Kitabı oku: «Menschen, die Geschichte schrieben», sayfa 4
ZUSAMMENFASSUNG
Faustus ist ein Wiedergänger und ein Zwischengänger der Epoche einer Umbruchszeit. In seinem Wirken fasst die Renaissance zusammen, was sie selbst umtreibt. Das geschieht zumeist in kritischer und polemischer Absicht, so dass Faustus – wie bei Trithemius oder Luther – als Negativbeispiel dient. Manchmal aber geschieht es auch in emphatischer Absicht, so dass Faustus als Modellfigur zum Einsatz gebracht wird, wie es besonders Marlowe zeigt, wenn er mit ihr die magische Wirksamkeit des Bühnenmediums erkundet. Genauso selbstbewusst wie Faustus vor dem Kaiser historische Figuren zur Erscheinung bringt, so bietet der Dramatiker uns den Auftritt längst verstorbener Figuren. Solches Selbstbewusstsein und zugleich das kulturelle Unbehagen daran, manifestieren sich im Faust-Mythos. Wenn wir das Zeitalter der Renaissance als die Zeit eines neuen Individualisierungsschubes sehen, d. h. als die Epoche eines veränderten Selbstbewusstseins, das sich nicht länger allein an überkommenen Autoritäten orientieren, sondern selbst die Welt erkunden will, dann verstehen wir, warum Faustus in genau dieser Zeit seinen großen Auftritt hat. Er verkörpert die Verlockung wie die Gefahr, die sich daraus ergeben und die mit ihm als „Fürwitz“ bekämpft werden. Dass dieser kulturelle Kampf aber zugleich eine kulturelle Faszination darstellt und die Gefahr auch eine Chance, das zeigt nicht nur der Kaiser, wenn er in Marlowes Stück bekennt, seine Gedanken seien davon überwältigt. Auch wir sind als Leser oder Zuschauer noch im 21. Jahrhundert davon fasziniert, wenn wir über die Mythen der Renaissance nachdenken.
ANMERKUNGEN
1 Historia, S. 79 (wie auch die vorigen Zitate).
2 Die Angaben dazu folgen Riggs 2004, S. 233.
3 Historia, S. 77.
4 Historia, S. 79.
5 Historia, S. 122 f.
6 Vgl. Müller 1986, S. 572.
7 Zur hermetischen Tradition und ihrer Wirkung in der europäischen Renaissance, vgl. Ebeling 2005 und Yates 1991.
8 Die folgenden Angaben folgen Baron 1982, S. 16, 34 f., 156.
9 So jedenfalls die Ansicht von Frank Baron, dem ich hier (und im Weiteren) folge, Baron 1982, S. 24 f.
10 Baron 1982, S. 78 f.
11 Luthers Tischreden (Nr. 1059, in der Edition von Aurifaber, Weimar 1912–21), hier zitiert nach Baron 1982, S. 49.
12 Baron 1982, S. 27.
13 Vgl. Riggs 2004, S. 235.
14 Doctor Faustus, 4.2.1–100, Marlowe 1986, S. 308–12.
LITERATURHINWEISE
Baron, Frank 1982: Faustus: Geschichte, Sage, Deutung, München.
Ebeling, Florian 2005: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos: Geschichte des Hermetismus, München.
Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe, hg. v. Stephan Füssel und Hans Joachim Kreutzer, Stuttgart: 1988.
Marlowe, Christopher 1986: The Complete Plays. Ed. J. B. Steane, Harmondsworth.
Müller, Maria E. 1986: „Der andere Faust: Melancholie und Individualität in der Historia von D. Johann Fausten“, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60, 572–608.
Riggs, David 2004: The World of Christopher Marlowe, London.
Yates, Frances 1991 [1979]: Die okkulte Philosophie im Elisabethanischen Zeitalter, übers. v. Adelheid Falbe, Amsterdam.
„Hier schau Lutherum an, den großen Wunderhelden“, dargestellt mit Schwan; Augsburger Kupferstich von 1730
LUTHER – HEILIGER MANN ODER FALSCHER PROPHET?
Legende und Antilegende zwischen 1517 und 1630
von Wolfgang Brückner
VORÜBERLEGUNGEN
Über Luther-Imaginationen in der Geschichte zu sprechen, scheint einfach und ist doch schwer, weil unsere heutigen, erst zweihundert Jahre alten Bilder des deutschen Reformators zunächst einmal alles zudecken, was dreihundert Jahre zuvor von ihm und über ihn tradiert wurde, was die Menschen von ihm dachten und wie sie sich sein Wesen und seine Erscheinung vorstellten. Die Erwartungshaltung eines heutigen breiten Publikums, das die Gestalt Luthers als Thema in den Bann zieht, lässt sich nicht ohne weiteres einschränken auf eine Beurteilung aus dem Blickwinkel der hier zur Debatte stehenden Epoche zwischen 1450 und 1620, die geistesgeschichtlich ganz allgemein als Zeitalter der Renaissance benannt zu werden pflegt. Danach müsste jetzt gemäß landläufiger Bildungsmeinung zuvorderst von der sogenannten Erfindung des Individuums, das heißt einer Idee davon, die Rede sein und dem Anteil Luthers und seiner Theologie daran; und mancher wird erwarten, seine Meinung vom vermeintlichen Schöpfer der deutschen Hochsprache bestätigt zu finden oder die eines „Musikus der deutschen Nation“. Doch das wäre genau jene Rückschau aus dem 19. Jahrhundert und seinen Präferenzen für sogenannte Genies in Kunst, Politik und Religion. Max Webers weiterführende Unterscheidung von populärer Massenreligiosität und elitären Frömmigkeits-Virtuosen, z. B. mystischen Theologen, verweist uns über Friedrich Schleiermachers entsprechende Begrifflichkeit auf den ästhetischen Anspruch hochkultureller Standards in akademischen Diskursen, die sich dann in anspruchsvollen Feuilletons spiegeln. Es gilt mithin, viel Ballast an allgemeinem Meinungsvorwissen abzuwerfen.
Die Fachhistoriker sprechen nicht ohne regionale Einschränkungen und damit zeitliche Differenzierungen von Renaissance als einer bestimmten Epoche, noch lieber – völlig abstrakt – vom ersten Teil der Frühen Neuzeit, in der sich in Mitteleuropa die modernen Territorialstaaten innerhalb des Reichsverbandes rechtspolitisch konsolidierten. Die akademische Disziplin der Deutschen Philologie teilt diesen Zeitraum bisweilen einer Mittleren Literaturgeschichte zu, deren Bearbeitung zwischen Alt- und Neugermanistik lange Zeit wie ein Niemandsland behandelt worden ist, das man eher der Theologiegeschichte oder den seltenen Volkskundlern und in Teilen den wenigen Neulateinern an den Universitäten überließ. Das traditionelle Bildungswissen aus den humanistischen Gymnasien des 19. Jahrhunderts besaß feste Überzeugungen, so dass in Deutschland jedermann Bescheid wusste, was im frühen 16. Jahrhundert offenbar ‚wirklich‘ geschehen war. Danach ging 1517, wie beim Kreuzestod Jesu in den biblischen Berichten, ein großer Riss durch den Vorhang des Tempels der Weltgeschichte und teilte für uns Deutsche Mittelalter und Gegenwart auf einen Schlag. Und dies passierte an der Schlosskirchentür zu Wittenberg durch einen Nagel hämmernden jugendlichen Augustinermönch, so noch in dem jüngsten, hochgelobten Film von Eric Till zu bewundern. Doch weder hat es diese Szene in der realgeschichtlichen Vergangenheit gegeben, noch ist das Mittelalter damals zu Ende gegangen.
Die tatsächliche geschichtliche Zäsur dafür liegt bei uns zwischen 1790 und 1820. Zu jener Spätzeit aber war Luther selbst als Theologe eine rein historische Gestalt geworden, und seine Schriften bildeten keine die zeitgenössische Theologie mehr stimulierend beherrschende Lektüre. Seine Wiederentdeckung als religiöser Denker geschah erst im Gefolge der theologischen Luther-Renaissance seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Zu dessen Beginn konnte er daher zu einer vorrangig nationalen Figur stilisiert werden, besonders seit 1817, dem Jahr des dreihundertsten Jubiläums der Reformation, unter anderem mit dem Wartburgfest.
Damals lagen zu Wittenberg, das nun samt Eisleben und Erfurt dem calvinistischen Hause Hohenzollern zugehörte, die Erinnerungsstätten in Trümmern oder waren verwahrlost durch Kriegszerstörungen des 18. Jahrhunderts. Jetzt, nach der 1817 staatlich verordneten Kirchen-Union wurde die ausgebrannte Schlosskirche in allerhöchstem Auftrag des preußischen Königshauses historistisch rekonstruiert. Gleichzeitig fand die neugotische Erfindung der persönlichen Gedenkorte im einstigen Augustinerkloster zu Wittenberg statt. Luther erhielt dort auf dem Marktplatz sein erstes Frei-Denkmal durch Gottfried Schadow und Friedrich Schinkel 1821, dem bald hunderte deutschlandweit folgen sollten. Es war ganz generell der Beginn des bürgerlichen Denkmalkultes in Mitteleuropa; davor besaßen nur Fürsten und Feldherren Auftrittsrecht im öffentlichen Raum. Als Beispiel für die Popularisierung möge ein optisches Zeugnis des Biedermeier dienen: eine Porzellantasse der Berliner Manufaktur von 1830 mit der Miniatur des Wittenberger Lutherdenkmals für ein „protestantisches Deutschland preußischer Nation“, wie Thomas Mann später formulieren sollte.
Wir müssen also zurück zum Theologen Martin Luther im 16. Jahrhundert, und zwar nicht so sehr zu seiner Theologie als Lehrgebäude im Unterschied zur damaligen Papstkirche, sondern vielmehr zu seiner Gestalt als Symbol für die in unseren Tagen zwischen Rom und Lutherischem Weltbund nicht mehr umstrittene Rechtfertigungslehre der Confessio Augustana invariata von 1530. Benedikt XVI. hat 2005 in Köln öffentlich formuliert: „Gemeinsam bekennen wir Jesus Christus als Gott und Herren; gemeinsam erkennen wir ihn als einzigen Mittler zwischen Gott und den Menschen an“1. Die Benennung der „Evangelisch-lutherischen Landeskirche“ in Bayern und die Selbstbezeichnung der österreichischen Schwester „Evangelische Kirche Augsburger Konfession“ stellen zwei sich wechselseitig erklärende Umschreibungen dar, die zugleich die historischen Grundlagen aus der Zeit um 1530 bis 1630 und das damit imaginierte Bild Martin Luthers und seiner Lehre modern reflektieren. Die Evangelische Landeskirche Bayerns nennt sich heute nicht mehr wie zwangsweise zu Zeiten des katholischen Königs als oberstem Landesbischof (summus episcopus) „protestantische“ Kirche mit dem intern differenzierenden lutherischen Konfessionsunterschied „rechts des Rheins“, sondern sie heißt seit Fortfall der reformierten bayerischen Rheinpfalz ganz offiziell im Kirchennamen „lutherisch“. Das hat natürlich auch mit der zitierten Luther-Renaissance zu tun, besitzt jedoch in Franken eine eigene ungebrochene Kontinuität, von der anhand entsprechender Bekenntnisbilder am Ende nochmals die Rede sein wird.
EIN NIEDERLÄNDISCHES GEMÄLDE UM 1600
Ich erkläre die genannte Verschränkung der Fakten aus Vergangenheit und Gegenwart zunächst anhand eines Gemäldes aus der Zeit um 1600, das auf einen Kupferstich von 1590 zurückgeht (s. f. S.). Es führt an den Kern der Schlüsselfigur Luther für jene Epoche. Es handelt sich um eine anonyme niederländische Schildermalerei aus dem heutigen Museum im Katherinenkonvent zu Utrecht. Das Bild hat im vergangenen Vierteljahrhundert drei großen Jubiläums-Ausstellungen in Deutschland als Beleg für das Phänomen „Eine Religion – Drei Kirchen“ gedient: zuerst 1983 in Hamburg Luther und die Folgen für die Kunst, dann 1998 in Münster 1648. Krieg und Frieden in Europa und 2005 in Augsburg Als Frieden möglich war, 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Ein Ausschnitt zeigt die drei zentralen Figuren Calvin, den Papst und Luther gemeinsam zu Tisch beim Essen. Dieses Detail schmückte den Katalog der Augsburger Ausstellung als Frontispiz und machte das Gemälde mithin zum optischen Aufhänger für das Projekt. Das emblematische Programm des vielfach verschlüsselten Bildes lässt sich aufgrund einer mit Armgestus und Ölzweig fordernd deutenden allegorischen Figur betiteln: Der Frieden mahnt die Kirchen zur Toleranz. Diese Aussage allein haben die drei Ausstellungen in den Vordergrund gestellt, das heißt hierfür eine eindrucksvolle Visualisierung bieten können. Uns interessiert daran vor allem die Gestalt Luthers, weshalb wir in Genese, Interpretation und Wirkungsgeschichte des gesamten Gemäldeentwurfs näher eintreten müssen, um zu stimmigen Aussagen über den imaginativen Gehalt dieser Lutherpräsentation zu gelangen.
Wenn man jenes Bild einem beliebigen Interessenten vorlegte, um die Darstellung Luthers zu charakterisieren, dann wird er sich nach allgemeinem Bildungsstand auf die Laute konzentrieren und behaupten, dass Luther das Instrument beherrscht habe sowie der Dichter und Komponist vieler Kirchenlieder gewesen sei. Vielleicht würde der eine oder andere aus der dargestellten Situation eines Festtagsschmauses auch schließen wollen auf den angeblichen Lutherausspruch, den wir alle kennen: „Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang“, um Luther mithin zu interpretieren als den gemütlichen Alleinunterhalter beim Streitgespräch zwischen Calvin und dem Papst. Dass letzteres nicht gemeint sein kann, belegt ein fast zeitgleiches illustriertes Flugblatt, das 1619 realistischer darstellt, was es mit den „Geistlichen Raufhändeln“ jener Tage auf sich hat: Luther zieht Calvin am Bart, während der Papst sich die Ohren zuhält. Die Redensart von Wein-Weib-Gesang stammt zwar aus dem 16. Jahrhundert und war in Varianten seitdem weit verbreitet, ist aber als ein „Sinnspruch Luthers“ erst seit dem späten 18. Jahrhundert ausgegeben worden.
Die drei Konfessionen in Frau Ratios Küche; Kupferstich, niederländ., um 1590
Ebenfalls erst in Ansätzen aus dieser Zeit vor gut zweihundert Jahren stammt unsere durch jugendbewegtes Singen und Kindergottesdiensterfahrung bestimmte positive Assoziation vom Klampfe spielenden Luther. Deutlicher stehen für jene optischen Vorstellungen die Illustrationen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Kreisen der Inneren Mission, wo Luther unter dem zu seiner Zeit noch unbekannten Weihnachtsbaum die Laute schlägt oder gar die Augustinerbrüder ihn im Kloster mit Lautenspiel aufzuheitern suchen. Letztere Vorstellung schließt an einen versteckten Hinweis aus den lateinischen Tischreden, dass sich der Student Luther in Erfurt auf dem Krankenlager selbst das Lautenspiel beigebracht habe2: Man darf sich das lediglich als privates Hilfsmittel zur Vorbereitung und Weitergabe für den von ihm so geschätzten und seit Kindertagen gepflegten geistlichen Gesang vorstellen, eine Art von Komponierhilfe, jedoch die Laute nicht als Begleitinstrument in der Kirche. Eine andere Erzählung in den Tischreden unter dem deutschen Titel „Eine laute zur meß“ berichtet vom pflichtgemäßen Terminieren, also vom Almosensammeln, des jungen Bettelmönchs in den Dörfern um Erfurt, wo er bei dieser Gelegenheit auch die Messe hielt. In der deutschen Übersetzung späterer Ausgaben heißt es: „da fing der Kirchner an das Kyrieleison und Patrem auf der Lauten zu schlagen, da konnt ich mich schwerlich des Lachens enthalten“, „den ich solcher orgeln nicht gewonnet war; mußt mein Gloria in excelsis nach seinem Kyrie richten!“3
Einer der heftigsten und durch seine Schriften einflussreichsten zeitgenössischen Luthergegner, Johannes Cochläus (1479–1552) aus dem Nürnberger Humanistenumkreis, hat in seinen 1533/34 begonnenen und 1547 in Eichstätt als Dozent der Domschule vollendeten, 1548 erstmals erschienenen Commentaria de actis et scriptis M. Lutheri behauptet, er habe 1521 den Reformator auf dem Weg zum Reichstag in Worms beim Pferdewechsel in einem Frankfurter Wirtshaus beobachtet, wie er dort die Leute durch Gesang zur Laute als ein „Orpheus in Kutte“ begeisterte. Das stellt zunächst nur ein typisches Erzählmotiv der katholischen Antilegende dar, das den späteren sogenannten „Nonnenschänder“ und sogenannten „Säufer“ von Anfang an als sündhaften Weltmenschen entlarven sollte. Cochläus, der weitgereiste Doktortheologe, Kölner Professor und Luther intellektuell ebenbürtige Humanist, der 1520–25 am Frankfurter Liebfrauenstift wirkte, hatte den Reformator in Worms geradezu umworben für einen Widerruf. Sein späteres Frankfurter Wirtshaus-Märlein war ihm gewiss nur zugetragen worden, und er verwendete es als rhetorisches Versatzstück weiter, weil es so gut in die nach 1525 üblich werdende psychologische Vitendeutung passte. Cochläus selbst war durch seine Schrift von 1507 ein bedeutender Musiktheoretiker der Zeit, dem darum das Exemplum einleuchtend für das polemische Argumentieren scheinen konnte. Eine weitere Verbreitung des Erzählmotivs ist allerdings nirgends belegt, doch wird hier die negative Konnotierung der Laute im Zusammenhang mit geistlichem Gesang nochmals deutlich.
Gerbers Tonkünstlerlexikon von 1790 suchte erstmals den Musicus Luther genauer in den Blick zu nehmen und vermerkt dort bezeichnenderweise: „Noch mehr Verdienst als praktischer Tonkünstler käme ihm nach Mattheson zu, welcher uns in seinem Plus ultra verspricht, in einem seiner künftigen Werke darzuthun, dass Luther auch die Laute gespielt habe“4. Diese Aussage spricht entgegen heutiger Meinung gerade nicht dafür, dass Luther tatsächlich als Lautenspieler dem 16. Jahrhundert bewusst gewesen ist. In der modernen Musikwissenschaft steht zwar die Bedeutung Luthers und des Luthertums für die Kirchenmusik und die Musikpflege nicht in Frage, aber es hat Diskussionen über den Realitätsgehalt der Luther zugeschriebenen Anlage und Fähigkeit zum Komponisten, sprich Melodisten gegeben. Brockhaus/Riemann fasst das 1995 wie folgt zusammen: „Erst die jüngere Forschung hat aus der Erkenntnis der spätmittelalterlichen Musikanschauung Luthers Musikertum in seine Rechte gesetzt“5, nämlich die eines Liedkomponisten in herkömmlichen Gewohnheiten. Das heißt, auch hier mussten erst die Imaginationen des 19. Jahrhunderts hinterfragt werden, um schließlich eine mehr mittelalterliche Traditionslinie des Kirchengesangs erkennen zu können.
Was also bedeutet die Laute auf unserem Gemälde um 1600? Die Darstellung beruht auf einem Kupferstich aus der Zeit vor oder um 1590, von dem es auch eine seitenverkehrte Fassung mit deutscher Übersetzung der niederländischen Texte gibt. Das Geschehen spielt in der „Küche von Frau Ratio“. Sie wirbt für eine Religion des Herzens gegen die in den einst spanischen Niederlanden kriegerischen Machtansprüche der Katholiken, die hier nicht durch den Papst, sondern einen Papisten vertreten sind. Luther mit der Laute steht sozusagen als Mittelfigur zwischen den beiden besonders verfeindeten Lagern. Die Texte des Flugblatts lösen die dargestellten Details in emblematische Zeichen als etymologisches Spiel mit der niederländischen Sprache auf.
Sie stammen aus einem satirischen Theaterstück mit damals üblichem Dialogaufbau in der Art und aus dem Umkreis des holländischen Dichters Dirck Volckertsen Coornhert (1522–1590). Sein gelehrter Freundeskreis „Haus der Liebe“ formulierte seit 1579 Toleranz und Frieden gleichermaßen gegen die fremdländischen Päpstlichen wie gegen den heimatlichen Kirchenvater Calvin. Hier sitzt Luther auf dem Mittelplatz und macht die Musik, während Calvin mit Kalbsbraten und Orange sowie ein zipfelmütziger Katholik mit Rosenkranz am Riemen und dem Papstsignet auf der umgebundenen Serviette sich streng getrennt gegenübersitzen, letzterer mit falschen Katzen auf seinen Schultern, die nicht mehr lecken mögen (= catten likken) von dem Brei in seiner Schüssel (= pap). Die Attributionen stammen aus niederländischen Wortspielen für die Katholiken und den Papst sowie die Namen Luther (= luyt teer) und Calvin (= calf fijn). Die vielen Anspielungen auf die damals aktuellen Auseinandersetzungen in den Niederlanden lassen die Blätter als akademisches Bilderrätsel oder als Programmzettel der Bühnendialoge erscheinen. Ein Gemälde von 1659 zeigt in der Tat die Mitglieder einer solchen Rhetorikgesellschaft in ihrer Rederijkerkammer dieses Stück spielen, wobei wiederum Kostüme und Attribute auf die einzelnen Gestalten verweisen, so dass Luther an seiner Laute genau erkennbar ist.
Fazit: Auch im Französischen lässt sich aus Luther leicht Luthier bilden, was Lautenmacher heißt, Luthierie Saiteninstrumentenfabrik. Wir haben es dabei mit der mittelalterlichen Methode des Etymologisierens aus den Eigennamen zu tun, wie es Isidor von Sevilla vorexerzierte und Jacobus de Voragine in seiner Legenda aurea durchgehend praktizierte, zu Beginn jeder Heiligenvita. Die katholische Antilegende Luthers las darum im 16. und 17. Jahrhundert aus Luthers Namen den „Lotterbuben“ oder das „Luder“ heraus. Für unseren Zusammenhang bleibt wichtig festzuhalten: Luthers Laute hatte damals in der öffentlichen Meinung noch nichts mit seiner Liebe zur Musik zu tun, sondern bedeutete im engeren Umkreis humanistischer Irenik lediglich das sprechende Erkennungszeichen für jenen erwünschten Dialog.