Kitabı oku: «Die Brücken zur Freiheit - 1864», sayfa 3

Yazı tipi:

5 Annie – 13. Dezember 1863

A nnika Bailey, bist du hier irgendwo?«

Die schneidende Stimme von Mrs. Hodgers drang in jeden Winkel des kleinen Stalls. Annie zuckte zusammen, versteckte eilig die Zeitung, über der sie die Zeit vergessen hatte, und duckte sich im Verschlag des alten Kutschgauls noch tiefer in das Stroh. Sie hielt den Atem an. Sekunden verstrichen, in denen sie nur das Schnauben des Pferdes und das gelegentliche Stampfen und Rascheln von Hufen vernahm.

»Suchen Sie irgendwas?«, dröhnte der Bass des Kutschers durch die Stille.

»Haben Sie Miss Bailey gesehen?«

»Was sollte sie denn im Stall verloren haben? Kommen Sie mit nach draußen, dann helfe ich Ihnen, sie zu finden.«

Für einen Moment erschien das Gesicht ihres Freundes Mr. Curtis über der Wand der Box. Verschwörerisch blinzelte der alte Mann Annie zu. Dann fiel die Tür hinter den beiden ins Schloss.

Sofort entspannte sich Annie. Sie musste noch besser aufpassen, wenn sie hierherkam! Keine andere Schülerin hätte Mrs. Hodgers ausgerechnet im Stall gesucht. Für Annie jedoch waren Pferde gleichbedeutend mit Freiheit. Der Stall bot ihr ein Versteck vor dem Trubel im Internat, wo sie nie allein war. Nicht im Schlafsaal, nicht im Unterricht, nicht im Speisesaal.

Annie schloss die Augen und sog den würzigen Duft nach Pferd ein. In der Zeit vor dem Krieg hatte sie auf dem Rücken ihrer Stute für ein paar Stunden dem Tadel ihrer Stiefmutter und den standesgemäßen Konventionen entfliehen können. All ihre glücklichen Kindheitserinnerungen waren mit Pferden verknüpft. Sie konnte immer noch die starken Arme ihres Vaters um sich spüren, wie er sie als kleines Mädchen vor sich im Sattel gehalten hatte. Das glockenhelle Lachen ihrer echten Mutter war ein fester Bestandteil dieser Erinnerung. Wenn Annie sich konzentrierte, konnte sie deren Silhouette im Gegenlicht ausmachen. So vertraut. Doch nie gelang es ihr, dem Umriss ein Gesicht zu geben.

Traurig streichelte das Mädchen dem Falben über die Nüstern und genoss das Gefühl von weichem, beweglichem Fell unter ihren Fingern. Sanft stupste der Hengst gegen ihre geöffnete Handfläche und sein warmer Atem strich darüber. Seit einem gefühlten Jahrhundert war sie auf keinem Pferd mehr gesessen. Sie vermisste den Wind in ihren offenen Haaren, die gleitende Bewegung unter sich, wenn sie mit ihrem Pferd zu einer Einheit verschmolz und über die Weide am Waldrand stob. Sehnte sich nach der Aufregung, wenn sie einen riskanten Sprung über einen gestürzten Baum wagte, und die Unabhängigkeit, wenn sie allein schnelle Entscheidungen treffen musste. Nur sie gab dann die Richtung vor!

Annies geheimes Ziel war es, nach ihrem Schulabschluss die heimatliche Pferdezucht mit ihrem Vater zusammen zu leiten. Natürlich war das für eine Frau unerhört. Aber die Welt der Züchter musste sie einfach anerkennen, wenn sie die Beste in ihrem Fach war und Zuchterfolge aufweisen konnte! Ihre Bildung würde der Grundstein werden für die Brücke in ein freies Leben.

Das nächste Mal, wenn sie ihren Vater sah, würde sie ihm ihren Traum anvertrauen. Er würde stolz sein. Bestimmt. Gedankenverloren zog Annie die Zeitung unter dem Stroh hervor und strich liebevoll mit dem Finger über die gedruckten Zeilen, ohne sie zu lesen. Bücher und Zeitungen waren ihr geheimes Fenster auf die aufregenden Geschehnisse außerhalb der Schulmauern seit ihrer Kindheit.

Annies Mutter Sue hatte in ihr schon als kleines Mädchen die Neugierde auf die Geheimnisse der Welt geweckt. Sie war es gewesen, die Annie enthüllt hatte, dass man mithilfe von Büchern alle Grenzen überwinden konnte. Seit Annika gelernt hatte, Buchstaben zu entziffern, sog sie jeden geschriebenen Text in sich auf, der ihr in die Hände fiel. Dass sie einen großen Teil der Lexika, Pferdezuchtbücher, Romane, Manöverstrategien, Geographiewerke und Ausführungen zum christlichen Glauben, die sie in der Bibliothek entdeckte, anfangs nur ansatzweise begriff, störte sie nicht im mindesten.

Sue hatte es sich nicht nehmen lassen, Annika zusammen mit den Kindern der Haushälterin George und Maggie persönlich zu unterrichten. Niemand hatte ein gütigeres Herz als ihre Mutter. Annie musste bei der Erinnerung schmunzeln. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie noch die rauen Bretter der Tische im alten Schulhaus unter den Fingerspitzen fühlen. Zum ersten Mal kam ihr die Frage in den Sinn, warum ihre Mutter darauf bestanden hatte, das kleine Blockhaus im Wald als Schule zu nutzen. Vor dem Wiederaufbau war es halb verfallen gewesen – vermutlich stammte es noch von den ersten Siedlern. Vielleicht hatte es damit zu tun, dass Sue immer von einer eigenen Schule geträumt hatte und kurze Zeit als Lehrerin tätig gewesen war, bevor sie Annies Vater getroffen hatte. Zumindest hatte dieser ihr das einmal erzählt. Oder vielleicht hatte Sue es einfach genossen, dort im Wald ihr eigenes Reich zu erschaffen.

Annies Erinnerung duftete nach poliertem Holz und Tinte. Neben ihr saß George. Sein Kopf lag schief und dunkle Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Vor Konzentration hatte er die Zunge aus einem Mundwinkel gestreckt. Trotzdem gerieten ihm die Buchstaben windschief und konnten kaum entziffert werden. Sobald sich Sue zur großen Tafel umdrehte und mit schönen Bögen ein kompliziertes Wort anschrieb, ließ George die Schreibfeder fallen, und sein spitzbübisch funkelnder Blick traf den Annies. Wie sehr sie ihn um seine langen, dunklen Wimpern und die blitzenden Augen beneidete. Sie waren schwarz wie ein Moorsee! Nie konnte sie sicher sein, was dahinter vorging und was er diesmal wieder ausgeheckt hatte. Genervt drehte sie sich weg, konnte es aber nicht lassen, zwischen den Haaren hindurch zu ihm hinüber zu schielen. Hatte er in seiner Hosentasche ein paar Regenwürmer in die Schule geschmuggelt? Oder hatte er ihr eine seltene Blüte mitgebracht, die er bei seiner Arbeit auf der Ranch entdeckt hatte? Oder würde er sie gleich mit feuchten Papierkügelchen beschießen?

Nach dem Tod von Annies Mutter hatte ihr Vater es in seiner Trauer versäumt, einen Hauslehrer oder eine Gouvernante einzustellen. Die achtjährige Annika hatte es ungerecht gefunden, dass ihrer aller Ausbildung auf einen Schlag beendet war. So setzte sie durch, dass der Unterricht beibehalten wurde und übernahm kurzerhand selbst das Zepter. Im Hier und Jetzt musste sie über ihr jüngeres Ich lächeln. Kaum nachdem sie den Entschluss gefasst hatte und die erste Stunde näher rückte, war sie immer nervöser geworden. Sie hatte sich nichts sehnsüchtiger gewünscht, als dass ihre Schüler nicht nur aus Pflichtgefühl teilnahmen. Sie wollte ihre Neugierde wecken und vielleicht auch George ein klein wenig beeindrucken.

Tagsüber ritt sie über die Wiesen und durchforstete in Gedanken alle Geschichten, die sie selbst besonders faszinierten. Schließlich verfiel sie auf Christopher Columbus, der für sie der Inbegriff von Forscherdrang war. Als Entdecker Amerikas war er prominent genug, um für die Foster-Kinder – insbesondere für den hibbeligen George – interessant zu sein.

Wieder zu Hause hatte sich die achtjährige Annie auf das Geschichtslexikon ihres Vaters gestürzt und sich in das Spanien des fünfzehnten Jahrhunderts entführen lassen. Sie kniete sich an Christophers Seite vor die Königin Isabella und erbat Geld für eine Expedition nach Indien; bangte, ob ihr Lebenstraum endlich in Erfüllung ginge; erlebte zusammen mit den Matrosen die endlose Seereise mit Krankheiten, Entbehrungen, Hoffnung im Herzen und dem berauschenden Gefühl der Freiheit; jubelte erleichtert »Land in Sicht!«, als die ersten Inseln auftauchten.

Annies erste Unterrichtsstunde war jedoch um Haaresbreite ins Wasser gefallen, weil George nicht auftauchte. Unruhig lief Annie auf und ab, kaute auf ihrer Unterlippe und zerbrach fast den Zeigestab, der länger war als sie selbst. Maggie saß stumm in ihrer Schulbank und verfolgte verängstigt, wie Annie immer nervöser wurde.

Erst mit einer ganzen halben Stunde Verspätung lud Mr. Foster seinen Sohn eigenhändig vom Pferd und schleifte ihn am Ohr herein. Mit verschränkten Armen, Schmutzstreifen im Gesicht und völlig verstrubbelt schmollte George in seiner Bank. Wenn Annie ihn aufrief, verweigerte er jede Antwort.

»Maggie, könntest du bitte für uns das Wort ›Pferd‹ buchstabieren, wenn das für deinen Bruder zu schwierig ist?«, versuchte sie es bei seiner Schwester. Vielleicht konnte sie George bei seinem Stolz packen. Bestimmt ließ er nicht zu, dass die Kleine ihn überflügelte.

Mit aufgerissenen Augen starrte Maggie ihre neue Lehrerin an. Als Annie schon die Hoffnung aufgegeben hatte, klappte die Kleine den Mund auf.

»Pferd buchstabieren«, wiederholte sie wenig hilfreich.

»Sei still«, blaffte George seine Schwester an. »Annie ist nicht unsere Lehrerin! Sie will sich nur aufspielen.«

Annie biss sich auf die Innenseite ihrer Lippe. Sie wollte George nicht die Genugtuung geben und ihn anschreien oder anfangen zu heulen. Er hatte ja recht – ihre Mutter sollte hier vorne stehen. Doch Sue war nicht mehr da.

Annie wollte nicht daran denken, dass ihre Mutter tot war. Wollte vergessen, dass ihr Vater zu irgendeiner Geschäftsreise aufgebrochen war und sie verlassen hatte. Wollte, dass alles wieder so wurde wie früher!

Also setzte sie sich an das Lehrerpult und begann zu erzählen: »Vor langer Zeit lebte ein Mann, der hieß Christopher Columbus. Wenn er 1492 Amerika nicht entdeckt hätte, säßen wir alle heute nicht hier.«

Während sie die Geschichte Stück für Stück vor ihren Zuhörern ausbreitete, bemerkte Annie zufrieden, dass Maggies Augen anfingen zu leuchten und Georges Arme sich lockerten. Gebannt hingen die Geschwister an ihren Lippen und saugten jedes Wort auf.

Angespornt von diesem Erfolg hatte Annie sich von da an mit Leib und Seele in die Vorbereitung des Unterrichts geworfen. Wenn sie nicht gerade ausritt, traf man sie mit großer Wahrscheinlichkeit in der Bibliothek ihres Vaters an. Natürlich hatte es George auch weiterhin nicht gefallen, dass Annie sich als Lehrerin gebärdete. Wenn es ihr jedoch gelungen war, ihn für ein Thema zu begeistern, hatte der Triumph jedes Mal umso süßer geschmeckt.

Annie konzentrierte sich wieder auf die Zeitung in ihren Händen und überflog die Überschriften nach Neuigkeiten aus dem Krieg. Hatte es der Norden endlich geschafft, weiter in den Süden vorzudringen? Gab es einen Hinweis, wo die Einheit ihres Vaters derzeit eingesetzt war? Annie stutzte, als ihr die Wörter »geflohene Sklaven« und »Torturen« ins Auge fielen. Irritiert sprang sie zum Anfang des Artikels und las: »Eine neue Enthüllung des Grauens! Um den Grad der Brutalität zu veranschaulichen, den die Sklaverei unter den Weißen im Süden erreicht hat, fügen wir den folgenden Auszug aus einem Brief der New York Times hinzu, in dem wir wiedergeben, was Flüchtlinge von Mrs. Gillespies Anwesen am Black River erzählt haben.«

War es Schicksal, dass dieser Artikel ausgerechnet heute in der Zeitung stand? Oder hatte sie derartige Berichte bis jetzt unbewusst übersprungen?

Mit einem mulmigen Gefühl studierte Annie die Stelle noch einmal langsam: »Die Behandlung der Sklaven ist in den letzten sechs oder sieben Jahren immer schlechter geworden. Das Auspeitschen des nackten Körpers mit einem Lederband ist häufig.«

Und weiter unten: »Eine andere Methode der Bestrafung, die für schwerere Verbrechen verhängt wird, wie z. B. Flucht oder anderes widerspenstiges Verhalten, besteht darin, ein Loch in den Boden zu graben, das groß genug ist, damit der Sklave darin hocken oder sich hinlegen kann. Das Opfer wird dann nackt ausgezogen, in das Loch gesteckt und eine Abdeckung oder ein Gitter aus grünen Stöcken über die Öffnung gelegt. Über diesen wird ein Feuer aufgebaut. Die brennende Glut fällt auf das nackte Fleisch des Sklaven, bis sein Körper Blasen bildet und bis zum Platzen anschwillt. Gerade noch lebendig genug, um kriechen zu können, darf sich der Sklave von seinen Wunden erholen, wenn er kann, oder seine Leiden durch den Tod beenden.

Charley Sloo und Overton, zwei Hilfsarbeiter, wurden beide durch diese grausame Folter ermordet. Sloo wurde zu Tode gepeitscht und starb an den Folgen kurz nach der Bestrafung. Overton wurde nackt auf sein Gesicht gelegt …«

Tränen bannten in Annies Augen und sie konnte nicht weiterlesen. Ungläubig starrte sie auf die Zeilen. Warum wurde etwas so Grausames gedruckt? Menschen wurden hier schlechter behandelt als jedes Tier! Wie konnte es sein, dass ein Sklavenbesitzer derartige Willkür walten lassen durfte und dabei durch das Gesetz geschützt war? Immerhin befand sie sich in Amerika, in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts! Wie konnten die Südstaatler stolz auf ihre Freiheit sein und gleichzeitig ihre Wirtschaft auf einem System der Sklaverei begründen?

Zu Hause in Kentucky waren Sklaven ein fester Bestandteil der Gesellschaft, den sie nie hinterfragt hatte. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass hier im Staat Ohio das Alltagsleben auch ohne Sklaven wunderbar funktionierte. Natürlich gab es auch hier Schwarze, doch die lebten in ihren Vierteln mit eigenen Kirchen, Schulen und Läden, die kaum je ein Weißer betrat. Heute hatte sie das erste Mal mit einem von ihnen gesprochen. Wie es dem Kleinen wohl ging?

Bis jetzt hatte Annie diese Abolitionisten, wie sich die Leute nannten, die sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten, belächelt. Sollten sie doch singend und Banner schwingend durch die Straßen ziehen. Meinten sie wirklich, sie konnten damit auch nur einen Sklavenhalter zum Umdenken bewegen?

Doch nach dem Vorfall heute verlieh es ihr ein beruhigendes Gefühl, dass Menschen wie der kauzige Alte existierten, die sich um entlaufene Sklaven kümmerten. Im Grund konnte sie sich vorstellen, sich irgendwann für Flüchtlinge zu engagieren. Aber gerade jetzt hatte sie keine Zeit. Sie musste sich dringend auf ihre Prüfungen konzentrieren und Geschenke für Weihnachten besorgen.

Entschlossen wischte sich Annie die Tränen ab, steckte den Zeitungsbericht hinten in ihr Schulbuch, schlug ›Die Fibel der Ökonomie‹ an der eingemerkten Stelle auf und vertiefte sich in die Abwicklung von Kaufverträgen.

6 Nick – 13. Dezember 1863

E ndlich erwachte ich aus meiner Erstarrung; sprang auf; rannte den Hügel hinunter. Meine Tränen ließen den Hang vor mir verschwimmen. Ich strauchelte; fing mich im letzten Moment; rieb mir unwirsch über die Augen; hastete weiter. Als ich den Stall erreicht hatte, leckten Flammen aus dem Dach; der schwarze Rauch türmte sich darüber. Die erstickten Hilfeschreie meiner Schwester waren in Husten und Keuchen übergegangen. Aber sie lebte! Wie stand es um Ma und Ben?

Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich mit zitternden Fingern den Riegel zurückgeschoben hatte. Gerade noch konnte ich zur Seite springen, als eine Kuh nach draußen stürmte, die Augen in Panik verdreht. Das Feuer war im vorderen Teil gelegt worden, in den Boxen mit Heu und Werkzeugen. Die Luft war zum Schneiden dick. Ich zog mein Hemd nach oben über Mund und Nase und trat in das Flammenmeer.

Sofort spürte ich die sengende Hitze auf der Haut. Meine Augen brannten und tränten. Ich musste den Drang, sie fest zuzukneifen, mit Gewalt unterdrücken und stolperte halb blind vorwärts. Meine Lippen wurden trocken und rissig und ich hustete unkontrolliert. Trotzdem drang ich weiter vor.

»Wo seid ihr?«, rief ich erstickt und musste erneut husten.

Zum Glück waren die Pferde nicht im Stall! Ich schüttelte mechanisch die Funken von meinem Hemdsärmel; ignorierte den brennenden Schmerz. Einer Eingebung folgend, stieß ich die Tür zu Delilahs Krankenlager auf. Tatsächlich stand der Eimer mit Milch noch fast voll mitten im Raum. Ich packte ihn und kehrte auf dem Absatz um. In einem Funkenregen krachte ein Balken vom Dachstuhl neben mir zu Boden, verfehlte mich nur knapp. Nur weiter. Weiter. Ein beißender Geruch nach verbrannten Haaren und angesengter Haut ließ mich keuchen. Langsam sickerte ein Gedanke in mein Bewusstsein: An einem einzigen Tag hatte ich meine halbe Familie getötet. Hoffnungslos schluchzte ich auf. Aber es kamen keine Tränen mehr. Meine Augen waren ausgetrocknet.

Nach endlosen Minuten hörte ich wieder Husten. Mindestens einer von ihnen lebte noch! Was war mit den anderen? Ein neuer Schluchzer entrang sich meiner schmerzenden Kehle. Mit wackligen Beinen hastete ich weiter. Es kam von der Kutsche, die in der letzten Ecke des Stalls noch nicht von den Flammen erfasst worden war. Sie wurde fast verhüllt von schwarzem Qualm. Nur noch wenige Minuten, dann würde auch sie ein Opfer des Feuers werden. Meine Haut brannte und spannte unerträglich. Ich taumelte auf die Kutsche zu; erklomm über ein Wagenrad die Ladefläche; zerrte den Eimer hinter mir her.

»Nicky?« Ma starrte mir mit rußgeschwärztem Gesicht entgegen.

Sie waren alle drei da. Die beiden Frauen hatten Ben in ihre Mitte genommen. Mit einer Decke schützten sie sich vor herabregnenden Funken, wagten es aber nicht, ihre Zuflucht zu verlassen. Warum auch? Sie wussten, dass das Tor von außen verrammelt war. Es gab keinen Weg nach draußen.

»Wir …« Meine Stimme versagte. Vermutlich hätten sie mich im Getöse und Poltern eh nicht gehört. So tauchte ich wortlos die Decke in den Milcheimer und wickelte sie fest um Ben.

Der kleine Junge hielt still, erstarrt angesichts der Hölle, in die er geraten war. Danach tränkte ich die Schultertücher der beiden Frauen. Sie verstanden, was ich vorhatte, und schlangen sich jede ihr Tuch über Kopf und Schultern. Am Ende blieb gerade genug Flüssigkeit übrig, um mein Hemd vorne anzufeuchten. Hoffentlich konnte ich so wenigstens besser atmen. Wir durften keine Zeit verlieren! An den Vorderrädern züngelten Flammen empor. Wir mussten hier raus! Bevor die Tücher getrocknet waren und die Dachkonstruktion so angenagt war, dass sie in sich zusammenfiel.

Wir halfen uns gegenseitig beim Hinunterklettern und stürzten uns in den Glutofen. Charlotte setzte sich an die Spitze. Sie hielt sich einen Arm vor das Gesicht; suchte uns einen Weg über qualmende Balken in Richtung Tor. Ma folgte mit Ben an der Hand. Ich bildete die Nachhut.

›Wir müssen es schaffen. Wir müssen es schaffen.‹ Mein Kopf fühlte sich seltsam leicht an. Das Inferno um mich herum wie ein Traum. Ein Funke setzte sich auf meinen Handrücken; fraß ein Loch hinein. Ich brauchte unendlich lang, bis ich ihn fortwischte. Warum legte ich mich nicht einfach hin und ruhte mich aus? Nur für einen Moment.

Ein ohrenbetäubendes Quietschen und Knacken ertönte. Der Stall stürzte ein! Entsetzen packte mich und ich schob Ma weiter. Nur noch ein paar Schritte bis zum Ausgang. Charlotte erreichte das Tor und schlüpfte nach draußen. ›Wir müssen es schaffen!‹ Mit letzter Kraft packte ich Ma am Arm und zog sie und Ben ins Freie.

Als ich mich umsah, war der Stall verschwunden. Stattdessen schickte ein riesiger Scheiterhaufen seine Flammen in den grauen Nachmittagshimmel. Es hatte wieder begonnen zu schneien. Erschöpft ließ ich mich zu Boden fallen und schloss die Augen. Was habe ich getan, war mein letzter Gedanke, bevor ich das Bewusstsein verlor.

7 Annie – 17. Dezember 1863

V oller Tatendrang erwachte Annie vor allen anderen Schülerinnen im Schlafsaal. Bibbernd sprang sie aus dem warmen Bett, schlüpfte in ihre Pantoffeln und warf sich einen Mantel über das Nachthemd. Der Lokus draußen hinter dem Haus war noch ein Schatten in der beginnenden Morgendämmerung. Trotz der schneidenden Kälte und der Feuchtigkeit, die durch die Schuhe an ihre Zehen drang, zog das Mädchen diesen Ort der Bettpfanne vor. Sie verabscheute den entwürdigenden Moment, wenn man am Morgen die stinkende Brühe aus Kot und Urin schwappend die Treppe hinunterbefördern musste. Der Deckel schützte zwar vor dem Anblick, bildete aber keine wirkungsvolle Barriere gegen den beißenden Gestank.

Auf dem Rückweg füllte Annie mit klammen Fingern ihren Eimer am Brunnen und schleppte ihn die Stufen hinauf in den Waschraum. Mittlerweile waren auch die anderen Mädchen auf den Beinen und es herrschte ein munteres Durcheinander.

»Annika, könntest du mir bitte kurz helfen?« Hilfesuchend blickte Loreley ihrer Freundin über die Schulter entgegen.

Sofort stellte Annie den Eimer ab und zog Loreley die Bänder ihres Mieders straff im Rücken zusammen. Sie musste nicht fest anreißen, da beide Freundinnen gertenschlank waren. Neidisch streifte Annies Blick die schon beachtliche Oberweite der anderen. Sie selbst überragte alle in ihrer Schulklasse und zeigte bis jetzt kaum weibliche Rundungen.

»Meinst du, wir müssen heute bei den Leibesübungen wieder Kniebeugen machen?« Allein bei dem Gedanken schrumpfte Loreley, die ohnehin nicht besonders hochgewachsen war, weiter in sich zusammen.

Ihr blasses Gesicht wurde von großen, graublauen Augen und einem hübschen Knospenmund dominiert. Als Tochter eines methodistischen Pastors war sie hier in der Schule das erste Mal gezwungen gewesen, sich körperlich zu betätigen. Sie verabscheute die Turnstunden aus tiefster Seele. Ebenso wie Annie war sie eine Außenseiterin unter den Schülerinnen. Sie war auch die Einzige, mit der Annie ihre Pläne für die Zukunft teilte, weil Loreley verstand, dass manche Ziele es wert waren, die Erwartungen der Gesellschaft zu durchbrechen. Nicht umsonst hatten Loreleys Eltern sie aufs Internat geschickt, um sie aus der Nähe eines gewissen jungen Herrn – gutaussehend, irisch, katholisch – zu entfernen.

»Loreley, du schummelst! Die Knie müssen einen rechten Winkel bilden. Denke immer daran: In einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist.«

Mrs. Hodgers übersah nie eine Verfehlung einer ihrer Schülerinnen. Annie hatte Mitleid mit der Freundin, die noch blasser war als sonst und vor Anstrengung schnaufte.

»Gleich hast du es geschafft. Nur noch fünf Stück«, munterte sie die Gequälte aus dem Mundwinkel heraus auf. Sie selbst hatte, gestählt durch die unzähligen Stunden im Sattel, bereits mehr Kniebeugen vollführt als gefordert.

»Wenn alle fertig sind, ist der Walzer an der Reihe«, kommandierte Mrs. Hodgers.

In Loreleys Gesicht ging die Sonne auf, während Annies Miene versteinerte. Wenngleich sie spielend den Rhythmus eines Pferdes übernehmen konnte, gelang ihr dieses Kunststück bei Musik ungefähr nie. Schon formierten sich die Mädchen zu Paaren und Mrs. Hodgers nahm hinter dem Piano Platz. Ihr strenger Blick ließ ihre Schützlinge keine Sekunde los. Wie selbstverständlich fiel Annie aufgrund ihrer Größe der männliche Part zu.

Die Musik setzte ein und Loreley schob und zog die Freundin unter Einsatz ihres Körpers in die richtige Schrittfolge. Annie starrte verbissen auf ihre Füße und versuchte, die Bewegungen im Takt aneinanderzureihen. Rechts – links – rechts. Links – rechts – links. Ein paar Runden schaffte sie diesmal ohne Unglück. Sie blickte triumphierend in Mrs. Hodgers’ Richtung und hoffte, dass diese ihren Fortschritt nicht übersah. In dem Moment verpasste Annie ihren Einsatz, stolperte und trat ihrer Tanzpartnerin gegen das Schienbein. Loreley, die sich weit nach außen lehnte, um Annie herumzuwuchten, versuchte noch einen rettenden Schritt zur Seite, fand aber das Gleichgewicht nicht mehr. Mit Getöse stürzten die beiden zu Boden, Arme und Beine kreuz und quer durcheinander. Die Pianoklänge verstummten mit einem schmerzlichen Missakkord, als Mrs. Hodgers von ihrem Hocker aufsprang.

»Annika Bailey! Wie willst du je deinen Platz in der Gesellschaft einnehmen, wenn du nicht in der Lage bist, einen simplen Walzer zu tanzen, ohne die gesamte Einrichtung zu zerstören?«

Die Mädchen bildeten einen stummen Kreis um die beiden Unglücklichen. Die eine oder andere kicherte hinter vorgehaltener Hand. Am liebsten hätte Annie die Farbe des Holzbodens angenommen und wäre aus den Gedanken aller einfach verschwunden. Weil sie diese Möglichkeit bedauerlicherweise nicht hatte, sprang sie mit knirschenden Zähnen und brennenden Augen auf die Beine, reichte Loreley die Hand und half ihr ebenfalls hoch. Wieder setzte das Piano ein und die anderen Paare begannen der Reihe nach, sich zu drehen; manche warfen den beiden aber immer noch hämische oder mitleidige Blicke zu.

»Tut mir leid.« Annie sah ihre Freundin beschämt an.

Diese lächelte schief und zog Annie in Tanzposition. »Mir tut nur dein künftiger Gatte leid – vorausgesetzt, es ist überhaupt einer so mutig und wirbt um dich.«

»So schnell will ich gar nicht heiraten!«, schoss Annie automatisch zurück.

»Ach ja?« Loreley kannte den wunden Punkt ihrer besten Freundin nur zu gut. »Das heißt, du lebst freiwillig bis dahin unter der Fuchtel deiner Stiefmutter?« Sie zog die Augenbrauen hoch.

Annie knurrte zur Antwort. Auch diese Tanzstunde würde irgendwann vorübergehen. Hoffte sie.

Die Tür zum Saal ging auf und das Dienstmädchen huschte mit gesenktem Kopf und einem Brief in der Hand zum Piano. Fünfzehn Augenpaare folgten jeder ihrer Bewegungen, während sie Mrs. Hodgers etwas ins Ohr flüsterte. Erneut brach die Musik ab und die Lehrerin suchte wieder nach Annie. Diesmal sprach Mitleid aus ihrem Blick. Das war schlimmer. Viel schlimmer.

Annies Herz stolperte. Irgendetwas war mit ihrem Vater! Normalerweise bekam sie nur an ihrem Geburtstag und an Weihnachten Post von zu Hause. War er verletzt? Oder gefallen? Letzte Woche hatte die kleine Susan aus einem Brief erfahren, dass ihr ältester Bruder bei Chattanooga gefallen war. Ihre verzweifelten Schluchzer hatten erst im Morgengrauen aufgehört und keines der Mädchen hatte in dieser Nacht ein Auge zugetan. Davor hatte es Alice getroffen und Elisabeth und Hannah. In den Jahren, die dieser schreckliche Krieg schon andauerte, hatte jedes zweite Mädchen einen Angehörigen an den Süden verloren.

Mit zittrigen Fingern nahm Annie den Brief entgegen, drückte ihn fest an ihre Brust und rannte Richtung Tür. Niemand unternahm einen Versuch, sie zurückzuhalten. Loreley wollte ihr folgen, aber Annie schüttelte den Kopf. Sie musste jetzt allein sein.

Im Flur lehnte sie sich an die kalte Steinmauer und schloss die Augen. Sie zitterte. Tausend Gedanken fielen über sie herein. Nicht Vater! Er war der Einzige, der ihr geblieben war. Ihr einziger Verwandter, ihre Hoffnung, ihre Stütze. Mit ihm wollte sie ihren Traum verwirklichen.

Bebend atmete sie ein und aus. Noch wusste sie nicht, was in dem Brief stand. Noch war das Schlimmste nicht eingetreten. Fast glitt ihr das Blatt aus den Händen, als sie es schließlich auseinanderfaltete. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Ihr Gehirn weigerte sich, die Botschaft zu verarbeiten.

»… kommt Ihre Warensendung an. Bringen Sie sie nach Einbruch der Dämmerung zu unserem Ihnen bekannten Haus. Dort werden wir Sie in Empfang nehmen und …«

Annie schüttelte verwirrt den Kopf. Es dauerte mehrere Atemzüge, bis in ihren Verstand sickerte, dass sie keine Meldung von der Front in Händen hielt, auch wenn das Schreiben einen offiziellen Anschein erweckte. Sie drehte den Umschlag unschlüssig um, aber nirgendwo war ein Absender verzeichnet. Unterschrieben war der Text mit: »Ein Freund«.

Langsam beruhigte sich Annies Pulsschlag. Sie musste sich konzentrieren! Wenn der Brief nicht aus dem Feld kam, wer hatte ihn dann verfasst? Die schnörkelige Handschrift ihrer Stiefmutter hätte sie erkannt, aber dieses Schriftbild wirkte nüchtern, fast wie gedruckt. Auch George stand außer Frage, denn er hatte schon lange aufgehört, Annie zu schreiben. Obwohl er immer nur wenige Zeilen geschickt hatte, die auch noch vor Fehlern wimmelten, vermisste sie diese letzte Verbindung zu ihren Pferden.

Als sich Annies Atmung normalisiert hatte, fokussierte sie sich wieder auf die Buchstaben. Der Brief war an sie gerichtet und unterrichtete sie, dass für sie ein Zug gebucht war, und zwar für den kommenden Sonntag um sechzehn Uhr dreißig ab dem alten Schuppen flussabwärts am Ohio. Der Absender bedankte sich dafür, dass sie bereit war, seine fünf Gepäckstücke mitzunehmen. Vor möglichen Streckenstörungen wurde dringlichst gewarnt.

Das musste ein Scherz sein! Annie hatte keine Reise vor und an der beschriebenen Stelle lagen noch nicht einmal Gleise. Doch wer sollte sich so etwas ausdenken? Loreley traute sie so einen üblen Streich nicht zu. Auch sonst fiel ihr niemand ein, bis sie die letzten Tage Revue passieren ließ. Ihre Gedanken blieben an dem komischen Kauz hängen, dem sie während ihres missglückten Besuchversuchs bei den Truppen über den Weg gelaufen war. Hatte nicht auch er etwas von Schaffnern und Schienennetzen gefaselt? Und von Sklaven, die nach Kanada geschmuggelt wurden?

Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Der Text war mit einem simplen Code verschlüsselt. Am Sonntag warteten am Ufer des Ohio Rivers fünf entlaufene Sklaven auf sie. Und sie sollte diese unerkannt bis in die Stadt bringen.

Annies erster Impuls war es, den Brief zusammenzuknüllen und zu vergessen. Was bildete sich der Alte ein? Sie konnte das Institut nicht einfach so kurzfristig verlassen! Wurden die Sklaven verfolgt? Sie würde sich in Lebensgefahr begeben oder – schlimmer noch – einen hinreichenden Grund liefern, von der Schule verwiesen zu werden. Ihre Karriere als Pferdezüchterin stand auf dem Spiel!

Andererseits: Was würde passieren, wenn sie nicht auftauchte? Wie lange würden die Flüchtlinge in ihrem Versteck warten, bevor sie sich auf eigene Faust aufmachten? Waren sie mit Lebensmitteln versorgt? Befanden sich Kinder darunter?

Den Sonntagnachmittag hatte Annie meistens zur freien Verfügung. Würde sie konzentriert im Stall lernen können, wenn sie wüsste, dass diese Menschen draußen im Schnee in Gefahr schwebten? Ein weiteres Mal aus dem Institut zu entwischen, wäre ihr jedenfalls möglich.

Frustriert ließ Annie ihren Hinterkopf gegen die Wand in ihrem Rücken fallen. Sie hasste es, ungefragt in Situationen hineingezogen zu werden, die sie nichts angingen. Schließlich stieß sie sich ab und zischte durch zusammengebissene Zähne wenig ladylike einen Fluch in den leeren Flur hinaus.