Kitabı oku: «Der Fuchs und Dr. Shimamura», sayfa 2

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Die drei roten Fuchszeichen auf der Landkarte waren in natura leicht auszumachen: Um zwei geduckte Hütten, die auch Ställe hätten sein können, standen, lungerten, saßen, lagen in einem ganzen Wald von Zauberfahnen gut ein Dutzend Gefäße!

»Darf ich ein Lichtbild aufnehmen, bitte, Herr Doktor, bitte sehr?«, rief der Student.

Shimamura kämpfte Magensaft hinunter, der angesichts der Gefäßversammlung in seinen Rachen aufgestiegen war.

»Nein, danke, Herr Student«, sagte Dr. Shimamura, »denn wie ich Ihnen schon einmal auseinandergesetzt habe, betreiben wir hier nicht die Völkerkunde, sondern sind in der Medizin unterwegs.«

Die drei Fuchszeichen des Krankenhausdirektors von Matsue stellten sich als eine Epileptikerin heraus, welche glücklicherweise gleich in den ersten fünf Minuten einen perfekten Jackson-Anfall vorlegte, deren simulierende Schwester sowie eine idiotische Nachbarin, an der außer Idiotie nichts weiter festzustellen war. Der Student durfte die Epileptikerin fotografieren, was ihn nicht befriedigte, weil es in der stinkenden Hütte zu dunkel und außerdem der Anfall längst vorbei war. Die Simulantin und die Idiotin fotografierte er dann ebenfalls, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Er schob beide flugs in die Sonne und ließ sie vor den Zauberfahnen posieren, während Shimamura noch mühsam eine Anamnese der Jackson-Patientin aus deren jämmerlicher Mutter herauszuleiern versuchte.

Wie immer war nichts Spezifisches an den sogenannten Besessenen auszumachen. Wie immer konnte Shimamura dem Gegreine der Landbevölkerung auch gar nicht folgen. Wie immer schrien die Fuchskranken Zeter und Mordio, sobald Shimamura sie untersuchen wollte, und warfen sich dann laut heulend und ohne jede Zurückhaltung an die Brust des Studenten.

Neben der Lichtbildnerei war dies das Steckenpferd des Studenten geworden. Die Abdrücke dreckiger, tränennasser Mädchengesichter auf seiner Brust trug er wie Ehrenschärpen. Vielleicht hatte vor vierhundert Jahren irgendeiner seiner verdammten Ahnen per Handauflegen die niedersten Lehnsleute geheilt, und davon war etwas im Erbgut des Jünglings hängen geblieben. Er flüsterte auch mit allen Kranken und ihren Verwandten, gewiss nichts Modernes. Das arme Ding mit dem Ovarialabszess hatte der Student in seine Hand spucken lassen und die Spucke dann mit großer Ernsthaftigkeit ins Freie getragen; das hatte Shimamura genau gesehen. Shimamura hatte nicht gefragt, was das sollte. Er war zu verblüfft gewesen, um dem Studenten sein irres Tun zu verbieten. Dann hatte er drei Nächte lang darüber nachgegrübelt, ob der Student wohl im Freien ein dort lauerndes Fuchsgefäß bezahlt hatte, um diesem die Spucke der Abszesskranken füttern zu dürfen. Der Student exorzierte hier stillvergnügt Füchse. Daran bestand kein Zweifel. Shimamura wollte es aber auch gar nicht wissen. In der dunklen Hütte zwischen Taotsu und Saiwa, in der niemand den Urin fortwischte, den die Epileptikerin reichlich ausgeschieden hatte, und in der stattdessen alle Welt betete, stellte Shimamura fest, dass er sich nun vor allem ekelte: vor allen Krankheiten, vor allen Menschen, vor Medizin und Aberglaube, vor Füchsen und selbst vor Dr. Griesingers Pathologie.

Zwei Wochen lang wanderten Shimamura Shunichi und sein Student durch den Glutofen Shimane. An Füchsen bestand kein Mangel. Keine Patientin wies Neurologisches auf, und selbst das Psychiatrische blieb vage. Nach viel Tuberkulösem, einer Meningitis, drei schlichten Grippen und allerlei unklaren paralytischen Affektionen war es Shimamura leid und er diagnostizierte ohne jegliche Berechtigung eine choreatische Manie, nur weil ihm das Wort gefiel, sowie eine Graviditätspsychose.

Den meisten fehlte gar nichts. Die heilte der Student, wie auch immer, und Shimamura schaute weg.

Nach zwei Wochen war Dr. Shimamuras Asthenie zu einer Neurasthenie erblüht und seine Dyspepsie zu etwas Explosivem, das er einen Tag lang für die Cholera hielt. Längst ging der Student nicht mehr hinter ihm, wenn sie wanderten. Er ging stolz vor ihm her. Der Student bog Äste aus Shimamuras Weg und verscheuchte die Gefäße für ihn. Dabei redete er. Und lachte. Und rauchte. Und sang. Shimamura fühlte sich wie ein Greis. Der Student war zum Mann gereift, zu einem Mann, dem die deutsche Medizin nicht gut zu Gesicht stand. Längst wollte ihn Shimamura nicht mehr belehren. Die alten Lieder, die der Student sang, verstand er kaum besser als das Lamentieren der Fuchskranken. Schließlich beschloss er abzureisen.

»Nun haben Sie brav das Geschmeiß exploriert«, sagte der Krankenhausdirektor von Matsue, als Shimamura sich verabschieden wollte, »nun bekommen Sie unser Dämchen. Hier, Herr Kollege. Eine neue Karte. Das habe ich mir bis zum Ende für Sie aufgespart. Hier …« – der Krankenhausdirektor zeigte auf ein gewaltiges blutrotes Fuchszeichen in einem Strahlenkranz, das eine abgelegene Stelle beim Steilufer zierte – »… hier finden Sie die gesegnete Fischhändlerstochter. Unsere Berühmtheit. Ihre Belohnung. Die Fuchsprinzessin von Shimane.«

DREI

Am Freitag, als das Wetter sehr schön geworden und das Fieber nicht weiter gestiegen war, ging Dr. Shimamura mit seiner Frau spazieren.

Sachiko konnte dieser Beschäftigung nichts abgewinnen. Dass man der Gesundheit zuliebe im Freien umherlief und nicht stattdessen zu Bett lag und seine Kräfte schonte, an denen es Kranken naturgemäß mangelte, wollte ihr seit vielen Jahren nicht einleuchten. Schon in Kyoto hatte sie sich stets ein wenig beleidigt gefühlt, wenn ihr Mann von den Vorteilen frischer Luft sprach: Als röche ihr Haus nicht gut, als müsse man unter dem Himmel, in öffentlichen Bereichen Zuflucht suchen, wenn man einmal durchatmen wollte. Manchmal stellte sie große Blumensträuße auf, wenn zu viel von Spazierengehen die Rede war. Shimamura hatte diese stumme Kritik nie verstanden.

Mit karger Miene, einen zusammengeklappten Regenschirm in der Hand, ging Shimamura Sachiko an der Seite ihres Mannes spazieren. Es gab nichts zu sehen. Für Schnee war es zu spät, für Blüten zu früh, und zur Burg war es viel zu weit. Der Tempel hatte zwar einen schönen Garten, aber seit Yukiko sich darauf verlegt hatte, dort gegen Eintritt die wundertätige Figur zu reiben, genierten sich die Eheleute Shimamura und machten um den Tempel einen Bogen. Und zum Fluss war es fast so weit wie zur Burg, und besonders schön war er auch nicht. So blieb nur Dahinspazieren. Sachiko setzte ihre Füße umsichtig auf den Weg, der von ihrem etwas abgelegenen Haus zwischen den Feldern gen Stadt führte. Bei jedem dritten Schritt nahm sie den Regenschirm hinzu. Sie versuchte, etwas Sinnfälliges auf diesem Weg zu erfühlen. Nach einer Weile gelang es ihr, eine Art Takt zu erzeugen, der die Sekunden ordentlich forträumte, und gab ihren Trotz auf. Immerhin regnet es nicht, dachte Sachiko, immerhin kommt keiner, den wir grüßen müssten, immerhin ist Februar.

Shimamura murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Sie machte sich nicht die Mühe, nachzufragen, es war gewiss nur die eine oder andere Variation über den Satz »Man könnte hier mehr Erträge erwirtschaften«. Das sagte Shimamura immer, wenn er auf dem Weg zwischen den Feldern spazierte. Sein Leben lang hatte er sich am Feierabend mit den verschiedensten wichtigen Dingen befasst, ohne sie je zur Anwendung zu bringen, unter anderem mit der Agrarwissenschaft. »Ja, Lieber«, sagte Sachiko.

Mit Ende fünfzig stand sie noch sehr aufrecht und stolz. Sie war ohnehin hoch gewachsen, mit langem Hals und langen Armen, die sie nie an ihrem Körper herabhängen ließ, sondern stets abwinkelte, damit sie sich ordentlich anfühlten. Ungern stand sie mit leeren Händen; daher auch der Regenschirm. Sachiko sah ihrem Mann und ihrer Schwiegermutter ähnlicher als ihrer eigenen Mutter. Damals, als man sie verheiratet hatte, war das ständig Thema in der Familie gewesen: Wie gut das Paar von der Länge her zusammenpasste. Sonst war niemandem zu dieser Ehe etwas eingefallen. Sachiko hatte den jungen Arzt nicht unbedingt heiraten wollen. Er wirkte nervös und schien dauernd nachzudenken und zerbrach in zwei Wochen Brautwerbung zweimal seinen Brillenbügel; das gefiel ihr nicht. Doch sie hatte sich nicht gewehrt, weil es keine wichtigen Einwände gab.

Auch Shimamura Sachiko dachte oft nach. Anders als Shunichi sah man ihr das jedoch nicht an. Selbst romantische Gedanken waren ihr als Mädchen nicht fremd gewesen, sie hatte geträumt, dass sie Flügel hätte, lange weiße Schwingen statt der langen weißen Arme, und dass sie fortflöge und in den Armen eines Mannes, der kein Arzt war und keine Ärzte in der Familie hatte, unvernünftige heiße Liebe fände. Das war allerdings lange her. Geblieben war ihr nur eine Vorliebe fürs Helle. Sie trug ein helles Kopftuch und ein helles Umschlagtuch über ihrer hellen Hauskleidung. Unter dem Kopftuch kam vorne ein wenig graues Haar zum Vorschein. Sachiko hoffte, dass es ganz weiß würde, wenn sie erst Witwe wäre.

Shimamura Sachiko dachte oft lange und in allen Einzelheiten über ihre Verwitwung nach.

»Es kam wieder ein Brief wegen deiner Holzschnitte«, sagte Sachiko. »Ein Deutscher aus Tokyo. Es will die Eisenbahn nehmen und herüberkommen und sie anschauen. Es schrieb auch ein Kollege, den du nicht kennst, wegen der Matten.«

Shimamura betrachtete mit gerunzelten Brauen die ertragsarmen Felder von Kameoka. Er gab ein »hm« von sich, das kaum zu hören war. Shimamura dachte schon wieder nach. Das sah Sachiko, ohne den Kopf zu wenden.

»Abschmettern?«, fragte Sachiko auf Deutsch.

Wieder machte Shimamura »hm«. Diesmal klang es ein wenig beherzter.

Das Abschmettern zählte seit Jahren zu Sachikos vielen Aufgaben in Kameoka. Sie öffnete die Korrespondenz ihres Mannes, und wenn es nicht einer seiner drei Freunde war, der geschrieben hatte – alles Ärzte, zwei in Kyoto und einer in Heidelberg –, so las sie den Brief von Anfang bis Ende, fragte dann pro forma nach oder manchmal auch nicht, und schmetterte ab. Was hatte das Deutsche für hässliche Wörter. Manchmal, wenn auch immer seltener, stellte sich Sachiko vor, dass sie als Touristin nach Deutschland reiste, etwa zum Starnberger See, und sich dort mit einem Einheimischen zu unterhalten versuchte. Abschmettern. Schnupftuch. Intravenös. Türklinke. Psychopathologie. Was für eine dumme, kurze Unterhaltung das wäre. Und in diesem Augenblick breitete sich eine Langeweile in Shimamura Sachiko aus, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte. Sie nahm ihr einen Augenblick lang den Atem und brachte sie aus dem Tritt. Sie starrte auf die Felder. In den Himmel. Hinüber zu ihrem Mann. Zurück in den Himmel. Und hinunter auf ihre weiß bestrumpften Zehen. Dann sagte sie »ach ja«. Sie zählte neun Schritte ab und drei Stöße des Regenschirms. Da zog sich die Langeweile zusammen und wurde aus einer weltbewegenden Langeweile wieder zur einer ganz normalen.

»Der Deutsche war sehr nachdrücklich in seinem Wunsch, deine Holzschnittsammlung zu betrachten«, sagte Sachiko.

Shimamura reagierte nicht. Da beharrte Sachiko nicht weiter. Sie hatte sich die beiden Briefe ohnehin ausgedacht. Da immer seltener Briefe kamen, dachte sie sich in regelmäßigen Abständen welche aus, damit Shimamura seinen Lebenswillen bewahrte. Solange einem jemand schreibt, dachte Sachiko, den man abschmettern kann, so lange fühlt man sich noch in der Welt. Und Matten und Holzschnitte ärgerten Shimamura immer. Er ärgerte sich, für psychiatrische Wandmatten und für eine Sammlung von Holzschnitten mit Fuchsmotiv bekannt zu sein und für nichts anderes. Solange man sich noch ärgert, dachte Sachiko, stirbt man nicht. Und dass es die Aufgabe einer Pflegerin sei, den Tod des Gepflegten herauszuzögern. Dies schien in der Tat eine Binsenweisheit, doch zuweilen musste es sich Sachiko ins Gedächtnis rufen.

»Ach ja«, sagte Shimamura Shunichi.

»Wollen wir umkehren?«

»Noch die Biegung.«

Wie immer gingen sie noch die Biegung. Dann machten sie sich langsam auf den Rückweg. Eine Wolke war vor der Sonne. Shimamura atmete schwerer. Sachiko erinnerte sich mit schlechtem Gewissen an den einen Brief, von dem sie ihrem Mann nie erzählt hatte. Den hatte sie aufgehoben, unter dem Boden des Südzimmers in einem holländischen Pharmakologiebuch ihres Vaters. Das war ein Brief von einem, der Shimamuras komplette Holzschnittsammlung wollte und schon den Preis dafür genannt hatte, einen guten. Dem würde Sachiko schreiben, wenn ihr Mann gestorben wäre, damit ihr all die Füchse nicht am Bein hingen, wenn sie Witwe war.

Auf halbem Weg zum Haus, zwischen den Quittenbäumen, war jemand unterwegs. Sie hielten inne. Die Eheleute Shimamura grüßten ungern Nachbarn. Aber es war nur das Hausmädchen. Das stand zwischen den kahlen Quitten und sang.

Im Langgras, im Kurzgras,

in Uji und Kei

hat mich der Liebste bezwungen,

oh Großmama, Großmama, stirb bald,

sonst müssen wir alle verhungern.

Dann fing sie wieder von vorne an.

Shimamura war stehen geblieben und hörte ihr zu. Dabei lächelte er, als höre er den ersten Frühlingsvogel oder sonst etwas Schönes. Sachiko sah ihren Mann nicht an, er war sogar ein wenig hinter sie getreten, fast als suche er Schutz, aber sie merkte sein Lächeln trotzdem.

Das Mädchen hatte ein starkes Organ. Sie schien sich Zwang anzutun. Es klang, als halte sie sich den Mund zu beim Singen, dabei hielt sie doch mit beiden Händen einen Quittenstamm fest. Sie hatte die Shimamuras nicht gesehen. Ihr Gesang war verzweiflungsvoll, dabei auch ein wenig kunstreich, mit allerlei Tremolo. Sachiko trat gegen ein Steinchen, aber das Steinchen war zu klein, der Tritt war zu klein, und das Mädchen begann ihr Lied zum dritten Mal, mit Variationen, als sei sie allein auf der Welt. Shimamura lächelte noch immer hinter Sachikos Schulter. Sein Atem ging leichter.

»Ich erinnere mich an dieses Lied«, flüsterte Shimamura. Das Mädchen erschrak, ließ den Baum los, bezähmte mühsam ihre eigensinnige Stimme, die noch immer das Wort ›Großmama‹ erbeben ließ, und lief davon.

»Es gibt so ein Lied nicht«, sagte Sachiko. »Es gibt kein Lied mit ›Uji und Kei‹.«

»Sie hat sich erschreckt und ist fortgelaufen«, kommentierte Shimamura. »Meine Mutter oder deine Mutter hat dieses Lied früher gesungen. Oder jemand anderes. Ich weiß noch den Text.«

»Du solltest sie übrigens nicht Luise nennen«, sagte Sachiko. »Das kann sie nicht aussprechen. Sie läuft tagelang umher und murmelt Luise, Luise, bis sie sich ganz zermürbt hat. Und deine Mutter hat nie ein Lied mit ›Uji und Kei‹ gesungen, und meine Mutter auch nicht. Es gibt auf Erden kein Lied, das ›Uji und Kei‹ geht. Du erinnerst dich falsch. Und sie heißt nicht Luise. Das arme Ding!«

Sachiko hatte plötzlich die Stimme erhoben. Shimamura trat noch einen Schritt zurück und blickte sie recht entgeistert an. Elend steht er in der Gegend herum, dachte Sachiko. Sie fasste an ihr Kopftuch und schob ihr Haar hinein.

»Ich nenne sie ja meistens Anna …«, murmelte Shimamura.

Damals, als sie das Mädchen aus der Irrenanstalt von Kyoto entführt und nach Kameoka mitgenommen hatte, damit ihr Mann vielleicht auch aus ihr ein wenig Lebenswillen bezöge, hatte Sachiko völlig übersehen, dass das Mädchen ein armes Ding war.

»Gehen wir heim, Lieber?«

»Hm.«

Noch einen Moment lang genossen sie das Wetter, das für Ende Februar wirklich sehr schön war, dann gingen sie nach Hause.

VIER

Seit er das Hausmädchen, das er nun gar nicht mehr beim Namen nennen mochte, zwischen den Quittenbäumen beim Singen ertappt hatte, war Dr. Shimamura – oder Dr. Shimamuras Gehirn, wie er zuweilen sagte, wenn er nicht ›ich‹ sagen wollte – dessen gewiss, dass das Lied mit ›Uji und Kei‹ von der Fischhändlerstochter aus Shimane stammte.

Das war nicht verwunderlich. Viele Erinnerungen, die Shimamuras Gehirn produzierte und die sich nicht sofort zuordnen ließen, wurden der Fischhändlerstochter untergeschoben; dagegen war Shimamura machtlos. Die Fischhändlerstochter Kiyo war die Inspiration für das Oder-Projekt, das Zentralproblem der Gedächtnispsychologie, der Angelpunkt der Anamnese. Sie war auch der Grund dafür, dass Shimamura das Wort Fuchsgähst wienerisch aussprach, denn ohne das Mädchen Kiyo wäre die Angelegenheit wohl kaum nach Wien gekommen und dort unter Kollegen so schlimm kolportiert worden.

Dr. Shimamura maß Fieber. Dann lauschte er, ob niemand kam, ob alle Frauen gut aufgeräumt waren, und dann zog er ein paar Bände des französischen Charcot aus dem Regal und fischte dahinter das Bündel hervor. In dem Bündel verwahrte er die Beweisstücke für Kiyo. Kleinmädchenspielzeug. Ein Stoffäffchen an einem Bambusstab, ein Federbällchen, ein Kreiselchen, Papierblumen. Manchmal schien es Shimamura, als erinnerte er nichts als diesen Krimskrams von Kiyo, und auch diesen nur deshalb, weil er ihn, wann immer er wollte, in Händen halten konnte. Er drehte und wendete alles. Dann packte er es wieder weg. Kiyos Spielzeug war zerbissen und zerkaut wie das Spielzeug eines Hundes.

Das Haus des Fischhändlers lag in einer schattigen Bergmulde hoch oben über dem Meer. Es war ein schönes, geradezu fürstliches Haus. Fische wurden hier nicht verhökert, sondern lukrativ verwaltet, und der Fischhändler, so zeigte sich, war ein Fürst unter den Fischhändlern; wie dies zustande gekommen und warum Fische und ihre Verwaltung hier so wertvoll waren, das bekamen Shimamura und der Student nicht heraus.

Der Aufstieg war hart gewesen. Immer wieder hatte sich der junge Student sehr verdient gemacht. Er hatte im Gestein natürliche Stufen für den ausgelaugten Nervenarzt gefunden, und einmal hatte er ihn aufgefangen, als er aus Müdigkeit und auch aus einer Art Verzweiflung heraus hatte abstürzen wollen.

Kein Exorzist, kein Gefäß lungerte am Steilufer. Kein Kind folgte ihnen nach. Es war sehr still, sehr heiß. Im Geäst hing hier und dort ein wenig abgezupftes Weiß, Federn oder Fell von etwas Vorbeigehuschtem. Ab und zu regte sich ein Lüftchen, da nahm Shimamura den Hut ab, um sein Haar zu lüften, aber es war keine Brise vom Meer, es war etwas Stickiges, Dumpfes, fast wie Rauch von etwas Verbranntem.

»Erinnern Sie sich, als wir klein waren«, fragte der Student, »wie wir beim Zählen immer die Vier haben auslassen müssen, weil sie den Tod ruft? Eins, zwei, drei – fünf, sechs, sieben? Wissen Sie noch, Herr Doktor?«

Er trug nichts als eine Leibbinde. Der Bauernkittel, an dem zwei Wochen lang Fuchspatientinnen gezerrt hatten, war völlig zerfetzt und der Student hatte ihn sich um den Kopf gewickelt. Die Ärmel lappten über seinen Ohren hinab auf die Schultern. Shimamura starrte wortlos auf das nackte Gesäß des Studenten, das über ihm auf den Klippen durchs Gestrüpp tanzte. Der Student trug jetzt die Arzttasche und den fotografischen Apparat. Shimamura nahm den Hut ab und setzte ihn wieder auf, nahm ihn ab und setzte ihn wieder auf. Eine Libelle schnurrte vorbei. Shimamura erinnerte sich an die Zahl Vier und den Gott des Todes. Er hatte Angst, eine alte, uralte Angst.

Der reiche Fischhändler wohnte nicht in seinem schönen Haus. Vielleicht hatte er hier noch nie gewohnt. Vielleicht hatte der Fischhändler dieses Haus nur gebaut, um sein besessenes Kind unterzubringen, zusammen mit ihrer Mutter, einigen Tanten und vielen Mägden und Besorgerinnen, und dann das Weite gesucht. Auch das bekamen Shimamura und der Student nie heraus.

Eine Stunde hatte Dr. Shimamura für seine letzte Exploration anberaumt. Sie dauerte stattdessen zweieinhalb Wochen. Shimamuras Kalender, wo er jedes Tagwerk für Professor Sakaki notiert hatte, wies eine Lücke auf für die Tage mit dem Mädchen Kiyo.

Es dauerte lange, bis man den Arzt zur Patientin vorließ. Sie war vielleicht sechzehn. Eine blühende Schönheit. Ihr langes Haar war in Schnörkeln aufgesteckt, und in einem großen, sonnendurchfluteten Raum saß sie allein, nur aus weiter Ferne von vielen Frauen bewacht, mit umeinandergeschlungenen Beinen auf einem kleinen Tisch und spielte mit den Fetzen einer Zeitschrift namens La Vie Parisienne.

»Herr Doktor!«, rief sie in Shimamuras Schweigen hinein, »Verzeihen Sie mir!« Die Zeitschrift entglitt ihren Händen und sie sank vor dem Tisch auf die Knie und in eine tiefe Verneigung.

Weil er nicht wusste, was hier angemessen war, kniete Shimamura ebenfalls, in einem weit mehr als gebührenden Abstand. Er bereute, den nackten Studenten in den Garten gestellt und aus Scham nicht mit herein genommen zu haben. Noch immer tief geneigt und regungslos blickte Kiyo durch ihre Wimpern und eine freigeschüttelte Haarsträhne vage in Shimamuras Richtung. Sie ist einer Schauspieltruppe entnommen, dachte Shimamura, sie ist die junge Diva einer blitzmodernen Frauenschauspieltruppe aus Tokyo und Sakaki hat sie nach Shimane geschickt, um mich zu ärgern. Halb verneigt und sehr verkrampft betrachtete Shimamura seine neue Patientin und befragte sich selbst, ob er nun plötzlich Anzeichen eines paranoiden Wahns erkennen lasse, die er bisher noch nie an sich beobachtet hatte.

Kiyos Rücken hob und senkte sich. Sie atmete tiefer, dann schneller. Und schneller. Sie pumpte, wie ein Insekt. »Verzeihen Sie uns«, flüsterte sie gepresst, und dann schoss sie aus der Verbeugung hinauf in die Vertikale, legte den Kopf in den Nacken und schrie. Heulte. Ein erst spitzes, dann kehliges Jaulen, das nicht abriss. Sehr viel Luft schien in diesem Persönchen zu sein, unglaubliche Mengen von Atemluft. Immer noch auf den Knien bog sie sich in eine Art rückwärtige Verbeugung hinein, bis ihr Kopf fast wieder die Bodenmatte berührte, nur auf der falschen Seite. Und der Schrei riss nicht ab.

Alle Frauen hielten sich Mund und Nase zu und liefen davon.

Shimamura war auf die Füße gesprungen. Da stand er. Und schaute zu. Bei ihrem halben Kabolzschlag nach hinten hatte Kiyo weitgehend den Oberkörper entblößt, und nun schaute er ratlos auf ihre weiße Haut, die sich über den Rippen spannte, und auf zwei winzige dunkle Brustwarzen, die erschreckend gen Hals verrutscht schienen. Der ganze Leib schien verrutscht. Kiyos Schultern und Ellenbogen waren an Stellen geraten, welche die menschliche Anatomie nicht vorsah. Und wo waren die Hände? Krampften sie in den Kniekehlen? Rückwärtig um die Knöchel? Würde sich Kiyo nun vollends umkrempeln, wie etwa ein Handschuh? Shimamura kam ihr nicht zu Hilfe. Hoch errötet, mit geblähtem Hals, war sie immer noch schreiend zur Seite gekippt und hatte sich dabei auch aus Gürtelschnur und Gürtel gewunden. Unter dem Kimono, einem schönen, blassen Mädchenkimono, der passend ein Fischmuster aufwies, kamen viele eng gewickelte weiße Leibbinden zum Vorschein. Wahrscheinlich wusste man schon, dass Kiyo im Laufe jedes Tages ihr Kleid verlor, und wickelte deshalb ihre unteren Partien allmorgendlich gut ein.

Das kehlige Jaulen kippte zurück in ein schrilles, dann begann es zu zittern und schließlich verebbte es in einem tiefen Röcheln. Kiyo reckte den Hals. Ihre Augen rollten zurück. Einen hoffnungsvollen Moment lang schien es Shimamura, als bahne sich eine schöne tonische Streckung an und die Geschichte nähme doch noch eine vernünftige epileptische Wendung, aber stattdessen legte sich Kiyo nun seitlich, ließ ihre Füßchen adrett unter dem Saum verschwinden, stützte die Wange in die Hand und blickte Shimamura erschöpft und ein wenig vorwurfsvoll ins Gesicht, als gebe sie ihm die Schuld an all dem aufreibenden Gezeter.

Dr. Shimamura hörte sich »bitte kommen Sie ihrer Tochter helfen« rufen. Es kam klein und heiser heraus, und niemand kam.

»Da«, sagte Kiyo milde. »Da, schauen Sie bloß.«

Sie rollte sich wieder auf den Rücken und entblößte sich wiederum weiter. Selbst die Leibbinden schob sie ein wenig zusammen, bis unter die Hüftknochen, genau bis zum Ansatz der Pubes, und über den Schenkeln schlug sie das Fischmuster weit auf.

Und dann kam der Fuchs.

Er schien sich, wenn er ruhte, unter Kiyos Leibwickeln aufzuhalten, denn dort arbeitete er sich nun hervor. Es war ein kleiner Fuchs, zwei bis drei Handbreit lang, je nachdem, ob er sich streckte oder ballte, denn in seinem beengten Lebensraum direkt unter Kiyos zarter weißer Haut bewegte er sich fast wie eine Raupe. Kiyo folgte ihm mit dem Finger: über den Bauch langsam hinauf in den Thorax, in die rechte, in die linke Achsel und dann vehement in den linken Oberarm hinein, wo er sich bis fast zum Ellenbogen drängte, bis dieser überstreckte und noch mehr und noch immer mehr überstreckte. Shimamura meinte es knirschen zu hören. Er stand wie ein Stein. Kiyo hechelte. Sie schien große Schmerzen zu leiden, der Schweiß trat ihr auf die Stirn und Tränen in die Augen, doch kein weiterer Schrei entkam ihr. Immer noch ein Blick des Vorwurfs: Für Sie ertrage ich das, Herr Doktor, nur für Sie.

Shimamura Shunichi beobachtete sich selbst, wie er einen perfekt ausgebildeten kleinen Fuchskörper sich quer unter Kiyos Schlüsselbeinen abzeichnen sah, wo er nach kurzer Rast einen Haken schlug, in den Hals fuhr und dann mit Gewalt hinauf in die Mundhöhle strebte. Kiyo presste die Lippen zusammen. Dann nahm sie die Hände zur Hilfe. Ihre Backen blähten sich. Ein paar Bläschen rosafarbener Schaum erschienen zwischen ihren Fingern. War es die Schnauze des Fuchses, die gegen Kiyos Zähne stieß? Oder hatte er sich unterwegs umgedreht und presste nun rücklings seinen starken Schweif von innen gegen ihre Lippen? Kiyo würgte. Ihr Körper bebte und zuckte. Shimamura merkte, dass er dauernd irgendetwas vor sich hin sagte, er hoffte, es war kein Gebet. Dann machte es kehrt, das Ding. Hinab aus dem Mund in den Hals in den Thorax und hinunter in sein Ruhenest unter den weißen Binden. Kiyo streckte sich und stöhnte. Es klang gemächlich. Wie ein Bär vielleicht. Eine Bärin. Ein viel zu tiefes, zutiefst befriedigtes Stöhnen oder Brummen kam zwischen den blutigen Lippen des Mädchens hervor.

»Paroxysmus«, sagte der Fuchs.

Er hatte eine raue, weise, alte Stimme. Da lag er, in Mädchengestalt, alle viere von sich gestreckt, umgeben von blassem, fischgemustertem Stoff und französischen Zeitungsseiten. Aus den elliptischen Pupillen seiner dunkel bernsteinfarbenen Augen traf Shimamura Shunichi ein halb interessierter, halb schon gelangweilter Blick.

Zweieinhalb Wochen, so rekonstruierte Shimamuras Gehirn, verbrachte er vor allem in diesem hellen Raum. Er saß mit den Frauen, strumpfsockig hingekniet, schwitzte, fächelte sich und wartete auf Audienz. Wenn die Frauen sich Tücher vor Mund und Nase hielten und wie aufs Kommando davonliefen – denn so sehr sie das Mädchen vielleicht liebten, ihren Fuchs wollten sie nicht übernehmen –, so stand Shimamura auf, trat näher und explorierte, was sich denn nun zutrug auf den mittleren Matten, neben dem Tischchen, das Kiyo als Sitzmöbel diente.

Für den Studenten hatte man etwas zum Anziehen gefunden, und manchmal, oft, immer, je nachdem, was Shimamura erinnerte, assistierte er ihm. Was darin bestand, dass er ebenfalls zuschaute. Denn außer Zuschauen tat Shimamura nichts. Nur eine einzige Fassung der Erinnerung, eine wenig verlässliche, so schien es, zeigte ihn mit all seinen Perkussionshämmern und Spekula sich auf das Mädchen stürzen, als sie einmal ohnmächtig war und zuverlässig in Menschennatur, um wild, gierig, erfolglos an ihr herumzuforschen.

Der Student nahm Lichtbilder auf. Das ließen sie sich gerne gefallen, Kiyo und ihre Krankheit, die man zur Schande von ganz Japan immer noch Fuchs nannte, obwohl sie doch gewiss irgendwo in Professor Griesingers Lehrbuch versteckt war, auch wenn sie Shimamura dort nicht fand, weil er anscheinend kein guter Arzt war und vielleicht auch an Hitzschlag litt oder an einer folie à deux.

Wahrscheinlich verknipste der Student Film um Film mit Professor Sakakis hochmoderner englischer Rollfilmkamera. Shimamura erinnerte nichts anderes von ihm, keine abergläubischen Akte, kein Fraternisieren mit der Kranken, und auch nicht, dass Kiyo an seiner Brust geweint hätte. Kiyos Wahnsinn, Kiyos schiere Existenz hatte den Studenten vom Fuchsexorzisten auf einen Schlag zurückgestaucht zu einem Tokyoter Jungen, der aus unerfindlichen Gründen einem Nervenarzt nachfolgte.

Der helle Raum, das Fischmusterkleid, die Wunder von Kiyos Anatomie: ein fotografischer Glücksfall. Und dann machte sie Konversation. Artige Reden: das Wetter, Blümchen, und die Vögel, die im Garten sangen, welch ein Trost fürs Gemüt, und das Marktrisiko von Plattfisch, Stachelmakrele, Seeteufel. Kiyos helle junge Stimme und Shimamuras »ach ja?«, und die ganze Zeit waren ihre Hände noch in einer obszönen Geste erstarrt, die der Fuchs umsichtig zurechtgebogen hatte, damit Shimamura ihn auch unter all den artigen Reden bloß nicht vergaß.

Manchmal nannte der Fuchs ihn ›Onkelchen‹. Öfters nannte er ihn ›Herr Kollege‹. Manchmal offerierte er auch Geschlechtliches, das alte Fuchsweib, die alte Hure. Da verneigte sich Kiyo und entschuldigte sich, und dann schlug sie die kleinen weißen Hände vor den Mund, um ihr Kichern zu dämpfen, dieses helle, dumme Kleinmädchenkichern.

Shimamura behelligte Kiyos Mutter und Tanten und Bedienerinnen, warum man keinen Exorzisten bestellte. Er lief im Garten umher zwischen Kiyos geliebten Blümchen und Vögelchen und spähte nach Hilfe, nach Priestern, Zauberfahnen, Gefäßen. Das erinnerte Shimamura genau: dass er bis aufs Steilufer hinauflief, um auf eigene Faust nach Gefäßen zu suchen. Dass er gerne eigenhändig den Tofu ins zahnlose Maul eines verzweiflungsvollen, aussätzigen FuchsGefäßes gestopft hätte, damit dieser verdammte Fuchs dort anbiss. Wie er wahrscheinlich allein in die stille Sonne geschrien hatte, zwischen Libellen und ausgezupftem Fell im Geäst: ein Gefäß! Bitte! Hierher zu mir! Ich habe Bedarf dafür!

»Man exorziert sie nicht, weil es nichts zu exorzieren gibt«, sagte der Student und stocherte in seiner Pfeife. »Da tobt kein Fuchs in dem Mädchen. Da ist nichts auszutreiben. Im Fuchs wohnt kein Fuchs. Der Fuchs ist die Mädchenseele. Die lässt man besser drin. Oh, Herr Doktor, Sie haben das völlig falsch verstanden! In meiner Familie, vor vierhundert Jahren, da wusste man noch, wie das geht.«

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