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4.2 Höflichkeit in Grammatiken des Deutschen
4.2.1 Thematisierungen von Höflichkeit
Höflichkeit ist kein genuin grammatisches Thema, steht aber doch in einem engen Zusammenhang mit sprachlichen, auch grammatischen, Strukturen. Die Grammatiken des Deutschen berücksichtigen dies in sehr unterschiedlicher Weise. Das kann man schon an der Häufigkeit der Verweise ablesen.
Wir haben einen kleinen Überblick auf der Grundlage einiger der am meisten rezipierten und wissenschaftlich fundiertesten Grammatiken erstellt. Dabei wäre natürlich zu beachten, dass jede Grammatik auf einem bestimmten wissenschaftlichen Ansatz aufbaut und teilweise auch eine spezielle Terminologie entwickelt. Wir können auf theoretische Unterschiede hier nicht eingehen und haben versucht, eine einheitliche Terminologie zu verwenden. Die folgende Tabelle zeigt, wie oft und in welchen Kapiteln Höflichkeit thematisiert wird. Sie beruht nur auf der Auswertung der Register und der Inhaltsverzeichnisse. Einige Nennungen wurden zusammengefasst – beispielsweise wird Höflichkeit in den Kapiteln verwendet, die verschiedenen Modalverben gewidmet sind; in der Tabelle fallen diese alle unter die Kategorie „ModalverbenModalverb“. Fälle, in denen Höflichkeit nur als Beispiel vorkommt, wurden nicht erfasst. Auf den ersten Blick ergibt sich ein Unterschied zwischen der Grammatik der deutschen Sprache (GdS, ZifonunZifonun et al. 1997) und allen anderen herangezogenen Texten: Die GdS enthält ein Kapitel, das mit „Sprecher-Hörer-Relation, personale Bezugnahme und Beziehungskonstitution“ überschrieben ist und jeweils ein Unterkapitel zu „Höflichkeit und Höflichkeitsformen“ bzw. „Selbstdarstellung, Partnerdarstellung, Beziehungskonstitution“ enthält. Höflichkeit wird hier vergleichsweise ausführlich diskutiert. In der Tabelle wird das zunächst nicht deutlich.
1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | gesamt | |
pronominale Anrede | + | + | + | + | + | + | 6 |
Konjunktiv Präteritum | + | - | - | + | - | + | 3 |
Höflichkeitsformeln | - | - | - | + | - | + | 2 |
Modalverben | - | - | - | + | - | + | 2 |
Infinitiv | - | - | - | + | - | - | 1 |
Possessivartikel | - | - | - | + | - | + | 2 |
Rhematische Pronominalisierung | - | - | - | + | - | - | 1 |
Superlativ | - | - | - | + | - | - | 1 |
Präpositionen | - | - | - | + | - | - | 1 |
Konjunktionen | - | - | - | + | - | - | 1 |
Partikel | - | - | - | + | - | - | 1 |
Satzarten | - | - | - | + | + | + | 3 |
Imperativ | - | - | - | - | + | - | 1 |
Gesamt | 2 | 1 | 1 | 12 | 3 | 6 |
Abb. IV.1: Thematisierung von Höflichkeit in ausgewählten Grammatiken des Deutschen. 1. Dudengrammatik, 2. EisenbergEisenberg 2006b, 3. HentschelHentschel/WeydtWeydt 2013, 4. WeinrichWeinrich 1993, 5. HelbigHelbig/BuschaBuscha 2017, 6. Zifonun et al.Zifonun 1997
Die zur Höflichkeit mit Abstand ausführlichsten Grammatiken sind Weinrich (1993) und GdS. In allen anderen spielt das Thema nur eine marginale Rolle. Ein Schwerpunkt liegt dabei im Bereich der pronominalen Anrede und der Verwendung von PossessivartikelnPossessivartikel (dein Buch vs. Ihr Buch). Diese werden von allen Grammatiken mit Höflichkeit in Verbindung gebracht. Das zweite Phänomen, dessen Regularitäten häufig mit einem Verweis auf Höflichkeit erklärt wird, ist der Gebrauch des Konjunktivs Präteritum. Auf diese beiden Strukturen werden wir später etwas genauer eingehen. Die anderen Zeilen der Tabelle zeigen, dass viele AutorInnen von Grammatiken Höflichkeit als morphosyntaktisch nicht besonders relevantes Thema ansehen – es wird dann wohl eher dem Zuständigkeitsgebiet der Pragmatik zugewiesen. Dennoch scheint es nicht ganz abwegig zu sein, auch grammatische Phänomene mit Verweisen auf deren Beitrag zur höflichen Beziehungsarbeit zu analysieren. Wenn man sich entscheidet, das zu tun, dann können sehr unterschiedliche Themen und Bereiche der Grammatik einbezogen werden – von der Wortbildung über die PersonaldeixisPersonaldeixis (pronominale Anrede) und Konjunktionen bis hin zu Satzarten.
Die AutorInnen der GdS geben eine explizite Definition von Höflichkeit:
Höflich sind Formen sprachlichen Handelns, in denen Belange des Adressaten (Selbstbild, Bedürfnisse usw.) qua Ausdruckswahl in einer Weise berücksichtigt sind, die das Erreichen des Handlungszwecks besonders befördert. (Zifonun et al. 1997, 934)
Höflichkeit wird hier dargestellt als die sprachliche Realisierung der Rücksichtnahme auf den/die HörerIn. Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass die AutorInnen davon ausgehen, dass man sich Höflichkeit nicht als Selbstzweck vorstellen sollte, sondern als Mittel, das einem Zweck dient: Wer höflich ist, erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass das eigentliche Ziel seiner Handlung (vielleicht jemanden von etwas überzeugen, einen Sachverhalt schildern etc.) erreicht wird. Sprachen beinhalten verschiedene, mehr oder weniger standardisierte Möglichkeiten, anderen zu signalisieren, dass man ihre Bedürfnisse, Interessen oder ihr Selbstbild respektiert. Einige dieser Möglichkeiten ergeben sich aus der obigen Tabelle. Die GdS führt dann eine Unterscheidung ein, die an diejenige von Leech erinnert, indem sie die Kontextabhängigkeit des Höflichkeitseffektes als Kriterium heranzieht:
Höflichkeitsformen im weiteren Sinne sind Ausdrucksformen, die nur im größeren situativen Rahmen in ihrer Funktion verstehbar sind. Höflichkeitsformen im engeren Sinne sind Ausdrucksformen, die relativ autonom, abgelöst von ihrer situativen Verwendung, in ihrer Funktion verstanden werden können. (Zifonun et al. 1997, 935)
Höflichkeitsformen im engeren Sinne sind sprachliche Strukturen, die als HöflichkeitsmarkerHöflichkeitsmarker standardisiert und quasi universell einsetzbar sind. Ein Beispiel wäre der Konjunktiv Präteritum einiger Modalverben oder die würde-Umschreibung bei anderen Verbtypen:
(1) Könnten Sie bitte diese Mail beantworten?
(2) Würden Sie das bitte dem Geschäftsführer sagen?
Die Verwendung solcher Formen führt in so gut wie jedem Kontext dazu, dass HörerInnen die SprecherInnen und ihre Äußerungen als höflich empfinden. Die Formulierung der GdS ist aus guten Gründen zurückhaltend, es wird von „relativ autonom“ gesprochen; die Verwendung dieser Verbform nähert sich dem Status einer hinreichenden Bedingung für Höflichkeit zumindest an. Bemerkenswert ist allerdings auch, dass in allen Beispielen gleich mehrere Höflichkeitsmarker verwendet werden: Neben dem Konjunktiv das Modalverb, der Satztyp (Fragesatz, um eine Aufforderung zu realisieren) und bitte. Welchen Anteil die jeweilige Form am höflichen Gesamteindruck hat, bleibt unklar.
Viele andere Beispiele aus der Tabelle sind weniger spezifisch, beispielsweise beim Gebrauch von Partikeln wie mal:
(3) Sag, was du vorhast.
(3‘) Sag mal, was du vorhast.
(3‘) ist demnach tendenziell etwas höflicher. Dabei wird sehr deutlich, dass – wie in vielen anderen Fällen – Höflichkeit nicht als Bestandteil der Bedeutung der jeweiligen Form beschrieben, sondern als eine Art sekundärer Effekt. Laut Weinrich (1993, 855) hat mal das semantische Merkmal „Unauffälligkeit“, ein Sachverhalt, der im Zusammenhang mit mal steht, verliert seine scharfen Konturen und nimmt eine vage Bedeutung an. Das wiederum ist dazu geeignet, einen Zusammenhang indirekt und damit höflicher anzusprechen. Höflich wäre demnach nicht direkt die Verwendung von mal, sondern die Signalisierung der Annahme unscharfer Konturen.
Ähnlich verhält es sich wohl mit der Negation eines Adjektivs mit dem Präfix -un. Im Gegensatz zum lexikalischen Antonym des Adjektivs schleift es die Konturen der Negation, nimmt der Verneinung die Schärfe und kann deswegen höflicher klingen. Mit einer doppelten Negation ist eine weitere Abschwächung möglich (vgl. dazu NeuhausNeuhaus 2016):
(4) eine kluge Bemerkung
(4‘) keine unkluge Bemerkung (oder eine nicht unkluge Bemerkung)
(4‘‘) eine unkluge Bemerkung
(4‘‘‘) eine dumme Bemerkung
Wenn man jemandem vorwirft, eine dumme Bemerkung gemacht zu haben, dann klingt das härter als die Version (4‘‘), auch wenn es streng genommen keinen Unterschied zwischen beiden gibt.
Der gleiche Effekt kann dadurch erzielt werden, dass Imperativsätze abgeschwächt werden, etwa durch die Verwendung von Infinitivformen, wie es in Kochrezepten üblich ist (vgl. Weinrich 1993, 281) oder dass sie ganz vermieden werden, indem Aufforderungen als Fragesatz formuliert werden.
Etwas anders verhält es sich mit dem Modalverb dürfen: „Man gibt mit dem Gebrauch dieses Modalverbs zu erkennen, dass man die Normen der Höflichkeit kennt und respektiert“ (Weinrich 1993, 303). Die Semantik von dürfen verweist auf Zwänge, Gebote oder Hindernisse:
(5) Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Hose schmutzig ist?
In diesem Beispiel bringt die sprechende Person zum Ausdruck, dass sie sich der Tatsache bewusst ist, dass es sich hier um einen unter Umständen unangebrachten, delikaten Übergriff in die Privatsphäre der hörenden Person handelt. S bittet H um Erlaubnis, das Gebot der Nichteinmischung unter diesen bestimmten Bedingungen verletzen zu dürfen und bestätigt gleichzeitig, dass er/sie das, was er/sie gerade tut, keineswegs für eine jederzeit problemlos realisierbare Handlung hält. Wie paradox das ist, kann man sich klarmachen, indem man sich eine negative Antwort vorstellt. Die sprechende Person tut etwas, wovon sie weiß, dass es unhöflich ist, signalisiert aber gleichzeitig, dass sie sich dessen bewusst ist. Insgesamt kann die Verwendung von Modalverben die kommunikativen Effekte mancher Äußerungen abmildern: „Das Modalverb macht z.B. aus Äußerungen, mit denen man Bitten realisieren kann, Äußerungen, mit denen man indirekte und somit konventionellerweise höfliche Bitten realisiert“ (TopszewskaTopszewska 2011, 107).
Neben der Abschwächung potentiell unangemessener Handlungen und der Betonung der Geltung von Höflichkeitsregeln wird als weiterer Effekt in diesem Zusammenhang der Ausdruck von Zuwendung angesprochen. Auch das bezeichnet Weinrich (2013, 505) als höflich. So weist er darauf hin, dass der Norm-Superlativ (beste Grüße, liebste Mutter) in der „Sprache der herzlichen und höflichen Zuwendung […] sehr gebräuchlich […]“ ist. Hier ist auch eine Entwicklung zum formelhaften Gebrauch deutlich zu erkennen. Wir befinden uns hier im Grenzbereich zwischen der Beschreibung der Verwendung grammatischer Formen und der Analyse idiomatischer Wendungen wie der Höflichkeitsformeln, auf die wir unten zurückkommen.
Der Blick in die Grammatiken (vor allem die von Weinrich) zeigt erst einmal, dass das Repertoire an Formen, die u.a. dazu verwendet werden, höflich zu sein, relativ groß und unspezifisch ist: Alle angesprochenen Strukturen haben eine einfachere „Grundbedeutung“ (z.B. Ausdruck von Möglichkeit, Unauffälligkeit, Negation usw.) und als mehr oder weniger standardisierte, institutionalisierte indirekte „Zusatzbedeutung“ den Ausdruck von Höflichkeit. Dabei ist nicht der Konjunktiv direkt höflich, sondern es ist höflich, etwas als Möglichkeit anzusprechen und das wird nun mal meistens durch den Konjunktiv ausgedrückt. Höflich ist es also nicht, eine Form zu verwenden, sondern Aussagen zu nuancieren, abzuschwächen, den PartnerInnen einen Entscheidungsspielraum einzuräumen, nicht aufdringlich zu sein oder Zuwendung zum Ausdruck zu bringen.
Es ist nicht immer klar, was zu den Höflichkeitsformen im engeren Sinne zu zählen ist und was nur im weiteren Sinne als Höflichkeitsform fungiert. Die Autoren der GdS sprechen daher auch von einem Kontinuum. Es reicht von Formen, die fast schon den Status einer hinreichenden Bedingung für die Realisierung von Höflichkeit haben bis hin zu solchen, die nur in speziellen Kontexten im Dienste der Höflichkeit stehen. Anders ausgedrückt: Es gibt verschiedene Grade der GrammatikalisierungGrammatikalisierung oder IdiomatisierungIdiomatisierung von Höflichkeit. Leech spricht hier von „pragmaticalizationpragmaticalization“ (vgl. dazu auch Watts 2003, 176ff.) und betont auch den diachronischen Aspekt des Zusammenhanges zwischen sprachlicher Form und Höflichkeitspotentialen:
Like grammaticalization, pragmaticalization is a process that takes place gradually over time, sometimes over centuries, sometimes over decades, leading to an expression’s idiomatization and eventual formal/phonetic reduction to a brief, often invariant or semi-invariant formula. (Leech 2014, 75)
Nach dieser Darstellung gibt es so etwas wie in Sprache geronnene Höflichkeit. Eine genauere Analyse solcher Strukturen ergibt also nicht nur einen Einblick in den Zusammenhang von sprachlicher Form und kommunikativer Funktion, sondern auch ein besseres Verständnis von Höflichkeit: Wenn man beschreiben kann, was genau und in welcher Weise grammatikalisiert, idiomatisiert oder pragmatikalisiert wurde, dann hat man zumindest eine tragfähige Hypothese über sprachlich und sprachwissenschaftlich relevante Eigenschaften von Höflichkeit.
Die Diskussion von konventionalisierten Formen sprachlicher Höflichkeit bietet einerseits ein theoretisches Potential und stellt andererseits eine empirische Herausforderung dar. Diese liegt in der Vielfalt und der Heterogenität des Untersuchungsgegenstandes. Schon die oben abgedruckte Tabelle zeigt deutlich, dass sehr unterschiedliche Phänomene auf den verschiedenen Ebenen der sprachlichen Organisation in den Blick genommen werden müssen. Auch Leech weist darauf hin: „The values of politeness are encoded linguistically mainly through the differing morphological, syntactic, and lexical resources of languages“ (Leech 2014, 105). Die Liste an Beispielen, die er hier anfügt, erinnert in weiten Teilen an die Tabelle oben: HonorifikaHonorifika, Modalverben, Personendeixis, Gebrauch (oder Nichtgebrauch) von Selbstbezeichnungen, DiminuitivDiminuitiv. Hier deutet sich darüber hinaus auch schon an, dass sich unterschiedliche Sprachen im Hinblick auf diese und andere Formen der Realisierung sprachlicher Höflichkeit stark unterscheiden können.
4.2.2 Pronominale Anredeformen
Die Thematisierung der pronominalen Anrede ist das einzige Kapitel, in dem in allen hier betrachteten Grammatiken auf Höflichkeit verwiesen wird. Das zeigt, dass es sich hier um einen der Bereiche handelt, in dem die Grammatikalisierung von Höflichkeit am weitesten fortgeschritten ist. Einige AutorInnen nehmen sogar an, dass die Grammatik neben Numerus, Tempus, Modus etc. für Verben auch eine Kategorie ‚RespektRespekt‘ vorsehen sollte und bringen dies mit dem Ausdruck von Höflichkeit in Verbindung (vgl. HaaseHaase 1994 und SimonSimon 2003). Höflichkeit ist hier in irgendeiner Form in die Sprache enkodiert, sprachliche Strukturen spiegeln soziale Strukturen und Ausdrucksbedürfnisse wider. Haase (1994, 14f.) führt aus, dass grammatische Strukturen in vielen Fällen am Ende einer Entwicklung stehen, die von der Ebene Text/Diskurs über Syntagmen (Phraseme, idiomatische Ausdrücke) bis hin zur Grammatik verläuft. Formen der pronominalen Anrede sind nach Haase als Strukturen zu verstehen, die im Übergangsbereich zwischen Lexikalisierung oder Idiomatisierung und Grammatikalisierung anzusiedeln sind – je nach Sprache mehr oder weniger weit grammatikalisiert:
Das Grammatikalisierungsmodell hat den Vorteil, keine scharfen Grenzen zwischen Grammatischem, Lexikalischem und Pragmatischem zu ziehen, vielmehr sind Übergänge zugelassen. Hinsichtlich höflicher und familiärer Bezugnahme kann ein Übergang zwischen grammatischem und lexikalischem Bereich festgestellt werden […]. (Haase 1994, 15)
Der Ursprung von sprachlichen Strukturen wie dem Anredesystem liegt also in der Besonderheit von Redekonstellationen, in Sprechsituationen oder Sprecherintentionen, die systematisch wiederkehren und sich daher in Form von lexikalischen, phraseologischen oder eben morphosyntaktischen Phänomenen niederschlagen. Im Falle der Anrede ist es unmittelbar einleuchtend, dass die Kommunikationsteilnehmer und ihr Verhältnis zueinander einerseits abgebildet werden:
Mit der Anrede charakterisieren Kommunikationsteilnehmer explizit das Verhältnis, in dem sie zueinander stehen. Dabei reflektieren gerade die Anredekonventionen als grammatikalisiertes pragmatisches Phänomen gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Veränderungen […] und werden daher häufig in ihrer Funktion als Indikator für soziale Verhältnisse, Wandelprozesse […] und auf ihre kulturelle Motiviertheit untersucht […]. (SchlundSchlund 2009, 59)
Andererseits konstituiert die Verwendung bestimmter Ausdrücke das Verhältnis der Interaktionsteilnehmer auch erst. Um es mit den Worten der GdS-AutorInnen zu sagen: „Kommunikatives Handeln ist immer auch Handeln in sozialen Beziehungsgeflechten. Diesen Beziehungen hat der sprachliche Ausdruck Rechnung zu tragen und gestaltet sie mit“ (Zifonun et al. 1997, 913). Anredepronomen gelten deshalb auch als Schnittstelle zwischen Pragmatik, Semantik und Syntax. Sie werden in der Pragmatik als personaldeiktische Ausdrücke beschrieben (vgl. z.B. EhrhardtEhrhardt/HeringerHeringer 2011, 21f. oder MeibauerMeibauer 2008, 13). Damit wird darauf verwiesen, dass Personalpronomen Funktionswörter sind, deren Bedeutung in einer Äußerung erst dann festgelegt werden kann, wenn der Kontext bekannt ist. Ein Beispiel:
(6) Ich bin Fußball-Weltmeister.
Der Wahrheitsgehalt des Satzes kann nur dann ermittelt werden, wenn man weiß, wer ihn ausgesprochen hat. Erst wenn diese Information, die nichts mit grammatischem Wissen zu tun hat, sondern nur in der betreffenden Sprechsituation ermittelt werden kann, gegeben ist, und man dann weiß, ob der/die SprecherIn berechtigt ist, so etwas zu behaupten, kann man sagen, ob das stimmt oder nicht. Entsprechendes gilt für die zweite Person:
(7) Du bist ein Idiot.
Auch hier kann man nur dann wissen, wer da so charakterisiert wird, wenn man die Gesprächssituation kennt und die angesprochene Person identifizieren kann. Grammatisches Wissen reicht nicht.
Die Personalpronomen konstituieren eine prototypische Sprechsituation, indem sie SprecherInnen, HörerInnen und Gegenstand der Unterhaltung (1., 2. und 3. Person) identifizieren, darstellen und von anderen möglichen Personen und Objekten abheben. Mithilfe der Personaldeixis wird das Sprechen sozial situiert, ohne SprecherInnen, AdressatInnen und Thema gäbe es keine Kommunikation. Die Anrede (wie auch der Selbstbezug des Sprechers oder der Sprecherin) ist also von fundamentaler Bedeutung für das Zustandekommen von Kommunikation.
Im Zusammenhang mit Überlegungen zur Höflichkeit geht es in erster Linie um die Auszeichnung der Angesprochenen, also um Ausdrücke, die deutlich machen, an wen die Botschaft gerichtet ist. Hier stehen SprecherInnen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Zunächst kann zwischen nominaler (Herr Müller, Frau Oberstudienrätin) und pronominaler Anrede (du, Sie) unterschieden werden. Die SprecherInnen haben die Wahl zwischen verschiedenen Optionen; ihre Wahl hat auch Auswirkungen auf die soziale Konturierung der Interaktion: Ein Gespräch, das mit Genosse Hoffmann begonnen wird, wird aller Wahrscheinlichkeit auf der Beziehungsebene anders verlaufen als eines, in dem der Sprecher seinen Partner mit Herr Dr. Hoffmann adressiert. Wir werden im Folgenden die nominalen Formen der Anrede nicht weiterverfolgen und uns vielmehr auf die pronominale Anredepronominale Anrede konzentrieren. Diese ist Gegenstand von vielen Arbeiten (z.B. KohzKohz 1982, BrownBrown/GilmanGilman 1960, BeschBesch 2000, Braun et al.Braun et al. 1986, SimonSimon 2003, KretzenbacherKretzenbacher 2010), deren Ergebnisse von den AutorInnen der Grammatiken mehr oder weniger explizit rezipiert wurden.
Die AutorInnen der GdS greifen den Unterschied zwischen nominaler und pronominaler Anrede auf und führen dann ihre Terminologie für Letztere ein:
Anredeformen gibt es viele […], aber es gibt im Deutschen nur zwei Anredemodi: den Du-Modus und den Sie-Modus. Die Hörer(gruppen)deixis du, ihr (samt den Flexionsformen) kennzeichnet (als ‚Balanceform‘) den Du-Modus, die nicht numerusdistinkte Hörerdeixis Sie (,Distanzform‘) den Sie-Modus. (Zifonun et al. 1997, 915)
Was hier „Du-Modus“ oder „BalanceformBalanceform“ genannt wird, heißt bei Weinrich (1993) „VertrautheitsformVertrautheitsform“; die „Distanzform (Sie-Modus)“Distanzform (Sie-Modus) nennt Weinrich ebenfalls „Distanzform“, viele andere Grammatiken (DudenDuden, EisenbergEisenberg, HentschelHentschel/WeydtWeydt, HelbigHelbig/BuschaBuscha) sprechen von der „HöflichkeitsformHöflichkeitsform“ und machen damit den Zusammenhang zwischen Anrede und Höflichkeit explizit. Die Tatsache, dass teilweise auch andere Termini verwendet werden, ist aber ein klarer Hinweis darauf, dass eine zu einfache Identifizierung von bestimmten Formen mit Höflichkeit nicht angemessen ist. Weinrich weist darauf hin, dass die Höflichkeit einer Äußerung nicht vorwiegend durch die Distanzform realisiert wird und dass die Bedeutung der Anrede mit Sie nicht vorwiegend darin liegt, Höflichkeit zu denotieren, sondern eher darin, eine soziale Distanz zwischen SprecherInnen und HörerInnen zum Ausdruck zu bringen und zu schaffen. Das erst wird unter Umständen als höflich empfunden: „Eine elementare Form der Höflichkeit, die auf Distanz beruht […], kann […] mit Pronomina zum Ausdruck gebracht werden, vorwiegend in der Hörerrolle“ (Weinrich 1993, 102).
Höflichkeit ist also eine Funktion der DistanzierungDistanzierung und kein unmittelbarer Effekt der Verwendung von Pronomen. Immer wieder wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der „Höflichkeitsform“ grammatisch um die 3. Person Plural handelt, und: „Mit der 3. Person schafft man Distanz (man schaut dem Gegenüber quasi nicht in die Augen) […]“ (Dudengrammatik, 267). Man verwendet den Plural, obwohl nur eine Person angesprochen wird. Das wird von einigen Autoren als „sozusagen semantisch abweichend“ (Eisenberg 2006b, 173) bezeichnet. Neben der Schaffung von Distanz hat das auch einen weiteren Effekt: „[…] man schreibt seinem Gegenüber Größe und Bedeutsamkeit zu […]“ (Dudengrammatik, 267) und erweist ihm „Respekt“ (Hentschel/Weydt 2013, 216).
Die Regeln für die Verwendung der Anredeformen sind dementsprechend vage: Weinrich weist darauf hin, dass Sie verwendet wird, „wenn kein spezifisches Sozialverhältnis besteht, das Vertrautheit rechtfertigt“ (Weinrich 1993, 104). Beim Du wird es noch unübersichtlicher: Die Vertrautheitsform wird im Gebet gegenüber Gott verwendet, gegenüber Kindern, manchmal (in Unternehmen wie Ikea) innerhalb von Institutionen oder Organisationen („Genossen-DuGenossen-Du“), gegenüber Freunden, Verwandten, in der Internet-Kommunikation usw. (vgl. HeringerHeringer 2009, 68). Darüber hinaus gibt es noch interessante Mischformen wie das „Hamburger Sie“ (Vorname und Sie) oder das „Münchener Du“ (Familienname und Du). Kohz fasst die Funktionen der Anrede zusammen:
1. Anredeformen bezeichnen jemanden. 2. Sie machen den Bezeichneten automatisch zum Angeredeten. […] 3. Sie ermöglichen es dem Sprecher, zwischen sich und dem Anzuredenden eine Relation herzustellen und für beide bestimmte Rollenzuweisungen vorzunehmen. (Kohz 1982, 21)
Die Aufzählung macht deutlich, dass alles, was mit Höflichkeit zu tun hat, nicht die einzige und auch nicht die wichtigste Funktion der Verwendung von Anredepronomen darstellt. Nur die dritte Funktion in dieser Aufzählung ist relevant, wenn gefragt wird, welchen Beitrag die Verwendung von bestimmten Anredeformen zur Einschätzung des Höflichkeitsgrades einer Äußerung leistet. Durch die Wahl des Pronomens bringen die SprecherInnen u.a. zum Ausdruck, wie sie das Verhältnis zu HörerInnen sehen oder gestalten möchten – oder, besser gesagt, einige Aspekte dieses Verhältnisses, denn natürlich kann die Komplexität sozialer Beziehungen nicht auf eine Wahl zwischen zwei Anredepronomen reduziert werden.
Darüber hinaus spiegelt die Regelhaftigkeit des Gebrauchs natürlich auch gesellschaftliche Strukturen wider, etwa in (sprach- und kulturspezifischen) Präferenzen und Regularitäten für die symmetrische vs. asymmetrische Verwendung der Anredeformen (vgl. LügerLüger 1992, 70ff.). Als asymmetrisch werden Situationen beschrieben, in denen eine Person die andere duzt, von dieser aber erwarten kann, dass sie mit Sie antwortet. Die GdS präzisiert noch weiter und spricht von vollreziprok, teilreziprok und nicht-reziprok: Vollreziprok heißt, dass alle Beteiligten die gleichen Anredepronomen verwenden. Von teilreziprok wird gesprochen, wenn teilweise identische Formen verwendet werden, etwa in Familien; hier ist es im deutschsprachigen Raum normal, dass Eltern und Kinder sich duzen, darüber hinaus die Eltern die Kinder mit Vornamen anreden, die Kinder aber den Vornamen der Eltern vermeiden – sie sagen Mama oder Papa. Nicht-reziprok wären die Anredekonventionen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen unter ca. 15/16 Jahren: Die LehrerInnen duzen, die SchülerInnen sagen Sie. Auch hier ist die Realität natürlich wesentlich komplexer als die sprachsystematisch vorgesehenen Möglichkeiten des Ausdrucks.
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