Kitabı oku: «RAF oder Hollywood», sayfa 6

Yazı tipi:

»Ja und? Warum sagst du das, wenn es um Sabine geht?«

»Weil es das gleiche Problem ist: Die Zeit war noch nicht reif!«

Es kam eben bei jeder Gelegenheit und von allen nur die eine ewig gleiche Botschaft: »Das dauert noch«, »du musst Geduld haben«, »ist doch nur Utopie!«, »muss erst erkämpft werden«, »das ist doch völlig unrealistisch!« – und so weiter.

Wie lange sollte man denn noch warten? Und auf wen? Wer sollte denn eine neue Welt verwirklichen, wenn nicht wir? Und hieß das alles nicht, dass es nicht umgekehrt allerhöchste Eisenbahn war, endlich mit dem neuen Leben anzufangen?

Die Beatles wollten keine Konzerte mehr geben. Auch eine Art von Anfang – ich fand es spannend, nachdem mir ihre Indienausflüge zu wichtigtuerischen Gurus eher unkoscher vorgekommen waren. Ihre letzte Konzerttour hatte als vorletzte Station den Circus Krone in München.

Es war praktisch unmöglich, Karten zu bekommen. Außerdem kosteten sie die astronomische Summe von über sechzig Mark, was jegliche Taschengelddimension überstieg. Aber meine Mutter kannte einen Redakteur des Bayrischen Rundfunks, der sie verehrte und ihr regelrecht nachlief: Er hatte Freikarten! Und überließ sie ihr!

Die öffentliche Anteilnahme an dem sensationellen Ereignis war größer als beim Eichmann-Prozess. Ich konnte live im Fernsehen die Ankunft der Beatles auf dem Flughafen München Riem, ein paar Kilometer von unserem Haus in Englschalking entfernt, miterleben. Sie stiegen aus dem Flugzeug, winkten in die Kameras und stiegen direkt in ein offenes Mercedes Cabrio, das neben dem Flugzeug auf dem Flugfeld stand, ohne Kontrolle, ohne alles! Damit fuhren sie im Sonnenschein unter Münchens blauem Himmel direkt ins Hotel »Vier Jahreszeiten«, dem vornehmsten und teuersten in ganz München, in dem die ganze oberste Etage für sie reserviert war. Die schönsten Mädchen Münchens warteten dort auf sie!

Ich schwang mich aufs Fahrrad und strampelte so schnell es ging in die Stadtmitte, wo sich auf der kleinen baumbestandenen Wiese vor dem Hotel schon hunderte von Fans versammelt hatten, die lautstark riefen, John, Paul, George und Ringo sollten ans Fenster kommen. Ich mochte Ringo am liebsten und hatte etxtra Schlagzeug gelernt, um Julia zu imponieren, die ich auch in der Menge sah. Aber die Beatles vergnügten sich wahrscheinlich mit den hübschen Mädchen. Die Polizei drängte uns immer wieder zurück, wenn wir die Straße blockierten, und es gab auch hier unten viele hübsche Mädchen, deren Blicke aber nur in den vierten Stock gerichtet waren.

Endlich wurde ein Vorhang beiseite gezogen und ein ohrenbetäubendes Gebrüll brach aus, bevor überhaupt jemand zu erkennen war! Es war natürlich Ringo, der sich zeigte – ich hüpfte vor Freude und brüllte aus vollem Halse, er war der normalste und netteste von allen! Nachdem die anderen es nicht für nötig hielten, sich auch zu zeigen, verlor ich die Lust: Ihnen war der Ruhm zu Kopf gestiegen, dann interessierten sie mich auch nicht!

Die Stimmung im Circus Krone war eine ganz andere als bei den Rolling Stones. Viel nüchterner, fast geschäftsmäßig. Es gab inzwischen Lautsprecher, aus denen Musik zu hören war, solange noch keine Band spielte. Ihr neuester Song »Paperback writer« war gerade rausgekommen und wurde wieder und wieder wiederholt.

Der Moment, in dem die berühmtesten Menschen der Welt auf die Bühne kamen, war zwar spannungsgeladen, aber lange nicht so aufregend wie bei den Stones. Sie hatten zwar die durch sie berühmt gewordenen Pilzköpfe – wie ich auch! –, aber sauber und adrett, irgendwie angepasst. Sie nahmen ihre Gitarren, sagten eine kurze Begrüßung auf und one two three ging’s los. Es war schon irgendwie toll, das live zu hören, was ich nur von der Schallplatte kannte, aber auch ernüchternd. Das Getobe klang pflichtgemäß, ich beteiligte mich nur moderat daran. Ich verstand, warum sie sich auflösten, sie hatten recht und ich bewunderte ihre Konsequenz.

Nach dem Ende der Beatles begann eine neue Zeitrechnung. Eine Art neuer Freiheit brach an. Jetzt waren wir selbst dran.

Unser Mitschüler »Buuz« Unseld war der Klassenclown. Im neugebauten Kaufhaus Hertie an der »Münchner Freiheit« gab es eine aus Amerika eingeführte Erfindung: Rolltreppen. Manchmal gingen wir dort nach der Schule hin und fuhren einfach nur rauf und runter; zu Stoßzeiten standen dort Kontrolleure, die uns zurückwiesen, wenn deutlich war, dass wir gar nichts kaufen wollten.

Buuz machte sich ein Vergnügen daraus, wenn er runterfuhr, etwa in der Mitte der Treppe, auf der gegenüberliegenden Seite hochfahrenden Leuten, die sich am Band festhielten, auf die Finger zu hauen, um dann höhnisch lachend nach unten zu laufen, während die Leute sich ohnmächtig aufregten.

Mit ihm, Fips, Thomas Zauner, dessen Vater Sciencefiction-Romane schrieb, und unserer neuen Mitschülerin Mi, der Tochter eines Akkupunkturarztes, die von der oberen Klasse in unsere durchgefallen war, ließen wir ein Happening auf dem Garagendach meines Elternhauses in der Lützenkirchenstraße steigen.

Wir zogen uns schwarze Anzüge an, Mi ein rosa Spitzenkleid, ich stellte das Schlagzeug meiner »sad classics« auf, Buuz hatte eine Trompete mitgebracht, Mi spielte Bach auf ihrer Querflöte, über Mikrophon von einem Verstärker so laut gemacht, dass es quietschte, ich trommelte, was das Zeug hielt, Thomas Zauner zerquetschte rohe Eier und kreischte zum Himmel, Fips gab improvisierte Lautfolgen zum Besten und las Zahlengedichte von Schwitters, die wir, im Unterricht uns gegenseitig unter den Bänken zuschiebend, gelesen und uns darüber halb totgelacht hatten. Ebby saß am Rande und rauchte – ab und zu holte er eine Maultrommel aus seiner Tasche und quäkte damit ins schrille Mikrophon.

Es dauerte nicht lange, bis wir unser Ziel erreicht hatten und die erwünschte Aufmerksamkeit bekamen: Nachbarn alarmierten die Polizei, unsere Personalien wurden aufgenommen und meine Alten, die natürlich nicht anwesend waren, bekamen eine Abmahnung. Heiner fand das überhaupt nicht komisch, aber meine Mutter war stolz auf mich. Sabine hatte mir bei den Vorbereitungen geholfen.

Eines Tages besuchte Heinz Höfl meine Mutter völlig verzweifelt und bat sie um Rat. Der »Spiegel« hatte ihm ein Angebot gemacht – normalerweise ein Traum für einen Journalisten im besten Alter. Aber Heinz Höfl, dieses breitschultrige Trumm von einem Mann, saß wie ein Häufchen Elend am großen Couchtisch im Wohnzimmer und drehte seine Kaffeetasse in der Hand.

Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er gekommen war, und als ich zufällig ins Wohnzimmer kam, um ein Buch zu suchen, sah ich ihn in diesem Zustand und erschrak: Dieser weise junge Mann, der mir so viele Ratschläge, Denkhinweise und Anregungen gegeben hatte, sah völlig ratlos aus.

»Ja, aber was ist denn das Problem?«, fragte ich, meinerseits völlig verständnislos, nachdem er mir von dieser Chance seines Lebens erzählt hatte; so weit wusste ich Bescheid, dass man höher als zum »Spiegel« nicht aufrücken konnte.

»Dann muss ich doch nach Hamburg umziehen!«, rief er, breitete seine Arme aus und ließ sie kraftlos auf seine Schenkel fallen.

»Aber das ist doch toll!«, rief ich begeistert, »mal was anderes: das Gegenteil von München!«

»Das ist doch das Problem«, kam es kleinlaut von ihm zurück und er sank noch tiefer in seinen Sessel.

Nun verstand ich gar nichts mehr. »Sei doch froh, immer das Gleiche ist doch furchtbar!«

Er fuhr in seinem Sessel hoch: »I bi aus Minga!«111, rief er und funkelte mich anklagend an. »I bin a Bayer!«

Ich zuckte mit den Achseln. Meine Mutter lachte wohlwollend. »Christof hat recht«, sagte sie milde, »das ist doch eine enorme Erweiterung deines Horizonts.«

»Erika!«, rief Heinz Höfl, »Du kennst mich doch jetzt lange genug, das halte ich nicht aus mit den Hamburgern!«

Langsam ging mir ein Licht auf. »Die können nicht richtig Deutsch sprechen«, bestätigte ich ihn lachend. »Das gilt aber auch für die Bayern und Sachsen!«

»Ach was!«, schimpfte Heinz Höfl, ärgerlich werdend. »Bayern ist meine Heimat, hier bin ich aufgewachsen, hier gehör ich hin!«

»Heimat?«, fragte ich entsetzt. Diesen Begriff kannte ich nur von den »Heimatvertriebenen«, den ganz Rechten, die sich einmal im Jahr trafen und die Rückeroberung der Ostgebiete forderten, Schlesier und ähnliche verkappte Nazis – ein solcher Begriff aus dem Munde von Heinz Höfl?

Meine Mutter lenkte ein. Nachdenklich sagte sie: »Ja ja, jeder hat seine Wurzeln, das ist schon wahr.«

»Menschen haben doch keine Wurzeln«, widersprach ich, »früher gab es Völkerwanderungen!«

»Das ist doch nur im übertragenen Sinne gemeint«, herrschte mich meine Mutter an, »sei doch nicht immer so pingelig, ich weiß gar nicht, woher du das hast!«

Ich zuckte mit den Achseln. »Man kann nicht was sagen und was anderes meinen. ›Heimat‹, ›Wurzeln‹ da kann ich nichts mit anfangen.«

»Man kann nicht über seinen Schatten springen!«, stellte meine Mutter abschließend fest, ungeduldig verärgert.

»Und was ist mit Lisl?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, es hatte eh keinen Sinn, mit meiner Mutter zu diskutieren, wenn sie so daherkam. »Bleibt sie dann in München?«

»Oh nein doch!«, rief Heinz Höfl lachend. »Dann wäre ja alles aus! Nein, nein – sie kommt mit – und wir werden heiraten.«

Eine Welt brach für mich zusammen.

Heinz und Lisl – das Beispielpaar, die beiden, von denen ich gelernt hatte, dass Heiraten das Gegenteil von dem erzeugte, was es behauptete, dass man um eine Liebe täglich kämpfen muss, dass nichts fest und sicher sein darf, sie machten eine Kehrtwende? Heinz Höfl, das Vorbild, die Leitfigur, der Mann, der zeigte, dass es auch anders geht, dass man einfach nur damit anfangen musste, den neuen Weg zu gehen, dass es möglich war, das Alte hinter sich zu lassen – gab auf? Resignierte? Wurde nun selbst zum Spießer?

Tief betrübt sagte ich, dass ich meine Hausaufgaben machen musste, und verließ das Wohnzimmer.

Auf dem oberen Wohnzimmertisch lag die »Süddeutsche Zeitung«. Ich blätterte ziellos darin herum und blieb bei einem Artikel über Wassernot in Israel hängen. Raffinierte Techniker hatten Methoden entwickelt, jeden Tropfen Regenwasser zu retten, Meerwasser zu entsalzen und dreckiges Wasser zu säubern.

Hans Lamm hatte mir von den Kibbuzim in Israel erzählt. Dort lebten die Menschen in einer Gemeinschaft von Gleichen und teilten sich Arbeit wie Ertrag derselben. Man konnte sich ihnen anschließen, wenn man wollte, ich mit meiner jüdischen Herkunft allemal.

Vielleicht sollte ich in ein Kibbuz gehen, um endlich etwas wirklich Sinnvolles zu tun!

1967

Eines Tages kam der Schulsprecher vor Beginn der Lateinstunde zu uns in die Klasse, stellte sich grinsend neben den Schreibtisch des Lehrers und fragte: »Wer hat Lust, mit Helga Anders112 ins Bett zu gehen!?«

Es dauerte eine Weile, bis die Botschaft beim männlichen Teil der Klasse angekommen war. Helga Anders war der Traum eines jeden fünfzehnjährigen Jungenherzens, wunderschön, blond, schmollmündig mit traurig sehnsüchtigen Augen, in den entsprechenden Blättern wurde sie die »deutsche Brigitte Bardot« genannt. Entsprechend lautstark war das Gegröle, das mit Verzögerung ausbrach.

Mit dem Schulsprecher war eine schlanke, ebenfalls schöne junge Frau hereingekommen. Spöttisch amüsierten Blickes stand sie neben ihm und wartete ab, bis der Tumult abebbte. Dann klatschte sie in die Hände und sagte: »Mein Name ist Dagmar Hirtz113, ich bin hier im Auftrag der Rob-Houwer114-Filmproduktion: Wir suchen einen fünfzehn- oder sechzehnjährigen jungen Mann für die Hauptrolle in unserem neuen Film ›Tätowierung‹115«. Sie sah mit einem charmanten Lächeln auffordernd in die Runde. »Unser Produktionsbüro liegt hier gleich um die Ecke in der Victoriastraße«, fuhr sie fort. »Wer von euch Lust hat, kann sich melden – wenn der Typ passt, notiere ich mir eure Namen und ihr kommt um vierzehn Uhr zu uns rüber: dann machen wir Probeaufnahmen.«

Hauptrolle? Helga Anders? Ich?

Eigentlich wollte ich mit der Schauspielerei und der ganzen Theater- und Filmbranche nichts zu tun haben. Ich versuchte gerade, neben der Schule eine Ausbildungsstelle als Schreiner zu ergattern, um etwas Handfestes zu lernen, das man anfassen und gebrauchen konnte – und um das nicht so ein weihevolles und wichtigtuerisches Gewese gemacht wurde wie um die Kunst. Aber als mein Schulkamerad Hansi Kraus116 die Hauptrolle in der Verfilmung von Ludwig Thomas »Lausbubengeschichten117 spielen durfte, war ich durchaus ein wenig eifersüchtig gewesen – obwohl ich natürlich niemals in einem solchen Schmarrn hätte mitspielen wollen! –, und als Volker Schlöndorff118 in der Turnhalle des Maxgymnasiums eine Szene für seinen Film »Der junge Törless«119 drehte, hätte ich mich auch lieber im Mittelpunkt des Geschehens gesehen, als von irgendwelchen Hilfskräften als Komparse herumgescheucht zu werden.

Also warum es nicht versuchen? Was hatte ich zu verlieren? Andererseits: wenn sie mich nicht nehmen sollten, wäre die Enttäuschung groß!

Fast alle Jungs meldeten sich. Da konnte ich mich nicht zurückhalten. Das hätte ja wie Feigheit ausgesehen.

Der Regisseur Johannes Schaaf120 war ein rundlicher, gemütlicher Mann mit einem gewaltigen Schnurbart. Wir mussten alle – fast die ganze Klasse war gekommen – an ihm vorbeidefilieren und er nickte oder schüttelte den Kopf, was er bei den meisten tat. Auch als er mich sah, schüttelte er den Kopf.

Aber da widersprach Dagmar Hirtz. Sie sagte etwas zu ihm, daraufhin sah er erstaunt zu mir und lachte: »Ich kenn dich! Aus Ulm – da warst du noch ein kleiner Bub! Ich hab sogar noch deinen Vater kennengelernt.« Aber er blieb bei seinem Nein. Daraufhin nahm Dagmar Hirtz ihn auf die Seite und redete heftig auf ihn ein. Als sie zurückkamen, nickte er und ich sollte um achtzehn Uhr zu Probeaufnahmen kommen.

Da ich mir nach Schaafs Reaktion nicht mehr viel Hoffnungen machte, nahm ich meine Gitarre mit und als ich vor laufender Kamera »einfach irgendwas machen« sollte, spielte ich »einfach« irgendwelche Griffe und grölte dazu – sollten sie doch davon halten, was sie wollten.

Nach zehn Tagen quälerischen Wartens, während derer ich selbst nicht wusste, was ich mir wünschen sollte, kam endlich der Anruf, ich solle ins Produktionsbüro kommen. Dagmar Hirtz zwinkerte mir verschwörerisch zu. Johannes Schaaf lächelte mich an, hob aber den Zeigefinger:

»Bilde dir bloß nichts darauf ein, dass du die Rolle bekommst. Das hast du nur deinem asymmetrischen Gesicht zu verdanken.«121

Mir war das schnurzpiepegal – ich hatte alle anderen Klassenkameraden aus dem Rennen geworfen und freute mich auf die Filmpremiere.

Vorher musste allerdings der Film selbst gedreht werden und die Dreharbeiten waren eher langweilig. Schnell wurde mir klar, dass Filmschauspielerei vor allem aus Warten bestand. So hatte ich die Möglichkeit, mir in Ruhe anzusehen, wie dieser bunt zusammengewürfelte Haufen Menschen miteinander arbeitete.

Es war einerseits völlig anders als beim Theater – wenn man eine Szene erarbeitet und gefilmt hatte, war sie »gestorben«, was ich gut fand, weil sie am Theater erst dann lebendig wurde und endlos langweilig wiederholt werden musste –, aber andererseits genau das Gleiche, fast noch härter: die absolute Hierarchie. Über allem schwebte der Regisseur – von einer Sekunde auf die andere konnte er das Gegenteil von dem wollen, was er eben noch gesagt hatte und alle mussten spuren. Taten sie es nicht, wurde, wenn sie der oberen Kaste angehörten, also Kameramann, Kostümbildnerin, Requisiteur oder Assistentin waren, eventuell noch diskutiert, waren sie untere Chargen, wurden sie niedergemacht, angeraunzt, verhöhnt.

Johannes Schaaf war zwar freundlich, leise und bestimmt, aber wen er auf dem Kieker hatte, fertigte er ab wie den letzten Dreck. Vor allem Ulrike, die junge Frau, die alles, aber auch jede letzte Kleinigkeit, zum Beispiel, wie herum man bei der letzten Aufnahme die Hand gehalten hatte, aufschreiben musste – »Script Girl« wurde sie genannt –, behandelte er wie eine Sklavin. Zu mir waren alle freundlich, aber ich wusste genau, dass das nur so war, weil ich die Hauptrolle spielte.

Am ersten Tag drehten wir in einem Hallenbad. Ich musste nur schwimmen, tauchen oder irgendwohin gucken und hielt mich in den Wartepausen gerne in der Nähe von Dagmar Hirtz auf. Sie nahm sich Zeit, mir vieles zu erklären, obwohl sie als Regieassistentin und spätere Cutterin für alles gleichzeitig zuständig war; aber das erledigte sie wie mit dem kleinen Finger, fast nebenbei. Sie war neben dem Kameramann die einzige, von der Schaaf sich etwas sagen ließ.

Alle anderen Besucher des Hallenbads waren von der Filmfirma bestellte Statisten, auch Komparsen genannt; das Schwimmbad war an diesem Tag geschlossen. Dagmar war als Regieassistentin dafür zuständig, was sie im Hintergrund zu tun hatten, sie musste sie arrangieren. Das tat sie aber nicht direkt im Gespräch mit den Komparsen, sondern dafür war wiederum die Komparsenführerin122 zuständig; eine griesgrämige, strenge Frau namens Claudia.

»Wär das so recht?«, fragte die strenge Claudia und wies auf einen kleinen dicken Mann, der mit seiner Badehose etwas verloren neben ihr stand und Dagmar erwartungsvoll angrinste.

»Aber ich habe doch gesagt, wir brauchen einen hageren, knochigen etwa Siebzigjährigen!«, rief Dagmar verärgert. »Ist das nicht angekommen?«

Die strenge Claudia zuckte unwirsch mit den Achseln: »Haben wir nicht.«

Dagmar drehte sich zum Kameramann um und deutete auf den Dicken in der Badehose.

Der Kameramann schüttelte den Kopf.

»Sekunde«, sagte Dagmar und ging zu Schaaf.

Kurz darauf kam sie zurück und sagte zu mir: »Wir stellen jetzt um und drehen erst einen Take, in dem du nicht drin bist.«

Dann wandte sie sich an die strenge – und inzwischen auch saure – Claudia und sagte scharf: »Du besorgst so schnell es geht, was ich dir gesagt habe: einen hoch aufgeschossenen, hageren, etwa siebzig Jahre alten Mann, dem die Schulterknochen rausstehen als hätte er Flügelchen, hast du das verstanden?«

Die so Angesprochene trollte sich und Dagmar eilte zu Schaaf.

Ich lief ihr nach und rief: »So kann man doch nicht über Menschen reden!«

Sie lächelte mich gequält an und wollte Schaaf ansprechen, aber ich hielt es nicht aus und fügte hinzu: »Das klingt ja wie die Bestellung von einem Stück Fleisch beim Metzger!«

»Was?«, fragte Schaaf.

Über meine Erklärung schien er amüsiert.

»Wir sind hier nicht bei der Heilsarmee«, fertigte er mich ab, »außerdem wird hier jeder für seine Arbeit bezahlt.«

Etwas später kam Dagmar noch einmal zu mir. »Ich verstehe, was du sagen willst«, sagte sie, »aber das geht nicht anders.« Sie suchte nach Worten: »Die Bilder müssen im Gesamteindruck stimmen.« Sie hob hilflos die Arme: »Das würde blöd aussehen, wenn vorne im Bild dein Kopf aus dem Becken erscheint und hinten im Bild so ein Fettsack ins Wasser springt, das würde lächerlich, die ganze Atmosphäre wäre kaputt.«

Tatsächlich erschien kurz darauf ein hagerer, knochiger alter Mann, der die Aufgabe hatte, hinter mir etwas unbeholfen ins Schwimmbecken zu springen. Ich fragte, wie viel Geld er bekam – ein paar Mark dafür, dass er lange frierend herumstehen und sich dann öffentlich erniedrigen musste. Wahrscheinlich bekam er nur wenig Rente und hatte keine andere Wahl.

Ich wusste, dass dies nicht meine Welt werden würde.

Am Savignyplatz nicht weit von meiner Pension gab es eine Kneipe mit dem Namen APO-Theke. Das APO stand für »außerparlamentarische Opposition«123 und damit waren alle diejenigen Leute gemeint, die mit der kürzlich ins Leben gerufenen »Großen Koalition«124 aus CDU und SPD nicht einverstanden waren, die Demokratie in Gefahr sahen, weil es keine Opposition mehr im Parlament gebe. Man kritisierte vor allem den Krieg in Vietnam125, den die Amerikaner führten, die ja bei uns in Bayern auch das Sagen hatten. Sie, die immer von Demokratie und Freiheit redeten, bombardierten die unschuldige Zivilbevölkerung! Das war letztlich Völkermord und stand in krassem Widerspruch zu dem, was offiziell behauptet wurde. Der Protest dagegen war weltweit – Donovan hatte das in seinem Song »Universal soldier« ganz konkret angegriffen!

Im Prinzip war die APO-Theke einfach eine Studentenkneipe, und eines Abends nach dem Drehen ging ich dorthin in der Hoffnung, mit Studenten ins Gespräch zu kommen. Es war eine ähnliche Stimmung wie bei den Schwabinger Krawallen vor ein paar Jahren, aber viel grundsätzlicher.

Ich stellte mich an die Bar und trank sogar ein Bier, obwohl ich erst fünfzehn war. Aber keiner beachtete mich. Sie diskutierten, stritten, soffen und rauchten. Bald gab ich es auf.

Neben der APO-Theke war ein Puff. Auf den Steinsimsen des alten Berliner Bürgerhauses saßen Nutten in kurzen Röcken. Eine pfiff nach mir:

»Na Kleiner, willste mal lernen, wie’s geht?«

Ich floh.

Die Einzige, mit der ich mich wirklich befreundete, war Rosemarie Fendel126, die meine Ziehmutter spielte. Sie war schön, witzig und stark – selbst von Schaaf, mit dem sie befreundet war, ließ sie sich nichts vorschreiben; das wichtigste Kleid, das sie im Film trug, wurde für unglaublich viel Geld von einem italienischen Star Couturier extra für sie geschneidert, Rob Houwer war schier in Ohnmacht gefallen, als er hörte, wie viel es kostete, aber er war machtlos gegen sie.

Vor allem war sie ehrlich – sie war die Einzige, der ich bedingungslos glauben konnte.

Sie brachte mir nicht nur das Film-Spielen bei, sondern sie kümmerte sich auch nach dem Drehen um mich. Vor allem an den Wochenenden, wenn ich alleine in meiner Berliner Pension herumlungerte und mich langweilte, machten wir Ausflüge oder sie ging mit mir Minigolf spielen. Meist lud sie mich dann noch zum Essen ein und so konnte ich bald wirklich über alles mit ihr reden.

Deshalb erzählte ich ihr auch einmal, über meinen Minigolfschläger gebeugt, mich ganz auf das nächste Loch konzentrierend, dass ich gesehen hatte, wie Johannes Schaaf am Abend zuvor in der Halle des Hotels, in dem das Team wohnte, ausgerechnet Ulrike, das »Script Girl«, die er am Set, wie der Drehort genannt wurde, immer zur Sau machte, geküsst hatte! Ich kam mir zwar vor wie eine Petzliese, aber ich fand diese Doppelmoral unerträglich, mein Respekt vor ihm erlitt deutliche Einbußen.

Rosemarie lachte. Es klang etwas bitter, mehr aber spöttisch. »Meinst du, ich weiß nicht, dass er mit der ins Bett geht?«, fragte sie. »Die Männer sind alle gleich!«

Ich war erleichtert, dass ich doch nicht gepetzt hatte. »Aber warum lässt Ulrike sich das gefallen?«, fragte ich, denn dass sie dieses verlogene Spiel mitmachte, fand ich noch unbegreiflicher, als dass Schaaf seine Position als Regisseur ausnutzte – und so attraktiv war er als Mann nun auch wieder nicht!

»Die Frauen sind auch alle gleich«, antwortete Rosemarie, stützte sich auf ihren Minigolfschläger und sah mich milde lächelnd an. »Das wirst du schnell merken, mein Lieber. Sie rennen immer dem Gockel nach, der am lautesten kräht.«

»Ich glaube nicht, dass ich weiter Schauspieler bleiben will«, sagte ich und schlug meinen Ball so hart, dass er weit über das Ziel flog, »dieses Rumgetue ist mir zu blöd.«

»Kann ich gut verstehen«, stimmte Rosemarie mir bei, »dabei geht es hier in unserem Team noch einigermaßen gesittet zu!« Sie schüttelte den Kopf, während sie sich auf ihren Ball konzentrierte. Dann ließ sie nochmal davon ab und sagte: »Mein Mann meinte, er müsse immer mit den Frauen, mit denen er im Film ins Bett gehen musste, dies auch außerhalb des Sets tun.« Dann schlug sie zu und traf direkt das Loch. Sie wandte sich wieder an mich: »Was meinst du, wieso ich geschieden bin?«

Für mich stand fest, dass ich nie wieder schauspielern würde und Rosemarie immer meine Freundin bleiben sollte.

Gegen Ende der Filmerei kam der Autor des Drehbuchs zu Besuch. Er hieß Günter Herburger127, bekam alles gezeigt und schüttelte dauernd den Kopf. Als er mich sah, war er entsetzt: »Das ist ja eine totale Fehlbesetzung«, rief er und zeigte mit dem Finger seines ausgestreckten Armes auf mich. »Ich habe mir Benno völlig anders vorgestellt!«

»Gut, dass du da nicht mitreden durftest«, entgegnete Johannes Schaaf lachend. »Christof macht das besser als alle anderen!«

»Jetzt ischs eh zu spät«, antwortete Herburger in seinem Allgäuer Dialekt und zwinkerte mir zu – ich mochte ihn auf Anhieb, weil er das ganze Brimborium nicht ernst nahm. »Isch eh alles gloga.«128 Und er hob den Finger, einen ganz wichtigen Professor mimend: »Kunst ist nur als Lüge Wahrheit!«

Endlich sagte es mal einer!

Je länger die Dreharbeiten dauerten, desto langweiliger wurden sie. Ich freute mich regelrecht darauf, wieder in die Schule zu dürfen. Was war doch ein Hötzl mit seinen ganzen nachvollziehbaren Ticks für ein vernünftiger, normaler Mensch gegenüber den Filmleuten mit ihrer unbegründeten Selbstgefälligkeit.

Trotzdem war ich am letzten Drehtag ein wenig traurig. Kein Minigolf mit Rosemarie mehr, kein selbständiges Essengehen mehr, kein Der-Wichtigste-sein und Vorne-und-hinten-verhätschelt-Werden mehr – ein wenig gefallen hatte es mir ja schon, das musste ich vor mir selbst zugeben. Aber die Vorstellung, die Schule aufzugeben und nur noch das zu machen: die Hölle.

Der Produzent Rob Houwer war zum letzten Drehtag gekommen und nachdem Johannes Schaaf das letzte »gestorben!« der letzten Klappe gerufen hatte, klatschte er in die Hände, stellte sich in die Mitte und bat alle, sich um ihn zu gruppieren.

»Ich will euch allen einfach nur ›danke schön‹ sagen«, nuschelte er in seinem holländisch gefärbten Deutsch. »Es war eine wunderbare Zeit, ihr habt alle fantastisch gearbeitet, und was ich an Mustern gesehen habe, beweist jetzt schon: Das wird ein ganz, ganz toller Film!« Alle lachten erfreut, manche johlten etwas aufgesetzt. »Ich will jetzt nicht alle Namen aufzählen«, fuhr er fort, »denn dann müsste ich wirklich jeden nennen, aber bei einem möchte ich mich doch besonders bedanken und das ist der Christof.« Diesmal waren es anerkennendes Gelächter und nicht ganz so aufgesetztes Gejohle. »Er ist der Jüngste von uns allen, hatte die größte Rolle und du«, schloss er, indem er sich mir zuwandte, »hast tapfer durchgehalten: Du bist ein wunderbarer Schauspieler!«

Das ging dann doch ans Herz und ich musste mich stark zusammennehmen, dass mir nicht die Tränen kamen. Und während alle aufbrachen, die meisten vom Team in Privatautos, die Schauspieler mit den beiden Produktionsfahrern, die uns nun sechs Wochen lang jeden Tag zum Drehort gebracht und uns von ihm abgeholt hatten, ging ich nochmal eine Runde durch die alte stillgelegte Mosaikfabrik, in der wir gedreht hatten. Ich sah in das Zimmer, in dem wir die dramatische Bettszene mit Helga gedreht hatten, an der beinahe der Film gescheitert wäre, weil ich am Anfang total verklemmt war, die aber dann dank Rosemaries schauspielerischen Tipps ein Highlight geworden war; ich ging an dem Tisch vorbei, an dem ich sechzehn Spiegeleier hatte essen müssen, weil die Szene sechzehnmal wiederholt worden war; und als ich ins Freie trat, sah ich auf den Zaun, hinter dem die Mauer zur Ostzone zu sehen war, an der wir einmal nachts ein Feuerwerk veranstaltet hatten.

Ich blickte in die Runde, den Fahrer suchend. Normalerweise stand er immer im Hof und rauchte, weil wir endlos warten mussten, bis Rosemarie fertig war. Niemand zu sehen, auch der andere Fahrer nicht. Überhaupt nur noch Techniker, die ihr Gerät in die LKWs verluden. Vielleicht warteten die Produktionsfahrzeuge draußen, damit die Techniker beim Schleppen freien Weg hatten. Aber auch vor dem Eingangstor kein Auto!

»Was machst du denn noch hier?«, fragte mich Picco, mein Lieblingsbeleuchter, der so hieß, weil er so klein war, und mit dem ich mich auch manchmal nach dem Drehen getroffen hatte.129

»Wo sind denn die Fahrer?«

»Die sind alle weg!« Er blieb stehen und sah mich nachdenklich an. »Ham die dich etwa vergessen?«

Er nestelte sein Walkie-Talkie vom Gürtel und funkte den Aufnahmeleiter an, der bisher immer höchstpersönlich überwacht hatte, dass jeder in dem ihm zugewiesenen Wagen saß. Aber der war schon außerhalb der Reichweite des Walkie-Talkies.

»Du kannst mit mir mitfahren«, sagte Picco, mich mitleidig ansehend, »wir sind gleich fertig.«

Das saß. So sah die Wahrheit aus. Solange man mich brauchte, war ich alles, der Erste, der Mittelpunkt – sobald man mich nicht mehr brauchte, war ich nichts, der Letzte, aus dem Auge, aus dem Sinn: vergessen.

Wieder zuhause malte ich an die Innenseite der Tür meines Zimmers im Elternhaus einen riesigen Wasserhahn. Nach all diesem Irrsinn sollte er mich jeden Tag daran erinnern, was die wirklichen Probleme der Welt waren.

Meine Besucher dachten, es handele sich um Kunst.

»Die meisten Menschen haben kein sauberes Trinkwasser«, klärte ich sie auf, »deswegen verrecken sie elendiglich, während wir unsere Scheiße mit Trinkwasser runterspülen.«

Kurz darauf fand das jährliche Sommerfest meiner Alten statt. Wieder kamen diese ganzen »Gscheidles130« anmarschiert, brachten Blumen, Wein und Pralinen mit und kamen sich alle ganz toll vor. Sie waren ja durchaus ganz nett und vor allem oft ziemlich witzig – aber dass sie so unkonventionell und anders waren, wie sie von sich behaupteten, nahm ich ihnen schon lange nicht mehr ab.

Obwohl die Sonne am weißblauen Münchner Himmel aus voller Kraft strahlte, saß ein harter Kern Diskutanten im Wohnzimmer am langen massivhölzernen Couchtisch und sprach trotz der frühen Stunde bereits kräftig dem Alkohol zu. Zwei Wände des länglichen Raumes waren von oben bis unten mit Bücherregalen bestückt, alle mit durchgehenden Brettern, alle in gleicher Höhe, die Bücher oft in Zweierreihen und quer darüber gequetscht. In der Mitte der Längsseite gab es unten einen Durchbruch zum Elternschlafzimmer, durch den der Fernsehapparat, in den sie abends immer glotzten, geschoben werden konnte, wenn es etwas gab, das die ganze Familie sehen durfte oder sollte, was fast nie vorkam.

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