Kitabı oku: «RAF oder Hollywood», sayfa 2

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1958

Nach dem Tod meines Vaters wohnten meine Schwester Sabine und ich lange in England bei meiner Tante Gaby, der Schwester meiner Mutter, ich durfte sogar Schule schwänzen. Sie lebte mit ihrer kinderreichen Familie in einem englischen Landhaus. Von dort aus besuchte ich so oft es ging Yella und Otto, die in einem Vorort von London lebten.

Die Häuser sahen ähnlich aus wie in Amsterdam, wie zu große Spielzeughäuser mit hölzernen, geschwungenen Fensterläden, die schmale verzierte Leisten hatten. Alle Häuser hatten ganz kleine Gärten. Das Haus der beiden war voll mit schönen alten Möbeln, die wie geschnitzt aussahen, in allen Zimmern waren die Wände bis unter die Decke vollgestellt mit Büchern. Vor dem Wohnzimmer gab es einen kleinen Wintergarten, von dem aus man in das mit Brombeeren und anderen süß-sauren grünen Beeren und Blumen vollbewachsene Gärtchen sehen konnte.

Dort saß ich mit Onkel Otto an einem kleinen Tisch mit geschwungenen Eisenfüßen und er brachte mir, obwohl Yella ihm das verboten hatte, das Rülpsen bei. Man musste nur etwas Luft schlucken und dann die geschluckte Luft herauspressen – und schon war es ein Rülpser! Für jeden gelungenen Rülpser bekam ich einen Penny, große dunkelbraune Münzen, aus denen ich einen Turm baute. Onkel Otto lachte sich jedes Mal krumm und schief, wenn ich es geschafft hatte, und sein zerknittertes Gesicht wurde noch zerknitterter. Bald war der Anreiz, ihn zum Lachen zu bringen, größer, als weitere Pennys zu verdienen.

»Warum kommst du nie nach Deutschland?«, fragte ich ihn einmal, weil ich das schon lange fragen wollte.

Onkel Otto dachte nach. »Wenn ich dir das jetzt erkläre, würde Yella sagen, du seist noch zu klein dafür. Aber du bist schon groß, du verstehst das!«

Meine Brust schwoll – und meine Ohren.

»Du siehst die vielen Bücher hier«, fuhr Onkel Otto fort und zeigte auf die rundum mit Büchern überladenen Regalwände.

»Ich liebe Bücher«, platzte es aus mir heraus, ich konnte nämlich schon lesen und schreiben.

»Gut so«, sagte Onkel Otto, »ohne Bücher kann man nicht leben.«

Ich nickte heftig, ich liebte auch Onkel Otto.

»Ich habe auch Bücher geschrieben«, setzte er seine Erklärung fort, »und als wir noch in Deutschland lebten, wurden sie dort gedruckt und verkauft. Aber dann kamen die Nazis an die Macht und verbrannten sie.«

Ich war wie vom Donner gerührt. »Aber warum?!«, rief ich. »Bücher sind doch was Tolles!«

»Weil wir Juden sind«, antwortete Onkel Otto. »Deswegen sind wir dann nach England umgezogen und haben englische Namen angenommen.«

Da war es wieder! Die Nazis21 und die Juden. Immer wieder kam das.

»Nach jüdischer Tradition bist du auch Jude«, sagte Onkel Otto lächelnd, »weil deine Mama, deine Oma, deine Uroma alle Jüdinnen waren – aber das ist gleichgültig heute, das zählt heute nicht mehr.«

»Aber warum kommst du dann heute nicht nach Deutschland?«, insistierte ich auf meiner Ausgangsfrage. »Das ist doch alles vorbei?!«

Onkel Otto lächelte traurig. »Ich hab es ja versucht«, sagte er.

Ich sah ihn fragend an.

»Eigentlich wollte ich nie mehr nach Deutschland«, begann er seinen Bericht, »aber Yella hatte so lange mit mir geredet, bis ich mich überzeugen ließ: Ihr alle unsere nächsten Verwandten lebt dort, die Nazizeit ist überwunden, wir müssen nach vorne sehen und nicht immer an die Vergangenheit denken. Es hat keinen Sinn, die Deutschen auf immer und ewig wegen der Hitlerzeit zu verdammen, man muss ihnen eine Chance geben. Ich war zwar skeptisch, denn man hörte auch viel Schlechtes aus Deutschland, aber ich wollte keine Vorurteile haben, Yella hatte recht: Man muss offen für Veränderung sein.«

Er hielt inne und sah zum Fenster hinaus. Ich saß mucksmäuschenstill da.

»Also packten wir unsere Koffer«, fuhr er fort und sah ernst aus, »setzten uns ins Auto, schifften mit der Fähre aufs Festland, fuhren durch Holland und überquerten tatsächlich bei Aachen die deutsche Grenze. Die Sonne schien, die Menschen waren freundlich und wir mussten bei der ersten Tankstelle in Deutschland Benzin nachfüllen. Der Tankwart, ich erinnere mich genau, war noch ein junger Mann, hatte eine blaue Kappe auf dem Kopf, und trug eine weit schlackernde braune Kordhose. Nachdem er gesehen hatte, dass wir eine englische Autonummer hatten, fragte er zunächst, ob wir deutsch sprechen und als ich bejahte, fragte er nach den Benzinpreisen in England. ›Hab’s mir fast gedacht‹, sagte er mit einem bitteren Lachen, nachdem ich geantwortet hatte, ›ist ja nichts im Vergleich zu unseren Preisen!‹ ›Naja‹, entgegnete ich, ›es ist halt immer ein Auf und Ab – das wird sich hier schon auch wieder ändern!‹ ›Nein, nein‹, widersprach er, zog den Zapfhahn aus dem Auto und stieß ihn heftig in die Tanksäule. Ich zog meine Brieftasche aus dem Jackett und fragte, warum. Er sah mich prüfend an – es war deutlich, dass er um einen Beschluss rang –, dann sah er sich sichernd nach allen Seiten um und winkte mich schließlich näher an sich heran. ›Man kann ja heute nicht mehr offen über die Dinge reden‹, begann er noch näher zu mir gebeugt, fast flüsternd, ›aber das weiß doch jedes Kind: Die Preise sind von den Juden diktiert, der jüdischen Weltverschwörung in New York!‹ Dann wich er zurück und stemmte seine Hände in die Hüften: ›Erst haben sie Jesus Christus umgebracht, dann Adolf Hitler und jetzt beherrschen sie die Welt!‹«

Onkel Otto sah mich an, aber ich rief nur ungeduldig: »Und dann?«

»Dann bezahlte ich«, antwortete er, »verzichtete auf das Rückgeld, setzte mich wieder ins Auto zu Yella, erzählte ihr alles und wir fuhren zurück in unser geliebtes England. Hier werden wir für immer bleiben.«

Es dauerte eine Weile, bis sich das Erzählte bei mir setzte, zu verstehen war es eh nicht. Dann begann ich zu weinen ohne zu wissen, warum.

Schließlich nahm ich seine Hand und sagte: »Ich will auch für immer in England bleiben22.«

1959

Der neue Intendant des Ulmer Theaters, Kurt Hübner23, entließ als erste Amtshandlung meine Mutter als Frau seines Vorgängers, dessen bahnbrechende Erneuerungen des Theaters (zum Beispiel das Studiotheater »Podium«, in dem das Publikum um die Bühne herumsaß, Inszenierungen des in den fünfziger Jahren in Westdeutschland verpönten Bert Brechts, oder das Engagement von späteren Theaterrevolutionären wie Peter Zadek24 und Wilfried Minks25) er von nun an auf seine Fahnen schrieb.

Meine Mutter, die junge Witwe mit zwei Kindern, fand eine Stelle beim Bayrischen Fernsehen und musste schweren Herzens ihren Beruf als Schauspielerin aufgeben. Wir zogen um in ein Reihenhäuschen mit Handtuchgarten in Obermenzig am Rande von München, direkt nach dem Ende der Autobahn, wenn man von Ulm kam. Zum Glück gab es auch dort ein schönes Mädchen, sie hieß Mucki und brachte mir bei, dass man auf den umliegenden Wiesen Sauerampfer pflücken konnte, der lecker schmeckte.

Meine neue Schule war zwar ganz in der Nähe, aber sie war düster, geduckt, und es stank nach Linoleum. Der Lehrer war alt, hässlich und streng, der Unterricht machte keinen Spaß. Das Klassenzimmer war riesig, dunkel und wirkte wie ein Kellergewölbe. An der Wand hing ein riesiges Bild des Bundeskanzlers. Er hieß Konrad Adenauer und schaute angsteinflößend ins Zimmer.

Einmal standen wir vor Beginn des Unterrichts vor dem Bild und ein Junge gab damit an, dass sein Vater den Adenauer schon einmal in echt gesehen habe und dass der überhaupt der wichtigste Mann in ganz Deutschland sei. Da musste ich furchtbar lachen, zeigte auf den vorgeschobenen Mund dieses Mannes und sagte: »Aber der sieht doch aus wie ein Affe!« – alle umstehenden Kinder lachten mit.

»Was hast du da gesagt?«, ertönte eine schneidende Stimme hinter mir. Der Lehrer war hereingekommen, ohne dass ich das gemerkt hatte. Er stand mit seiner Aktentasche in der Hand hinter mir und funkelte mich böse an.

Ich zuckte mit den Achseln. Dann zeigte ich auf das Bild: »Der kann ja nichts dafür, dass er so aussieht!«

»Jetzt reicht’s aber«, rief der Lehrer, ging wütend zu seinem auf einem Podest erhöht stehenden Schreibtisch und knallte seine Aktentasche darauf. Dann winkte er mich mit dem Zeigefinger zu sich, während alle anderen Kinder sich setzten, und befahl mir, mich vor der Klasse aufzustellen. Er öffnete die Schublade, holte etwas heraus und hielt es hinter seinem Rücken, während er zu mir herunterkam.

»Jetzt schauts mal alle her«, sagte er zur Klasse gewandt, als er neben mir stand, »was passiert, wenn man so frech ist wie der Wackernagel.«

Er befahl mir, die rechte Hand hochzuheben und die Finger flach zu strecken. Dann legte er seine linke Hand darunter und holte mit der rechten hinter seinem Rücken ein Bastrohr hervor.

»Damit du nie vergisst«, fuhr er mich mit zusammengekniffenen Lippen an, »was für ein Sauhund du bist«, schlug mit dem Bastrohr ganz vorne auf meine Finger, fast auf die Fingernägel, und zählte: »eins, zwei, drei –« bis zehn.

Es tat saumäßig weh, aber ich verkniff mir die Tränen und schwor Rache26.

1960

Meine Mutter hatte einen roten VW-Käfer, mit dem wir oft nach Ulm fuhren, um Reste unseres Umzugs zu holen. Es dauerte immer endlos, bis die hundertzwanzig Kilometer vorbei waren. Oft saß ich ganz hinten in dem Schacht des Käfers und schaute rückwärts hinaus, weil es mir langweilig war, immer zu warten, bis das nächste Schild anzeigte, dass wir wieder zehn Kilometer geschafft hatten.

Bei einer Fahrt bemerkte ich, dass ständig ein weißer VW-Käfer hinter uns fuhr. Er überholte, wenn meine Mutter überholte und er fuhr langsamer, wenn sie langsamer fuhr. Er hatte auch ein Ulmer Kennzeichen, am Steuer saß ein Mann.

»Mami!«, rief ich nach einiger Zeit, »da verfolgt uns einer mit einem VW aus Ulm!«

Meine Mutter sah in den Rückspiegel. »Stimmt«, bestätigte sie, »der ist auch aus Ulm.«

»Der ist bestimmt ein Geheimagent!«, rief ich zu ihr nach vorne, »der will dich klauen!«

Meine Mutter lachte, sah wieder in den Rückspiegel und sagte: »Wieso, der sieht doch ganz nett aus!?«

Ich sah ihn mir nochmal genau an, war weniger ihrer Meinung und wusste, dass er etwas im Schilde führte.

Ich hatte wieder einmal recht. Nachdem wir die Autobahn endlich verlassen hatten und in die Verdistraße in Obermenzing einfuhren, kletterte ich aus dem Käfer-Schacht auf den Rücksitz, weil wir die nächste Straße abbiegen mussten zu unserem Reihenhaus, da schaltete die Ampel auf rot und meine Mutter musste scharf bremsen. Hinter uns quietschten Reifen – dann krachte es – und der Mann war uns hinten reingefahren! Das hatte der absichtlich gemacht!

Wir stiegen alle aus und der Mann kam mit ausgestreckter Hand lachend auf meine Mutter zu: »Entschuldigen Sie bitte vielmals, das tut mir sehr leid, ich werde das so schnell es geht regulieren!« Sie war überhaupt nicht richtig böse auf ihn, tat fast so, als sei es ihre Schuld, weil sie gebremst hatte, und als sie die kaputten Stoßstangen anschauten, sagte der Mann plötzlich:

»Sie kommen mir so bekannt vor – sind Sie nicht Schauspielerin am Ulmer Theater?«

»Leider nicht mehr«, antwortete meine Mutter geschmeichelt. »Ich wurde entlassen, nachdem mein Mann, der Intendant, gestorben war.«

»Dann sind Sie Erika Wackernagel?!«, sagte der Mann hochachtungsvoll und streckte wieder seine Hand aus. »Mein Name ist Heiner Guter27 – welche Ehre, Sie persönlich kennen zu lernen! Wie oft habe ich Sie schon im Theater bewundert.« Und, nachdem meine Mutter errötend geseufzt hatte: »Und Sie sehen ja im richtigen Leben noch blendender aus als auf der Bühne.«

Er wohnte ganz in der Nähe, war geschieden, hatte zwei Töchter in unserem Alter, die eine dick, die andere frech, und es dauerte nicht lange, bis meine Mutter ihn heiratete und die beiden den Bau eines Hauses am anderen Ende von München planten.

Heiner Guter war in jeder Hinsicht das Gegenteil meines Vaters, er war unsensibel, verstand nichts von Kunst und lästerte über alles und jeden. Er wusste alles besser und behandelte meine Mutter schlecht. Meine Schwester Sabine und ich waren natürlich überhaupt nicht damit einverstanden, dass unsere Mami diesen grobschlächtigen Kerl28 heiratete, und wir verbündeten uns gegen ihn und seine Töchter.

Aber er konnte Häuser bauen, während mein Vater kaum einen Nagel in die Wand zu schlagen verstand. Außerdem kannte er sich in politischen Dingen aus, während mein Vater in dieser Hinsicht im Kunsthimmel über den Wolken geschwebt hatte. Er war auch mit Inge und Otl Aicher-Scholl befreundet, weil er in der Gruppe von Inges Geschwistern gewesen war, der »Weißen Rose«, die gegen die Nazis gekämpft hatte.

Ich erzählte ihm davon, dass im Klassenzimmer ein Bild von Bundeskanzler Adenauer hing, der aussah wie ein Affe, und er lachte herzhaft darüber. Als ich berichtete, dass ich vom Lehrer erwischt worden war, als ich das laut sagte, und deswegen je zehn Stockschläge auf die Finger bekommen hatte, wurde er sauer. »Hier in Bayern sitzen überall noch die Nazis drin«, sagte er, »da wird sich nie was ändern!«

Eines Tages kam meine Stiefoma aus Brasilien zu Besuch. Sie hatte immer rote Augen und sprach langsam und verschwommen. Meine Mutter war gereizt und schlecht gelaunt. »Sie hasst sie«, erklärte Sabine, »weil sie als Kind immer so tun musste, als sei das ihre echte Mutter, sonst hätte sie kein Abitur machen dürfen.«

Nachdem diese merkwürdige Frau ein paar Tage da war, zeigte mir meine Mutter unsere Mülltonne, die voll mit leeren Weinflaschen war. »Sie ist alkoholkrank«, erklärte sie mir, »das ist ganz furchtbar.« Deswegen wirkte sie immer so abwesend. »Deine wirkliche Oma war eine ganz wunderbare Frau«, betonte meine Mutter, »schade, dass du Carlamutti nie kennenlernen konntest!«

»Wie Tante Yella?«, fragte ich.

»Ja«, sagte meine Mutter, »und weil sie Jüdin war, durften wir nie über sie reden!« Sie schaute ganz traurig. »Das war furchtbar!«, sagte sie mit erstickter Stimme – und sah wieder wütend auf die leeren Weinflaschen in der Mülltonne.

Umso schöner war der Besuch von Onkel Helmut. Er war mein Patenonkel und der jüngste Bruder meiner echten Oma. So wie Yella nach England war er vor den Nazis nach Australien geflohen.

Er logierte im Hotel Königshof am Stachus, einem prächtigen Bau mit vielen Balkonen, die geschwungene verzierte Geländer hatten, mit Kronleuchtern im Restaurant, überall samtroten Brokatvorhängen, die mit goldenen Bordeln seitlich befestigt waren, und rotgoldenen weichen Teppichen, auf denen man wie auf Watte ging.

Wir saßen in der Sonne auf dem Balkon seines Zimmers, er lobte mein gesundes Aussehen und meine entzückenden Söckchen, schenkte mir fünf Mark und heimlich Schokoladeneier. Dann zeigte er seine Flugtickets: längliche Pappen, die wie ein Leporello aneinandergeklebt waren, das er so weit auseinanderfalten konnte, wie er seine Arme ausbreiten konnte. Er flog rund um die ganze Welt! Neuseeland, Bali, Indonesien, Indien, Dubai; dann Europa, wo er natürlich auch Yella und Otto besuchte, dann Amerika, um von da wieder zurück nach Australien zu kommen. Ich bewunderte ihn unendlich.

»Woher hast du denn so viel Geld, um das alles zu bezahlen?«, fragte ich.

»Das meiste sind geschäftliche Treffen29«, erklärte er, »entweder spreche ich mit Leuten, die unsere Kleider abkaufen, oder mit welchen, bei denen ich sie herstellen lasse, weil sie billiger produzieren als in Australien.«

»Und woher hattest du das Geld, um die Fabrik in Australien zu bauen?«

»Das hab ich mitgebracht«, erklärte er lächelnd.

Ich sah ihn fragend an.

»Du weißt doch«, begann er zu erzählen, »ich musste vor den Nazis fliehen. Yella war schon weg und hatte etwas vom Erbe unserer Mutter bekommen. Die Gersons hatten früher Eisenbahnen und Uniformen für das deutsche Militär produziert, davon war noch etwas übrig. Also bat ich sie um meinen Anteil; außerdem hatte ich schon einiges selbst verdient.« Er nickte in sich hinein und lächelte, seine braunen Runzeln glänzten in der Sonne. »Es musste alles ganz schnell gehen,30 einen Teil hatte ich in Form von Goldstücken und das meiste in möglichst großen Dollarscheinen, viel auch in Markscheinen. Dann nähte ich mir einen großen, dicken Gürtel, unter dem ich das Geld versteckte, den ich eng um den Bauch band und wodrüber ich meine Kleider zog. Ich legte ihn so lange nicht ab, bis ich in Sicherheit war!« Dann breitete er die Arme aus, sah mich liebevoll an und sagte in die Sonne blinzelnd auf den Stachus blickend:

»Wie wunderbar, dass das alles vorbei ist! Du hast es gut! Das freut mich für dich!«

1961

Bald zogen wir in das zu unserem genau gleich aussehende Reihenhaus meines Stiefvaters Heiner Guter mit seinen beiden Töchtern. Der einzige Vorteil war, dass man draußen besser spielen konnte, weil gegenüber des Handtuchgärtchens keine Häuser waren, sondern eine Wiese und noch etwas weiter hinten ein Flüsschen, die Würm; dort gab es viele Bäume und Büsche, wo man sich gut verstecken konnte. Es war alles sehr beengt und meine Eltern, »die Alten«, wie wir Kinder sie nannten, stritten sich dauernd; da aber fast täglich Gäste kamen, immer wieder neue, vertrugen sie sich wieder, jedenfalls, solange die Gäste da waren.

Wir Kinder wurden nie ausgeschlossen von den Gesprächen der Alten und ihrer Gäste. Eines der Hauptthemen in diesem Jahr war, dass Spione der Israelis einen alten Nazi, der nach Argentinien geflohen war, aufgestöbert und geklaut hatten.31 Alle Freundinnen und Freunde der Alten waren sich einig, dass das in Ordnung gewesen war. Der Mossad32, so hieß die Organisation der Spione, hatte ihn heimlich entführt – das hörte sich alles wahnsinnig spannend an. Auch wenn die Erwachsenen oft dummes Zeug redeten, in diesem Fall hatten sie recht. Die Zeitungen regten sich auf, dass das nicht legal gewesen sei – und darüber regten sich die Erwachsenen auf: Es habe sich nichts geändert in unserem Land, überall hätten die alten Nazis noch das Sagen, es gebe keine freie Presse. Heiner Guter, der sonst immer nur zynische Kommentare zum Besten gab, war in diesem Fall sehr ernst und höchst befriedigt. Meine Mutter nickte mit bitterem Lächeln und sagte: »Das hat der aber wirklich verdient.« Und ein andermal sagte sie: »Das ist eine Genugtuung für unsere Familie!«33

Aber das Spannendste daran war etwas anderes. Wochenlang wurde darüber geredet, auch weil es eine technische Sensation war: der Prozess gegen Adolf Eichmann34 sollte live aus Jerusalem im Fernsehen übertragen werden! Es war unglaublich, man konnte es sich kaum vorstellen, wie das gehen sollte. Das, was die Kameras aufnahmen, wurde per Funk nach Deutschland und in alle Welt gesandt und dann hier ausgestrahlt! Unvorstellbar! Alle fieberten diesem Tag entgegen; normalerweise durften wir Kinder nicht Fernsehen, obwohl – beziehungsweise weil – meine Mutter beim Fernsehen arbeitete. An diesem Tag hätten wir aber gemusst, wenn wir nicht sowieso unbedingt gewollt hätten.

Und am 11. April war es endlich so weit: Die Sonne schien, aber wir versammelten uns alle aufgeregt um den kleinen Schwarz-Weiß-Fernseher im Wohnzimmer unseres Reihenhäuschens. Die Alten waren nicht zur Arbeit gegangen, wir Kinder nicht in die Schule. Und wir konnten tatsächlich hier in München-Obermenzing sehen, was im selben Moment ganz weit weg im Jerusalemer Bezirksgericht stattfand:

Von weit oben konnten wir sehen, wie ein in einen grauen Strickpulli mit einem V-Ausschnitt gekleideter Mann in einen gläsernen Käfig geführt wurde, der links in dem Gerichtssaal stand. Mit ihm zwei Bewacher – alle drei setzten sich. Er klammerte sich mit beiden Händen am Tisch fest und guckte fragend vor sich hin. Dann stand er hektisch auf und machte die Andeutung einer Verbeugung vor dem Richter. Danach nahm er wieder Platz und setzte Kopfhörer auf. Man hörte den Richter hebräisch sprechen, aber sofort legte sich eine Deutsch übersetzende Stimme darüber.

Eichmann dachte über jede Frage nur kurz nach, bevor er prompt und präzise antwortete. Es klang alles ganz selbstverständlich. Manchmal schüttelte er den Kopf, widersprach aber nicht, sondern verbesserte den Richter. Er wirkte beflissen, teilweise fast rechthaberisch.

Eigentlich sah er aus wie jeder andere. Nichts Besonderes. Ein gar nicht mal so alter Mann mit Krawatte und einem ausdruckslosen Gesicht.

Ich empfand gar nichts und mir grauste zugleich, obwohl ich nicht wusste, wovon das ausgelöst wurde.

So sah ein Nazi aus? Ein Massenmörder? Waren sie alle so?

Ich hatte schon Hitler oder Goebbels und Göring im Fernsehen gesehen, wie sie rumbrüllten und blöde gestikulierten – hatte das aber eher lächerlich und unappetitlich gefunden.

Eichmann35 war ganz anders. Völlig ruhig und unaufgeregt. Ich spürte, dass ich Herzklopfen hatte – keine Angst, aber ein dumpfes, unangenehmes Gefühl.

Völlig aufgewühlt gingen wir auf die Veranda unseres Handtuchgärtchens, nachdem die Übertragung zu Ende war. Die Alten tranken Kaffee und schwiegen vor sich hin. Ich wusste nicht, was ich denken sollte.

»Wieso ist Tante Lily36 eigentlich nicht geflohen wie Yella, Otto und Helmut?«, wollte ich plötzlich wissen.

Heiner Guter grinste böse und sah zu meiner Mutter.

Ihr war die Frage sichtlich unangenehm. »Das ist schwierig zu beantworten«, wich sie aus.

»Aber die Nazis wollten doch alle Juden umbringen«, insistierte ich, »wenn sie sie sogar selbst aus Afrika geholt haben, um sie nach Auschwitz zu bringen!«

»Wenn Hitler nicht besiegt worden wäre«, warf Heiner Guter ein, »hätten sie das auch geschafft.«

Ich wusste, dass meine Mutter Tante Lily nicht besonders mochte. Aber Tante Lily betonte immer, wie sehr meine Mutter sie als Kind geliebt habe, weil sie so gerochen habe wie ihre Schwester, die früh verstorbene Mutter meiner Mutter. Irgendetwas stimmte da nicht.

»Musste sie nicht auch einen gelben Stern tragen?«, fragte ich.

»Wieso willst du denn das jetzt plötzlich alles wissen?«, fragte meine Mutter, »das ändert doch nichts.«

»Yella und Otto kommen nie mehr nach Deutschland und Lily war sogar da, als Eichmann alle holte – das verstehe ich nicht.«

»Es gab auch Ausnahmen«, sagte Heiner Guter.

»Warum?«

»Mein Großvater«, sagte meine Mutter widerstrebend, »also dein Urgroßvater war ein hoher Soldat im Ersten Weltkrieg, deshalb hat man bei meiner Großmutter darüber hinweggesehen, dass sie Jüdin war, sie musste keinen gelben Stern tragen.«

»Weil ihr Mann den Heldentod erlitten hat«, spottete Heiner Guter.

»Aber am Ersten Weltkrieg waren doch auch die Deutschen schuld«, widersprach ich, »so habt ihr mir das jedenfalls erklärt.«

»Klar«, sagte Heiner, »deswegen hatten sie ja nichts gegen den Zweiten.«

»Aber warum sind dann Yella, Otto und Helmut geflohen und Lily nicht!?«, fragte ich und wurde sauer.

»›Wer Jude ist, bestimme ich‹«, zitierte Heiner, »das hat Göring gesagt.«

»Ja, aber warum?!«, rief ich wütend.

»Unsere Vorfahren waren zwar Juden«, fuhr meine Mutter fort, »aber das war ihnen egal, sie fühlten sich als Deutsche und haben ja auch schon für das Deutsche Reich Militäruniformen hergestellt.«

»Viele von denen waren deutscher als die deutschesten Deutschen«, spottete Heiner. »Hitler hat sie überhaupt erst drauf gebracht, dass sie Juden sind.«

»Ich will aber wissen, warum Tante Lily hiergeblieben ist!«, schrie ich und stampfte mit dem Fuß auf.

Meine Mutter sah mich traurig an. »Weil sie Tante Lily brauchen konnten«, sagte sie leise.

»Wie?!«

»Tante Lily konnte eine bestimmte Art von Stenographie, die sonst niemand konnte«, erklärte meine Mutter traurig, »dadurch war sie unentbehrlich für das Militär.«

»Was?!?«

»Ja«, sagte Heiner Guter, »sie hat für die Wehrmacht gearbeitet. Sie war Chefsekretärin der Obersten Heeresleitung.«

»Wie bitte?!?« Ich verstand gar nichts. »Tante Lily hat für die Nazis gearbeitet?!?«

Ich sah die beiden an und meine Mutter nickte: »Deswegen arbeitet sie ja heute wieder für die Bundeswehr!«

Heiner sagte nichts.

»Sie hat wirklich mit Eichmann gearbeitet?!?« Ich konnte es nicht fassen.

»So direkt nicht«, wiegelte meine Mutter ab. »Aber deswegen reden ja Yella und Otto nicht mehr mit Lily.«

»Sie hat also für die Nazis gearbeitet, während Eichmann Tante Lotte ins KZ verfrachtet hat!« Ich verstand überhaupt nichts mehr. Ich wusste nur eines: Ich wollte weder37 Deutscher noch Jude sein.

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