtsausdruck vergessen! War ihm in seinem letzten Moment klar geworden, dass einer von uns die Familie verraten hatte?

Die Tür zum Haupthaus flog auf und Ma und Charlotte traten aneinander gedrückt ins Freie. Ihnen folgten die beiden Cowboys mit den Revolvern im Anschlag und stießen sie vorwärts. Der größere hielt Ben mit der linken Hand am Hemdkragen gepackt und riss ihn hinter sich her. Mein kleiner Bruder zappelte stumm wie ein Fisch an der Angel konnte aber nichts ausrichten. Von Mary fehlte jede Spur.

Verzweifelt blinzelte ich. Grub meine Fingernägel in die Erde; spürte kaum, wie sich Steinsplitter in meine Fingerspitzen bohrten. Ich wollte aufspringen! Meiner Familie helfen! Was hatten die Männer mit ihnen vor? Allein hatte ich gegen so viele Gegner keine Chance. Erstarrt blieb ich liegen.

Meine Mutter und Charlotte stützten sich gegenseitig, als sie grob zum Stall geschoben wurden. Ma drückte ihren Rücken durch. Mit blitzenden Augen drehte sie sich zur Meute um – und sah Vater mit dem Gesicht nach unten im Dreck liegen. Abrupt blieb sie stehen und starrte auf ihren Ehemann. Ihr Bewacher lief auf sie auf, fluchte und folgte ihrem Blick. Kurz zögerte er, dann gab er Ma einen Schubs nach vorne. Ein Schrei verließ ihre Kehle, der mir mitten ins Herz fuhr.

Tränen schossen mir in die Augen. Der Schrei hallte in meinem Körper wider; vervielfachte sich. Ich wollte in das Wehklagen einfallen. Heulen wie ein Wolf. Mich auf die Angreifer stürzen.

Daisy riss sich mit einem letzten Aufbäumen los und verschwand in donnerndem Galopp über die Prärie. Leben kam in die Männer. Sie brüllten Verwünschungen, schrien ihre Geiseln an und stießen sie durch das Stalltor aus meiner Sicht. Das Geheul meiner Ma brach plötzlich ab und eine unheimliche Ruhe legte sich über den Hof.

Der blonde Teufel pfiff und schwang sich auf sein Pferd. Die anderen Heimatschützer folgten seinem Beispiel. Einer von ihnen hielt Delilah vor sich im Sattel, die sich stumm in ihr Schicksal ergeben hatte. Jetzt rannten die letzten beiden aus dem Stall; nahmen sich die Zeit, von außen den Riegel vorzuschieben. Dann galoppierte die Truppe davon und ließ nur eine Staubwolke zurück.

Da erst bemerkte ich den dunklen Rauch, der über dem Stall aufstieg.