Kitabı oku: «Teufelsgasse», sayfa 2

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Da war es besser, selbst in der zweiten Reihe zu sitzen. Das Tageslicht hellte die Gesichter der anderen auf, sein Gesicht blieb im Schatten. Jahrzehnte schon saß er hier, er hatte Kolleginnen und Kollegen aus nahezu allen Redaktionen kommen und gehen sehen. Als in Griechenland die Obristen ihre Militärdiktatur eingerichtet hatten und das Land terrorisierten, beobachtete er einen griechischen Kollegen, der mit seinem Redaktionsteam die griechischen Sendungen des Ausländerprogramms gestaltete. Der Kollege wirkte stets gehetzt, immer auf dem Sprung, ein elegant gekleideter, gutaussehender Mann in den besten Jahren, blass im Gesicht. Hatte er, später als die anderen zur Konferenz gekommen, seine Themen für die Abendsendungen vorgestellt, eilte er auch schon wieder davon. Das griechische Regime hatte in ihm einen Feind erkannt, den es zu bekämpfen galt. Er war in höchstem Maß gefährdet. Nicht allen Beobachtern in Bayern gefiel, wie der Grieche ein Oppositionsradio gegen das Militärregime im öffentlich-rechtlichen Rundfunk betrieb. So hatte er an vielen Fronten gekämpft, gelegentlich auch im eigenen Sender: nicht militärisch gedacht, sondern im Sinn einer zivilen Courage. Wolff und der Grieche hatten sich immer sehr geschätzt, sie hatten ihren Draht zueinander gefunden, auch wenn sie sich meist nur flüchtig im Funkhaus begegnet waren. Er hatte doch tatsächlich dessen Namen vergessen.

Wolff wusste nicht, weshalb ihm gerade jetzt diese Geschichten einfielen.

Viele Jahre später, längst war der Spuk des Militärregimes beendet und sein Kollege wieder zurück in Griechenland, war er an einem Morgen vor seiner Haustüre in Athen erschossen worden. Wolff hatte diese Nachricht wie ein Blitz getroffen.

Er holte sich im Vorzimmer eine frische Tasse Kaffee.

Er erinnerte sich an andere Ereignisse in der Redaktionskonferenz. Damals hatte es eine sehr eigenartige, wenig praktizierte Tradition gegeben: Wenn ein besonderes Bonmot von einem der Teilnehmer in die Runde geschleudert wurde, reaktionsschnell und treffsicher, legte jeder einen Pfennig auf den Tisch vor dem Urheber: eine ehrenvolle Anerkennung seiner Schlagfertigkeit. Als er die Themen seiner Jugendredaktion vorgetragen hatte und sie gegen Einwände aus der Runde verteidigte, zischte der Chefredakteur ihm ein »Ihren Kopf möchte ich nicht haben!« entgegen, woraufhin Wolff wie aus der Pistole geschossen, ohne eine Sekunde nachzudenken, zurückgab: »Mut zur Schlichtheit, Herr Kollege!«. Das hatte ihm 34 Pfennige eingebracht.

Als unter dem Vorgänger des Chefredakteurs ein Disput mit dem Hörfunkdirektor darüber entstanden war, ob unter die deutsche Vergangenheit ein Schlussstrich gezogen werden müsse, um nicht ewig über die deutsche Schuld zu lamentieren, entwickelte sich daraus ein heftiger Streit am runden Tisch. Und als sich Direktor und Chefredakteur in immer eisigerem Ton ineinander verhakten, sagte der Chefredakteur plötzlich ganz leise: »Sie waren damals in der Legion Condor, ich in London im Widerstand.« Das war alles. Die Diskussion erstarb. Er stand auf, und mit ihm erhoben sich alle Kolleginnen und Kollegen und verließen den Raum.

Oder als ein freiberuflich tätiger Musikmoderator der Jugendredaktion in seiner Clubsendung einen Musiker mit seinem neuen Song »I am drinking my own sperm« vorstellte und ihn fragte »You did it?« und der ihm geantwortet hatte »I did it, truely!« war am Tag nach der Sendung die Hölle los gewesen in der Redaktionskonferenz. Alle diskutierten über Pornographie und Ethik, die Verantwortungslosigkeit der Redaktion und ihren öffentlich-rechtlichen Programmauftrag, bis der Chefredakteur ganz lakonisch in die Runde blickte: »Wer noch nie onaniert hat, hebe bitte seinen Arm.« Die Diskussion war beendet.

Niemand wusste, was sich in einer kommenden Redaktionskonferenz ereignen würde. Wolff bereitete sich deshalb immer sorgfältig auf diese halbe Stunde vor und überlegte sich, welche Widerstände gegen sensible Themen aus den von ihm geleiteten Redaktionen kommen könnten und wie er den Vorbehalten begegnen konnte. Fiel ihm kein gutes Argument ein, bat er die Redaktion, das Thema noch zurückzustellen.

Sein Telefon mit der verdeckten Nummer klingelte. Hörfunkdirektion. Guten Morgen Al, ich verbinde dich mit dem Chef: »Wir sitzen gerade zusammen«, teilte der Chef ihm mit leicht zitternder Stimme mit, wir haben eben beschlossen, dass du den Nachruf verfassen wirst. Du kanntest ihn gut, und du schaffst es, den Beitrag schnell bis zur Mittagssendung zu schreiben.

»Worum geht es?«, fragte Wolff. »Wovon sprichst du?«.

»Steiger ist tot.«

»Steiger? Was?«

»Ja! Er wurde heute Morgen tot in Salzburg vor seiner Zweitwohnung aufgefunden.«

»Mehr ist nicht bekannt?«

»Nein. Bis jetzt nicht. Also. Du schreibst? Okay? Ich lese dein Manuskript nachher dann gegen. Um 11.50 Uhr musst du den Nachruf sprechen. Du kannst ihn aber auch live in der Sendung lesen.«

»Okay!«, sagte Wolff, »ich schaue mal, wie ich klarkomme«. Er legte auf.

Innerhalb weniger Sekunden war seine Tagesplanung weggefegt. Steiger? Undenkbar. Das kann nicht wahr sein. Die Nachrichten haben nichts gemeldet.

Mich hat vorher auch niemand zu erreichen versucht. Steiger? Wahnsinn. Wolff schaute aus dem Fenster. Aber er konnte nichts erkennen. Ein paar Minuten saß er so, und er sah nicht, dass ein großer Raubvogel und eine Krähe einen Luftkampf in großer Höhe führten. Immer wieder stieß die Krähe von unten gegen den größeren Gegner vor, umkreiste ihn, stürzte sich auf ihn, bis der Raubvogel erst zögernd, dann endgültig abdrehte. Aber Wolff sah nichts. Er sah auch nicht, dass weit oberhalb des Zweikampfs der beiden Vögel ein vereinzelter Mauersegler in Ellipsen den Fönhimmel über München durchschnitt. Endlich, endlich war ein Mauersegler zurückgekommen. Anfang August würde er wieder in den Süden Europas aufbrechen oder nach Afrika.

3

Ich – Steiger.

Ich bin ein Mensch, der einen guten Job macht.

Nein, ich glaube das nicht, ich weiß es.

Chefredakteure müssen über ein eindeutiges Wertesystem verfügen, ohne Ideologie, ohne den Gedankenkrampf der linken Spinner, der Cannabis-Raucher, der Weltverbesserer, der mutlosen liberalen Romantiker, der Alt-68er und der Neu-68er.

Hinzu kommen die Gewerkschafter. Ich kann längst darauf wetten, wer von Ihnen als erster seinen Arm hebt, um die ewig-gleiche Negation gegenüber den von mir vertretenen Programmrichtlinien aufzusagen. In solchen Versammlungen kommt Todessehnsucht auf.

Wir sollten endlich darauf verzichten, in unseren Programmen Musik zu spielen, die meinen Hund zum Jaulen bringt. Weshalb auch so viele Neutöner in unserem Klassikprogramm statt Barockmusik oder auch – in Gottes Namen – Musik der Romantik, wobei ich die privat nicht hören will. Aber keiner hat den Mumm, diese Affenmusik zu stoppen.

Es ist schon notwendig, gelegentlich etwas grob mit den Woodstock-Haschern und den jungen Naiven umzugehen, damit sie endlich kapieren, dass ihnen der Rundfunk nicht gehört. Wir leben in Bayern, und in Bayern gibt es klare Regeln. Wir senden nicht, was uns gefällt: Wir senden, was dem Publikum gefällt.


Endlich war Steiger Chefredakteur und Leiter des Programmbereichs Politik, Wirtschaft und Aktuelles geworden. Das tat ihm gut. Nun könnte er eigentlich im aufrechten Gang durch die Flure im Funkhaus, im Bayerischen Parlament, in den Parteizentralen und in den Bierzelten gehen, aber er zog seinen Kopf immer noch zwischen seine Schultern, ganz so, als erwarte er einen Hieb auf sein kahlköpfiges Haupt. Der will geprügelt werden, hatte schon früher ein Kollege in einer Sitzung seiner Nachbarin zugeflüstert, der hat eine masochistische Prägung. Tatsächlich wurde Steiger in den Redaktionskonferenzen der Chefredaktion wie auch in den allgemeinen Konferenzen in den Debatten gröber, lauter, direkter attackiert als andere. Er rechnete sich dem um den Ministerpräsidenten gegründeten Verein für deutliche Aussprache zu.

Spitzte sich der Streit über Themen, Programmplätze für Sendungen und politische Entwicklungen im Freistaat Bayern zu, lebte Steiger auf. Er zog dann seinen Kopf noch tiefer ein – wie eine uralte Schildkröte, die mit wachen Augen aus einer halben Sicherheitsposition das Geschehen beobachtet, listig, misstrauisch, auf der Hut, aber ganz anders als junge Schildkröten, die vor jeder Gefahr ihren Kopf blitzschnell komplett in ihren Schutzpanzer zurückziehen.

Steiger fürchtete sich aber nicht. Er ging in Lauerstellung. Hatten sich in der Debatte sichtbare Lager gebildet und sich ineinander verhakt, bellte er dann meist zurück. Teilte aus. Stieß auch mal tumbe Parolen hervor. Er argumentierte selten, er behauptete. Die Welt ist kompliziert. Da bedarf sie solcher Klartext-Denker.

Dabei war er, wie Wolff schon früher festgestellt hatte, intelligent, gut informiert und dennoch Lichtjahre von jeder Intellektualität entfernt. Zudem war der Chefredakteur ein meisterhafter Netzwerker und Mitglied der »einzig-richtigen Partei in Bayern«, was ihn nicht hinderte, bei öffentlichen Auftritten über das Verfassungsgebot der Staats- und Parteienferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu schwadronieren und die Unabhängigkeit seines Senders gegenüber jeglichem Versuch einer Einflussnahme, komme sie von Parteien oder Interessensgruppen, heldenhaft zu verteidigen. Zu Wochenbeginn saß er aber wieder in der Parteizentrale. Man hatte sich dort ja viel zu sagen. Was spricht denn gegen einen Gedankenaustausch?


Ich – Steiger.

Ich weiß doch genau, dass die wichtigen Entscheidungen in der Rundfunkgebührenfrage und bei Personalbesetzungen für Führungsämter nicht im eigenen Haus, sondern in der Parteizentrale, in der Staatskanzlei und im Landtag getroffen werden. Da ist es doch völlig logisch, dass ich da lieber dabei bin, statt von außerhalb zuzusehen, was sich ereignen wird.

Mich nervt das Geschwätz von Parteiunabhängigkeit. Die Kolleginnen und Kollegen, die sich einer Parteimitgliedschaft verweigern, weil sie diese für Mitarbeitende im öffentlich-rechtlichen Rundfunk ablehnen, sind die schlimmsten. Sie sind Partei, sie sind knallharte Opposition in der Fraktion der Parteilosen. Da ist mir sogar ein Sozialdemokrat lieber, weil der berechenbar ist. Weil er verlässlich ist in seiner Ohnmacht. Es sind ja nicht die Dümmsten, die das Parteibuch der SPD besitzen.

Ich halte viel davon, große Projekte mit der Politik abzustimmen. Wir sind für Bayern da, nicht gegen das Land. Wir stehen doch glänzend da im Freistaat. Das soll uns erst einmal jemand nachmachen. Es gibt allerdings schon ein wirkliches Problem: Ich bin nicht der einzige, der sich der einzig-richtigen Partei zugehörigfühlt. Auf meiner Ebene gibt es noch zwei andere, die ständig um den Ministerpräsidenten und sein Kabinett herumschwänzeln – bei Parteitagen, bei Pressekonferenzen, an denen sie teilnehmen, ohne selbst zu berichten. Da muss man aufpassen. Aber ich glaube, dass ich die besseren Connections habe. Kopf einziehen und abwarten. Ihr werdet schon sehen, wo Ihr bleibt.


Im letzten Jahr hatte der Ministerpräsident zugesagt, sich in der Redaktionskonferenz den Fragen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus fast allen Redaktionen zu stellen. Die Tür des überfüllten Sitzungsraumes wurde geöffnet, und die Delegation trat ein. An der Spitze der Hörfunkdirektor, hinter ihm die massige Gestalt des Ministerpräsidenten, begleitet von seinem Persönlichen Referenten, der schwer an einem schwarzen Aktenkoffer trug. Neben ihm der Leiter der Pressestelle in der Staatskanzlei, blauer Zweireiher mit Weste, schließlich Chefredakteur Steiger. Heute hatte er sich für seinen Trachtenjanker entschieden, links unter dem Hirschhornemblem hatte er sich die Rosette des Bayerischen Verdienstordens eingeknöpft. Ihre weiß-blaue Auffächelung kontrastierte schroff mit den Grün-Rot-Leisten auf dem Stehkragen des hellgrauen Jankers, wies immerhin aber signifikant die Bedeutung des Chefredakteurs aus, der das Redaktionsgespräch moderieren sollte. Die Ordensrosette war weniger als optisches Signal für die Konferenz bestimmt als vielmehr für den Ministerpräsidenten und seine beiden Begleiter. Man war ja fast unter sich. Das galt es auch zu zeigen. Steiger knöpfte an jedem Morgen die Rosette des Verdienstordens in das Revers seines Tagessakkos, auch in karierte Jacken. Wenn für den Abend ein Empfang im Terminkalender vermerkt war, steckte der Chefredakteur die Rosette in den dunkelblauen Blazer. Der Orden war schließlich kein unverdientes Geschenk, sondern Ausweis für herausragende Leistungen, die er für den Staat und die Gesellschaft erbracht hatte.

Steiger zog seinen Kopf noch tiefer zwischen die Schultern, begrüßte die Gäste, verzichtete aber darauf, die anderen Führungskräfte des Hauses vorzustellen. Wer für ihn und die einzig-richtige Partei wichtig war, den hatte der Ministerpräsident schon in der Runde entdeckt und ihm oder ihr kaum merklich zugenickt. Wer auf der Fensterbank saß, musste noch enger zwischen seinen Nachbarn zusammenrutschen, weil Nachzügler kamen, für die es zunächst keinen Platz mehr zu geben schien. Die Luft im Sitzungszimmer wurde stickig, aber die Fenster durften nicht geöffnet werden. Darauf hatten die Sicherheitsbeamten, die vor der Tür warteten, zuvor ausdrücklich hingewiesen.

Die erste Frage in der Redaktionskonferenz stellte selbstverständlich der Chefredakteur. Der Hörfunkdirektor lehnte sich zurück, als ginge ihn die Veranstaltung nichts an. »Herr Ministerpräsident«, sagte Steiger, »können Sie zu Beginn, bevor wir die Fragerunde für die Redakteurinnen und Redakteure unseres Hauses eröffnen, vielleicht kurz ihren außenpolitischen Ansatz skizzieren? Sie sind ja bekannt dafür, einen anderen Weg zu verfolgen als die Bundesregierung …«

Der Ministerpräsident, dessen mächtiger Kopf direkt den Schultern zu entwachsen schien, pumpte sich auf, und er begann, seinen außenpolitischen Ansatz zu skizzieren, der ihn nachweislich von der völlig unfähigen Außenpolitik der Bundesregierung unterschied. Er dozierte, ohne eine Zwischenfrage zuzulassen, fast eine Stunde. Sein Ton wechselte zwischen einer sarkastischen, süffisanten und nicht frei von Selbstironie kolorierten Sprache und einem Stil der unterschwelligen Bedrohung und Einschüchterung, die all jenen galt, deren – falls überhaupt vorhandene – Intelligenz die Welterfahrung des Regierungschefs infrage stellen könnte.

Wir werden auf jeden Fall!

Sie sollen es bald begreifen!

Dann merkt es der letzte Depp im Land!

Wir in Bayern!

Geisteszwerge!

Ideologen und Verblendete!

Erkenntniskrüppel!

Verkümmerte Akademiker!

Kein Geschichtsbewusstsein!

Das Land säubern!

Zunehmend wurde die Unruhe in der Konferenz spürbar. Oskar Kokoschkas Lithographien an den Wänden des Sitzungszimmers boten kaum Ablenkung, es wurde Zeit, in die Redaktionen zurückzukehren, um die Mittagssendungen und die Produktionen des Nachmittags in den Studios vorzubereiten. Der Persönliche Referent des Ministerpräsidenten suchte in seinem Aktenkoffer einen Terminkalender. Er räusperte sich leise und flüsterte dem Regierungschef zu, möglichst zum Ende zu kommen. Die heutigen Termine in München und auch außerhalb der Landeshauptstadt waren bis weit in die Nacht hinein geplant, es wurde wirklich Zeit.

Steiger bedankte sich beinahe devot für das intensive Gespräch in der Redaktionskonferenz seines, nein: unseres Senders, erklärte, dass seine Kolleginnen und Kollegen endlich ihrer Arbeit nachkommen sollten, stand auf und rückte den Sessel des Ministerpräsidenten zurück, damit dieser seinen Platz verlassen konnte.


Ich – Steiger.

Ich fand es prima, als der Ministerpräsident seinen Persönlichen Referenten zusammenstauchte: Die Termine mache ich! Nicht Sie! Und zu mir sagte er: Ich komme noch mit in Ihr Büro. Ich muss mit Ihnen noch ein paar Personalien besprechen.

Ich bewundere heute noch den Ministerpräsidenten dafür, dass er über allen Terminen sein Lebensgefühl nicht vergaß. Wenn es ihm gefiel, dann saß er, und wenn er saß, dann saß er lang. Ich glaube, dass wir drei Flaschen Wein zusammen tranken. Es wurde 15 Uhr, es wurde 16 Uhr. Immer wieder steckte sein Persönlicher Referent den Kopf zur Tür herein und der Ministerpräsident verscheuchte ihn sofort: Absagen! Alles absagen! Da kann ein anderer hinfahren. Jetzt stören Sie nicht alle paar Minuten.

Wir waren uns in fast allem einig. Der Ministerpräsident war ausgezeichnet informiert über unser Haus und seine Führungskräfte, und ich schwöre, dass er dies alles wusste, bevor ich mich dazu äußerte. Irgendwann musste er doch ein wichtiges Telefongespräch führen, deshalb bot ich ihm den Sessel hinter meinem Schreibtisch an. Es war die Gelegenheit, endlich zur Toilette am Ende des Gangs zu eilen, dort aber standen die Männer seiner Sicherheitsgruppe und sagten: Die Toilette ist gesperrt: für den Ministerpräsidenten. Da musste ich denen erklären, dass ich als Chefredakteur sein Gastgeber sei, und dass ich auch sofort die Toilette wieder verlassen würde. Das akzeptierten sie. Aber beeilen Sie sich!

Als ich am Nachmittag den Ministerpräsidenten über die spiralförmige Treppe im denkmalgeschützten Empfangsgebäude des Funkhauses zum Haupteingang begleitete, entdeckten wir beide zeitgleich eine kleine Gruppe von Demonstranten auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Es war uns völlig egal, wofür oder wogegen diese Arbeitsverweigerer am helllichten Tag demonstrierten. Der Ministerpräsident flüsterte mir zu: Mit einem MG wäre dieser Spuk ganz schnell beseitigt. Dummerweise flüsterte er so laut, dass der Redaktionsleiter der Außenpolitik diese Bemerkung hörte und später in infamer Weise verbreitete. Das ist doch ekelhaft.

Ich weiß schon, weshalb ich diesen jüngeren, keineswegs schlechten Redaktionsleiter auf seinem Karriereweg ausgebremst habe. Du musst nur brutal draufschlagen, dann kommen sie später winselnd angekrochen. Na ja, zur blauen Stunde kommt er oft in die Chefredaktion und trinkt mit mir eine Flasche Wein. Das muss ja möglich sein unter Kollegen.


Wenn sie saßen, dann saßen sie sehr lang.

Sie stritten. Sie lachten. Sie wurden laut und sie wurden grob. Danach öffneten sie eine neue Flasche. Im Kühlschrank Steigers lagerten fast immer Flaschen mit dem Frankenwein »Würzburger Stein« aus der Staatlichen Weinkellerei in Würzburg und einige Flaschen »Hambacher« aus der Pfalz – ein Weißwein, der so rein war, dass eine große Menge getrunken werden konnte, ohne dass jemals eine wahrnehmbare Einschränkung der Trinker durch den hohen Alkoholkonsum beobachtet wurde.

In diesen Stunden wurden Programmstrukturen eingerissen und neu entwickelt, Personalentscheidungen revidiert und Mitarbeiter degradiert, Führungspositionen aufgeteilt und gegenseitige Vorwürfe vorgebracht: Je lauter, desto ehrlicher. Steiger liebte es, wenn sein Gegenüber ihn anbrüllte. Er erwiderte wenig, weil ihm nichts einfiel, aber er registrierte genau – mit eingezogenem Kopf und dem Blick von unten –, wer bei ihm saß. Steiger hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant. Nur manchmal wusste er nicht, wofür ein solches Gedächtnis nützlich war. Aber wenn er mit seinen Parteifreunden zusammensaß, verstand er, dass Erinnerungsvermögen und präzise Wahrnehmung ideale Voraussetzungen dafür sind, in den politischen und medialen Netzwerken zu überleben. Und darüber hinaus: nützlich und erfolgreich zu sein. Zum Wohl des Staates, der Partei und zum eigenen Wohl.

4

Salzburg erwacht.

Der Mönchsberg und der Kapuzinerberg sind noch verhüllt vom kühlen Morgennebel, der einst weiße Verputz der Mauern auf der Festung sieht leicht angeschimmelt aus, wahrscheinlich dunkel vermoost, noch hat sich über der Altstadt der Dunst aus Feinstaub und Lichtreflexionen nicht verzogen; tagsüber ist er fast unsichtbar, obwohl er auf den Dächern und dem Kopfsteinpflaster lastet, aber man gewöhnt sich daran. Man sieht nicht mehr, was man nicht sehen will. Tagsüber ist das Licht nicht so fahl wie jetzt am Morgen.

Der Mann ist vor einer Stunde aufgestanden. Nach einem kurzen Frühstück hat er seinen Kleinwagen beladen. Heute will er Pflanzen, Grassamen, Erde und den etwas brüchigen Picknickkorb zu seinem Garten bringen. Der Tag ist frisch und neu und dunstig, und es gibt viel zu tun.

Vom Parkplatz aus, der für die Kleingarten-Vereinsmitglieder von Amicitia Salzburg e.V. reserviert ist, trägt er in zwei voluminösen IKEA-Tragetaschen seine Sachen in Richtung seines Schrebergartens. Er geht vorbei an dem kleinen Wertstoffhof, in dem Gartenabfälle deponiert werden dürfen. Dort kann jeder Kleingärtner gelbe Säcke mit dem »Bodenhilfsstoff« Rindenmulch aus reiner Nadelholzrinde erwerben – abgepackte Füllmenge: 130 Liter. Verwendung: Abdecken von Beeten, Pflanzflächen aller Art sowie als Wegbelag. Wirkung: Verringert Unkrautwuchs, schützt vor Austrocknung, ist humusbildend, speichert Wärme, mildert und schützt vor Erosion. Rindenmulch soll in einer Stärke von zehn Zentimetern auf die Flächen aufgetragen und gleichmäßig verteilt werden. Dass sich die Schritte darauf, anders als auf den Kieswegen, akustisch bis zur Geräuschlosigkeit verlieren, steht nicht auf der Packung, aber dem Mann ist auch diese Eigenschaft des Beet- und Bodenbelags wichtig. Lärm zerstört das Vogelgezwitscher. Manche Kleingärtner haben handtellergroße, vogelhausähnliche Schachteln erworben – sogenannte Zwitscherboxen –, die Frontseite in Holz oder aluminiumverkleidet, die jede Bewegung im Umkreis registrieren. Dann zwitschern die gespeicherten Vogelstimmen los. Die Apparate kosten fast 50 Euro. Es ist schwer, die auf einem Chip gespeicherten Vogelstimmen von dem lebendigen Zwitschern zu unterscheiden.

Der Mann geht durch die Watzmanngasse, die Edelweißgasse, die Rosengasse.

Einige Amicitia-Nachbarn haben Miniatur-Biotope angelegt. Beschützt von der Kunststoff-Folie am Teichgrund wächst Schilf, wachsen Gräser und Wasserpflanzen, sogar Seerosen. Im Sommer schwirren Libellen dicht über diesem See-Ersatz, hier und dort haben sich Molche, Frösche und Kröten niedergelassen, auch wenn der schlammige Grund viel zu dünn ist, um in ihm eingegraben den Winter zu überstehen.

Andere haben sich Brunnenattrappen hingestellt: aus Stein, Holz oder Metallbottiche. Einige haben sich für uralte Brunnenpumpen mit langen Hebelarmen entschieden, die aber kein Wasser mehr heraufpumpen, weil das Wasser nun aus der Leitung fließt. Wie Kaskaden hängen Blumentöpfe übereinander, oft mit Fuchsien bepflanzt, deren Blüten es nach unten drängt, sodass in der Fantasie rot-weiße Wasserfälle vorstellbar werden, und ihr Geplätscher, das an Hans Carossas Brunnen im Hof erinnert. Das immer wache Geplätscher nur vom alten Brunnen tönt.

Der Untersberg – obwohl im Dunst noch unsichtbar – ist ganz sicher auch in dieser frühen Morgenstunde da und steht wie seit Jahrtausenden herum, durchlöchert von Höhlensystemen, gefährlich für Bergsteiger, Hausberg der Salzburger. Vom Salzkammergut her weht inzwischen regelmäßig ein wärmerer Wind über der Salzach in die Stadt hinein. Etwas Fön wird den meisten Menschen guttun, jetzt ist es noch etwas klamm hier draußen. Es riecht nach frischem Gras und feuchter Erde. Der Mann hat gelesen, dass die Zitronenfalter mit einem Frostschutzsystem ausgestattet sind, das sie sogar leichten Nachtfrost ertragen lässt, aber noch sind sie nicht für ihren ersten Flug bereit.

Vor wenigen Tagen hat ein leichter Nachtfrost die blauen Hortensien mit ihren frischen Trieben welken lassen, inzwischen haben sich einige Blätter schwarz gefärbt. Der Mann stellt seine schweren Säcke ab, öffnet das hölzerne Gartentor und schneidet die angefrorenen Blätter ab, er beobachtet die winzigen grünen Pickel in den Hortensienstengeln. Vielleicht entstehen neue Triebe. Man braucht viel Geduld, denkt er, Gartenarbeit ist das Warten auf Entwicklung. Ich habe das inzwischen gelernt, denkt er.

Manche Kleingärtner umgrenzen ihren umhegten Boden mit höheren Drahtzäunen. Maschendraht, Jägerzaun und grüne Kunststoffzäune sind beliebt. Von seinem Gartennachbarn grenzt ihn nur ein kniehoher Holzzaun mit großen Abständen ab. Wegen der Igel, sagte der Nachbar.

Angeblich fressen die Igel die Population der Nacktschnecken. Die meisten sind rot-braun gefärbt, gelegentlich finden sich auch schwarze. Die Gartenfreunde haben sich sehr unterschiedliche Methoden angeeignet, um der Schneckenplage Herr zu werden. Ein Bekannter im Alpenrosenweg zerschneidet sie mit einem scharfen Messer. Ein anderer schwört darauf, die Nacktschnecken in Blechdosen zu sammeln und ordentlich Salz auf sie zu streuen. Am nächsten Morgen, wenn er den Deckel öffnet, existiert nur noch eine modrige Flüssigkeit, die er dann auf seinem Komposthaufen entsorgt. Es gibt noch andere Rezepte, mit der alljährlichen Schneckenplage umzugehen. Die Anpflanzung besonderer Kräuter, das Übergießen der Schnecken mit Bier, chemische Spezialmittel. Der Mann aber mag dies alles nicht. Auch Schnecken sind Natur, denkt er. Was können sie dafür, dass sie existieren? Mit einer kleinen Blechschaufel, die ein Kind in der Kleingartenanlage verloren hat, sammelt er die Nacktschnecken ein, schüttelt sie in eine Frischhaltebox, sucht nach Weinbergschnecken, groß und fett und markanter als die Nacktschnecken, füllt sie in eine andere Box und trägt sie zu einer kleinen Wiese, die außerhalb der Anlage liegt und seltsamerweise noch nicht als Baugrund ausgewiesen wurde. Sie werden wieder zurückfinden, die Schnecken, aber dafür brauchen sie viel Zeit. Das ist der ewige Kreislauf. So lange sie auf dem Weg mit ihrer Schleimspur sind, fressen sie seine Pflanzen nicht an. Und wenn sie doch früher zurückgefunden haben sollten, als er es berechnet hat, dann wird er sie wieder einsammeln und auf die Wiese zurücktragen. Den Weg in seinen Garten kennen sie dann schon. Und einige werden von den Igeln gefressen werden. Alles ist gut so.

Viele Nachbarn haben Insektenhotels aufgestellt, Bretterquadrate mit Bohrlöchern und Höhlen – die Wildbienen mögen das angeblich und auch die Holz- und Schlupfwespen. Ganz anders verhalten sich die Honigbienen, die von Blüte zu Blüte fliegen. Schwerarbeiter sind sie, und können oft kaum noch in ihren Bienenstock heimfinden, so sehr torkeln sie abends, wenn es kühl wird, mit ihrer Pollenlast nach Hause. Aber der Mann hat diese vermeintlich insektenfreundlichen Installationen aufmerksam untersucht. Sie alle schienen ihm unberührt von den Insekten zu sein. Sie haben ihre eigene Ordnung, denkt er, weshalb sollten sie diese Miniaturarchitekturen der Menschen annehmen? Jeder unregelmäßig aufgeschichtete Holzstoß ist ihnen lieber, er duftet nach Harz und Fichtenblüten, in den Rinden ist Platz, sich gegen Regen, Kälte und zu starke Sonneneinstrahlung zu schützen. Das hindert die Gartenfreunde im Kleingarten-Verein Amicitia Salzburg aber nicht daran, unter den Insekten-Hotels kleine Holzschilder anzubringen, die sie als nachhaltig und biologisch wertvoll ausweisen.

In diesem Jahr, so sieht es der Mann, haben sich die Primeln außerhalb seines Kleingartens, direkt am Zaun zur Teufelsgasse, weiter ausgebreitet. Auch die unterirdischen Netzwerke der Maiglöckchen haben ihn überlistet. Sie tragen die Farben des Gartens nach außen an den Wegrand. Eigentlich ist das nicht erlaubt. Vor wenigen Jahren wurde dies von der Aufsicht beanstandet; was draußen in den Kiesweg hineinwuchs, musste entfernt werden. Wo kämen wir denn hin, wenn das alle zulassen würden? Die Wege, die Gassen und Straßen der Gartenanlage glichen pflanzen- und keimfreien Zugängen zu den Parzellen. Selbst Zigarettenkippen, die in der Nähe eines Gartens gefunden wurden, musste der Kleingärtner einsammeln und in die Mülltonnen werfen. Bisher aber hatte sich niemand an den Primeln und den Maiglöckchen-Blättern gestoßen, die Zeiten waren anders und mit ihnen wurden die Regeln großzügiger als früher und weniger beachtet. Jede Blüte galt, wenn es sich nicht gerade um Geranien handelte, die für Nektar suchende Insekten nichts anboten, als besonders wertvoll. Mit dem Insektensterben durfte es ja nicht wie bisher weitergehen. In Bayern drüben hatte es die Initiative »Rettet die Bienen« sogar geschafft, dass ihre Forderungen in einen Gesetzentwurf der Staatsregierung aufgenommen worden waren: die Politik überholte das Bürgerengagement, adaptierte die Forderungen, setzte noch eins drauf und der Landtag stimmte dem Gesetzentwurf der Regierung zu. Man wusste dort sehr genau, woher der Wind bläst und wie er steht.

Der Mann weiß, dass zum Gießen das Wasser aus der Leitung zu hart ist. Mehrfach hat er die Werte gemessen und notiert. Eines Tages kaufte er einen Kunststofftank für Regenwasser, der einen Hektoliter fasste, montierte ihn hinter seiner Holzhütte, und legte von der Dachrinne der Hütte einen Ablauf direkt in den Tank. Seine Pflanzen gießt er seitdem mit dem weichen Regenwasser, das vor allem seinen Kakteen guttut. Einen Steingarten wie manche seiner Nachbarn hat er für seine Sukkulenten im Garten nicht angelegt. Im Humus Steine dafür aufzuhäufen und Kies aufzuschütten erscheint ihm pervers. Aber sollen die Nachbarn doch machen, was ihnen gefällt. Ihn stört das bis heute nicht.

Er schneidet überlange Triebe in der Hecke zurück, lüftet die Wurzelstöcke der Sommerfliederbüsche, die später ganze Heerscharen von Schmetterlingen anziehen, darunter Tagpfauenaugen und Admirale, Bläulinge und Kohlweißlinge, dann auch die Zitronenfalter und – wenn die Dämmerung kommt – die Flügelwesen der Nachtfalter: behaarte große und mottenähnliche kleine Insekten, die die Saugplätze der Tagesschmetterlinge einnehmen. Der Mann schaut dem Wechsel gerne zu. Bald ist es wieder so weit, denkt er, aber noch ist der Mai zu kühl.

Der Mann atmet die Morgenluft tief ein, es wird spürbar wärmer. Er hört das metallische Schleifen der O-Busse, die mit ihren Stromabnehmern die Zwischenräume der Oberleitungen an Kreuzungen überspringen müssen, ohne dass die Energiezufuhr unterbrochen wird. Vom Hauptbahnhof her weht das Quietschen von Eisenbahn-Waggons herüber, abgehackt sind – wie der Mann glaubt – Zwischentöne der Lautsprecheransagen von dort drüben zu hören. Die Stadt ist aufgewacht, sie lebt. Und nachher schieben sich wieder die Massen durch die Getreidegasse. Der Glockenschlag der Andräkirche bleibt verlässlich, nicht in seiner Gänze, aber im Stakkato einzelner Schläge dringt er bis in die Kleingartenanlage hinein. Es zieht ihn nicht in die Altstadt. Nicht mehr. Er fühlt sich als Fremder in den Gruppen der Touristen, die nichts sehen, aber alles fotografieren, um sich später zu Hause darüber zu wundern, was sie nicht in Wirklichkeit gesehen, sondern nur auf dem Screen festgehalten haben.

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