Kitabı oku: «RESET», sayfa 3

Yazı tipi:

Hannah

Du machst’s mir leicht.

Ich lieb dich so, so, so, so wie du bist.

Lemo, So wie du bist

Am 3. September 2002 erlebte ich den Höhepunkt meiner emotionalen Achterbahn. Ich saß im Kreißsaal unseres Krankenhauses, es war 5 Uhr morgens, Roswitha lag in der Badewanne und vollbrachte eine Leistung, die ich so nie davor und auch nie mehr danach miterlebt habe. Jeder Muskel in ihrem Körper gebar unser gemeinsames Kind, die Intensität einer Geburt war das eigentliche Wunder in meinem Leben, es mitzuerleben, veränderte mein Denken von Grund auf. Als ich meine Tochter Hannah zum ersten Mal im Arm hielt, war meine Zuneigung nicht in Worte zu fassen.

Ich spürte bedingungsloses Urvertrauen, das Urvertrauen eines neugeborenen Kindes. Was immer noch kommen würde, ich wusste, wofür ich gut war, was meine Aufgabe sein würde und wem ich als Vater immer eine Unterstützung sein würde. Ich war überwältigt und feierte mit Herwig, Philipp und meinen engsten Freunden ein ausgelassenes Fest. Philipp wurde Taufpate, ich spürte, es bedeutete ihm viel, ich sah seinen Stolz, der Taufpate des ersten Nachwuchses in unserer Familie sein zu dürfen. Hannah entzündete eine Kraft in mir, die ich davor noch niemals wahrgenommen hatte.

Diese Kraft wuchs beständig.

Ich musste nichts dazu beitragen, es geschah einfach.

Wenn ich nach dem Training abends nach Hause kam, liebte ich die wenigen Stunden Gemeinsamkeit mit Hannah. Ich freute mich auf die wettkampffreien Wochenenden mit meiner Familie. Diese Zeit gab mir Energie und war eine Oase der Erholung. Jeden Abend brachte ich Hannah ins Bett. Als sie noch im Gitterbett lag, hielt ich oft eine Stunde lang, gebeugt über ihrem Bett stehend, ihre Hand. Die Rückenschmerzen ignorierte ich. Eine oft sehr lange Prozedur, da Hannah nie müde war und das Einschlafen hinauszuzögern versuchte. Ich liebte ihre Überredungsversuche, länger aufbleiben zu dürfen, obwohl man ihr anmerkte, dass sie sich kaum noch wachhalten konnte. Wenn ich die Kinderzimmertür hinter uns schloss, stahlen wir beide uns in eine Phantasiewelt, die auch für mich eine Reise in meine Kindheit war.

Als sie alt genug war, um in ein großes Bett zu wechseln, legte ich mich immer zu ihr und erzählte ihr erfundene Geschichten über Sepp und Schorsch, zwei Freunde, die alle Krisen des Alltags gegen einen Bösewicht zu überstehen hatten und am Ende immer siegten. Der Bösewicht hatte die Gestalt eines Affen, der sich alles Erdenkliche einfallen ließ, um die beiden Freunde auseinanderzubringen, ihnen zu schaden. Der Retter in der Not war dann immer ihr weiser Freund Peter. Hannah fürchtete sich vor dem Affen, lachte mit Sepp und Schorsch und verehrte Peter. Diese 20 Minuten im Bett meiner Tochter waren der Brunnen meines Glücks. Ich erzählte ihr meine Abenteuergeschichten viele Jahre lang, bis in ihre frühe Pubertät. Sie repräsentierten ein immer gleiches Ritual und bedeuteten mir alles, ein Eintauchen in Entspannung und Erholung. Oft war ich derjenige, der nach Beendigung der Geschichte zuerst einschlief, und Hannah blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls einzunicken.

In den Jahren nach der Geburt meiner Tochter begann ich, vermehrt zu arbeiten. Diese Zeit erlebte ich als die intensivste meines Lebens: auf der einen Seite Hannah aufwachsen zu sehen, ihre wachsende Neugier zu beobachten, und auf der anderen Seite die steigenden Anforderungen meines beruflichen Disputs gegen das und mit dem heimischen Verbandssystem und das ehrgeizige Streben nach Erfolg. So, wie ich es bereits als junger Mann mit Lukas erleben durfte, war Hannah für mich mein Rückzugsgebiet vom immer umfangreicher werdenden Berufsalltag. Doch Lukas hatte ich erst im Alter von drei Jahren kennengelernt, mir fehlten seine ersten Lebensjahre. Das holte ich nun mit Hannah nach und genoss gleichzeitig die immer größer werdende Energie des nun pubertierenden Lukas. Er wurde mit jedem Monat geschickter, kräftiger und vielfältiger, wir duellierten uns auf gleicher Höhe beim Tischtennis, spielten Tischfußball und Darts und kämpften wie zwei Gleichaltrige um den Gesamtsieg bei unserem Familientriathlon. Wenn ich zu müde war, um seine Energie zu stillen, ging er in den Keller und spielte oft eine Stunde lang auf seinen Drums, der Rhythmus war im ganzen Haus zu hören, doch anstatt dass es mich nervte, beruhigte es mich, in dem Wissen, dass Lukas seine Energie und gleichzeitig sein musisches Talent ausleben und weiterentwickeln konnte. Ich konnte abschalten – durch die Schläge seiner Drumsticks.

Ich stand meist früher auf als meine Familie. Roswitha, Lukas und Hannah weckte ich, wenn ich zur Schwimmhalle aufbrach, da wir um 7 Uhr unser erstes Training absolvierten. Um 11 Uhr war ich wieder zu Hause und nutzte die Zeit, in der Roswitha und Lukas in der Schule und Hannah im Kindergarten waren, um die Büroarbeit für den Verein zu erledigen und mich für meine Lehraufträge vorzubereiten. Um 12.30 Uhr verließ ich das Haus wieder, um für die Universität und anschließend für den Verein wieder in der Schwimmhalle zu arbeiten. Oft kam ich erst gegen 20 Uhr nach Hause und war so hungrig, dass ich eine Stunde lang völlig überhastet ein Sandwich nach dem anderen aß, um meinen Energiebedarf zu decken.

Hinzu kam, dass ich in der Nacht oft aus Sorge um mein berufliches Fortbestehen nicht entspannt schlafen konnte, der Kampf um Fördergelder und Wasserfläche ruhte nie, war aber eine unbedingte Voraussetzung zur Umsetzung meiner ehrgeizigen Ziele. Das komplexe System aus ständiger streitbedingter Existenzbedrohung und der Notwendigkeit einer raschen Weiterentwicklung gönnte mir keine Pause. Ich war weiter unter Dauerstress, übertauchte den inneren Druck mit ausgedehnten Sportaktivitäten. Sie sollten als Pausen dienen, waren aber vor allem körperliche Belastung. Wenn in einer Mittagspause zwischen meinen Vormittags- und Nachmittagstrainings Zeit blieb, füllte ich diese mit einer Ausdauereinheit. Ich warf einen Blick auf meine Uhr, rechnete mir die verbleibende Zeit bis zum nächsten Termin aus, hetzte in den Keller, zog mich hastig um, um in weniger als fünf Minuten fix und fertig auf meinem Rennrad zu sitzen. Oft telefonierte ich freihändig fahrend die ersten Minuten auf dem Rad, um einen Rückruf zu erledigen. Mein Herz pochte schon vor dem ersten Anstieg, jedoch nicht wegen der körperlichen Belastung, sondern weil es den anfallenden Stress bewältigen musste. Die Wettkampfmoral blieb in meinem persönlichen sportlichen Training immer präsent. Nicht als klassischer Zweikampf, sondern als Spiel gegen mich selbst. Es reizte mich, die Wattzahlen an meinem Fahrradergometer nach oben zu drehen, den Gaisberg noch schneller mit dem Rad zu erklimmen als bei meiner bisherigen Bestleistung.

Immer wollte ich ausprobieren, wie mein Körper auf noch höhere Intensität reagierte: Wann war zu viel zu viel?

Ein gefährliches Spiel.

Ich hatte nie gelernt, dass Pausen der Schlüssel zu dauerhaftem Erfolg sind. Ich arbeitete jahrelang auf hoher Drehzahl und mit enormer Intensität, sprang von Termin zu Termin und übersah alle Warnsignale meines Körpers. Er verkraftete zwar die langen Belastungsphasen, vergaß sie aber nicht. Im Glauben an meine eigene Unfehlbarkeit, in der falschen Annahme, durch vermehrten Einsatz auch vermehrten Erfolg zu generieren, ohne dabei meine eigenen Grenzen zu achten, nahm ich nicht wahr, dass dieser Rhythmus über meiner persönlichen Verträglichkeit lag. Schritt für Schritt verlor ich die Kontrolle. Ich saß in der Schwimmhalle, stoppte die Sportler, telefonierte gleichzeitig, um keine Zeit zu verlieren, versuchte zwischendurch, den Sportlern meine Anweisungen verständlich zu machen. Ich vermisste das intensive Beobachten, das ich in meiner Kindheit betrieben hatte, die träumerische Hingabe an den Sport und die erfüllende Beschäftigung mit dem Geschehen. Ich achtete nicht mehr auf meine Umgebung. Ich reflektierte nicht, setzte keine Prioritäten und erledigte nur mehr meinen Alltag. Ich gönnte es mir nicht, die vielen neuen Erfahrungen, die auf mich hereinprasselten, setzen zu lassen. Ich erlebte sie und schob sie gleich wieder zur Seite. Zu schnell kam der nächste Reiz und wartete auf Erledigung. Die Geschwindigkeit meines Alltags überholte mich. Zu dieser beruflichen, körperlichen und psychischen Dauerbelastung kam dann auch noch ein gesundheitlicher Keulenschlag dazu.

Zwölf Jahre nach seinem unerklärlichen Auftauchen war der Krebs wieder da.

Am 26. Jänner 2006 wurde ich erneut an der Zunge operiert. In den vergangenen Monaten war das Plattenepithel am Mundboden zu einem weiteren Tumor angewachsen. Große Teile meines linken Mundbodens und der linken Zungenseite mussten entfernt werden.

Schmerzen

I kept the right ones out and let the wrong ones in.

Aerosmith, Amazing

Roswithas Vater Albert, ein erfahrener Arzt, Unfallchirurg und bereits 67 Jahre alt, fungierte während meiner zweiten Krebserkrankung als mein Leibarzt. Er begleitete mich zu den meisten Arztbesuchen, kannte viele Ärzte in verschiedensten Ambulanzen und sorgte dafür, dass ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes im Universum der Landeskrankenanstalten zu sein. Albert machte Druck, wenn wir zu lange im Warteraum sitzen mussten, fragte kritisch und ungeduldig jeden Arzt nach exakten Diagnosen und Behandlungsstrategien und tat alles, um mir die Sicherheit zu geben, nicht in der undurchsichtigen Welt einer Landeskrankenanstalt gefangen zu sein. Er war mir auch vorher schon in allen gesundheitlichen Krisen immer unmittelbar zur Seite gestanden, nur waren sie nicht derart bedrohlich gewesen. Ich stand nach dem erneuten, völlig unerwarteten und fern von allen Risikofaktoren auftretenden Rezidiv an meiner Zunge unter Schock. Albert dämpfte meine Sorge. Er zeichnete sich als Arzt durch seine Fähigkeit aus, trotz der Schwere der Erkrankung immer den Menschen zu unterstützen, er stellte nie die Krankheit in den Vordergrund. Er blieb immer positiv. Er vermittelte mir gekonnt und empathisch einen Ausweg aus meiner lebensbedrohlichen Situation; er relativierte die Schwere der Krebserkrankung stets so, dass eine vollständige Genesung immer selbstverständlich war. Zumindest für mich.

Albert wurde zu meinem Glücksbringer.

Wenn er da war, wurde alles gut. „Wir schaffen es“ aus seinem Mund klang ehrlich, kam von Herzen und half. Ich schätzte seine Anwesenheit, seinen Rat, seinen ärztlichen Optimismus.

Ein weiterer fünf Zentimeter langer Tumor, der sich in meine linke Zungenhälfte und den linken Mundboden gefressen hatte, wurde entfernt. Zudem entnahmen die Operateure sicherheitshalber großflächig das umliegende Gewebe, auch am Mundboden. Aufgrund des Gewebeverlustes und der Naht zog sich meine verbleibende Zunge nun zu den linken Zähnen hin, der natürliche Platz zwischen Zunge und Zähnen wurde enger. In meinem Mund entstanden Spannung und Druck. Der Tumor forderte seinen Platz und nahm mir mein Gewebe.

Meine erneute Operation hatte zwei schwerwiegende Folgen für mich. Das Sprechen in der Schwimmhalle fiel mir schwerer als zuvor, und meine Zunge rieb sich nach der Vernarbung nun schmerzhaft an den linken Zähnen. Daraus entstanden immer wiederkehrende Entzündungen.

Ich hatte Schmerzen.

Bei jedem Wort.

Die ständigen Entzündungen schränkten mich nun auch beim Essen ein. Zitronen, Himbeeren, Tomaten, Essig und salzige Speisen verursachten brennende Schmerzen, die häufig stundenlang anhielten. Hastiges Essen und gestresste Nahrungsaufnahme bedingten oft unkontrollierte Zungenbewegungen, sodass ich mir immer wieder in die Zunge biss. Der ständige Kreislauf aus Wiederverletzung und Reizung und dem Versuch, eine Heilung herbeizuführen, bestimmten mein Mundmilieu. Einzige Erholungsphase waren die trainingsfreien Wochen im Sommer, in denen ich die Schwimmhalle mied und in denen sich mein Sprechen auf Zimmerlautstärke reduzierte. Brüllen und druckvolle Befehle waren in diesen Perioden nicht nötig, das beruhigte den Schmerz.

Ein eindeutiges Zeichen, über das ich jedoch nicht weiter nachdachte.

Es wird schon werden, lautete meine Devise.

Für einen unvergesslichen langen Tag in diesen trainingsfreien Wochen wurde es sogar perfekt. Am 19. August 2006, ein halbes Jahr nach meiner zweiten Krebsoperation, feierte ich das schönste Fest meines Lebens. Roswitha und ich heirateten. Wir fuhren mit einem Zweigespann in einer Kutsche, nur Roswitha, Lukas, Hannah und ich, zu einem wunderschön gelegenen Gut in der Nähe des Heimatorts meines Schwiegervaters. Obwohl die Wettervorhersage wechselhaft gelautet hatte, war der Himmel wolkenlos, die Sonne strahlte, als wolle sie uns ein Geschenk machen, während wir unter dem Applaus unserer Freunde mit dem Blick auf die so vertrauten Berge aus der Kutsche stiegen und vor die Kapelle traten, um uns trauen zu lassen. Herwig stand wieder einmal neben mir und bezeugte unsere Trauung. Mein bester Freund spielte auf der Gitarre „Strada del Sole“. Den Text hatte er eigens für uns in „Strada del Weis“ geändert. Seine dieses Mal gekämmten blonden Haare und sein schelmisches Lächeln werde ich nie vergessen.

An diesem einen Tag war jeder Schmerz vergessen. Wir lachten aus reiner Lust am Leben, lauschten den feierlichen Ansprachen unserer Freunde, saßen an der sonnigen Hausmauer, um den Moment zu genießen, schickten Luftballons in die traumhafte Kulisse unserer Bergwelt und stießen auf die Liebe und das Leben an. Es war einmalig. Ich war schmerzfrei, vergaß all den Druck, den Stress, die Operationen und das vermeintliche gesundheitliche Pech für diesen einen Tag. Roswitha war umwerfend schön, der Blumenschmuck in ihrem Haar leuchtete wie eine Blumenwiese, ihr Kleid zeichnete alle Farben unserer Liebe wieder, ich rieche noch heute ihren Duft an jenem Tag. Hannah liebte das Fest, sie sagte mir später, wie dankbar sie sei, dass sie als kleines Kind die Hochzeit ihrer Eltern miterleben durfte.

Ich fühlte mich, als ob ich alles in meinem Leben richtig gemacht hätte.

Albert und seine Frau Waltraud unterstützten unsere junge Familie nach Kräften. Da wir nebeneinander wohnten, waren Lukas und Hannah oft in ihrer Obhut, was vor allem wegen meiner häufigen beruflichen Abwesenheit eine große Hilfe war. Die Schwiegereltern liebten ihre Enkelkinder und umsorgten sie, so gut es ging. Die Nähe zu Albert und Waltraud brachte nur Vorteile – ich empfand das enge Zusammenleben immer als Win-win-Situation. Ich war ein unkomplizierter Mensch, der jedem Streit aus dem Weg ging und der die Rolle des ausgleichenden Pols bei familieninternen Konflikten einnahm. Ich war ein guter Puffer zwischen den teils emotionalen Auseinandersetzungen innerhalb der Großfamilie und selbst selten Verursacher von Streitigkeiten, was vor allem Albert sehr schätzte. Nie kam es zu einem Konflikt zwischen den Schwiegereltern und mir. Albert äußerte keine Kritik, es gab keine Vorwürfe an mich als Familienmitglied, Waltraud kochte an jedem Montag mein Lieblingsessen – das gefiel mir. Die Rolle, die vor allem wir zwei Männer in unserem gemeinsamen Familiensystem innehatten, empfand ich als optimal. Wir verstanden uns. Redeten nicht viel miteinander, aber auf Anhieb hatte Harmonie zwischen uns geherrscht. Eine Männerfreundschaft von Anfang an über eine Generation hinweg, seit ich mich in Roswitha verliebt hatte.

Der Sommer 2006 ging rasch zu Ende, im Herbst war das Wetter kühl und regnerisch. Den Wochen vor und nach meiner Hochzeit trauerte ich umso mehr nach, als ich wieder in die schwüle, sauerstoffarme und in den Wintermonaten immer dunkler werdende Schwimmhalle musste. Die Euphorie wich den immer lästiger werdenden Dauerschmerzen. Mein Beruf verlangte zwei unumstößliche Voraussetzungen – ständige Anwesenheit in der Schwimmhalle und eine kräftige, laute Stimme. Das Dilemma dabei war: Je länger ich mich in der Halle aufhielt, desto mehr Energie und Kraft benötigte ich für die Verständlichkeit meiner Aussprache. Der fehlende Sauerstoff und das feuchte Klima forderten nicht nur körperliche Ressourcen, sondern belasteten auch meine Stimme. Das Schlimmste daran waren die Dauerschmerzen, die bei jedem gesprochenen Wort auftraten. Die Anatomie meiner linken Mundhälfte hätte weniger Druck, weniger Brüllen und mehr Pausen bedurft. Laute Anweisungen, stramme Befehle, emotionale Ausbrüche und motivierende Ansprachen in der Schwimmhalle standen jedoch fast täglich auf meiner Tagesordnung. Wollte ich den Studenten oder meinen Sportlern Übungsinhalte oder Trainingsprogramme verständlich machen, musste ich schreien.

Der Lärmpegel in einer Schwimmhalle fällt nur jenen auf, die sich regelmäßig in einer solchen aufhalten – die Dosis macht das Gift.

Dem Brüllen folgten Schmerzen. Ohne eine Lösung zu suchen, ignorierte ich nicht nur die Schmerzen, vielmehr forderte ich meinen Körper auf, sich an die neuen Umstände anzupassen, ohne ihm jedoch einen Kompromiss anzubieten. Ich behandelte Körper und Geist nicht als Team, sondern als zwei getrennt voneinander existierende Teile meines Wesens. Mein Körper verlangte nach Aufmerksamkeit, mein Kopf ignorierte dieses Bedürfnis und stellte den Körper vor vollendete Tatsachen: Er hatte sich anzupassen.

Die Folge war, dass der Schmerz mein ständiger Begleiter war. Nur hatte ich keine Antwort parat, wusste einfach nicht, was ich ändern sollte oder wie ich der Schmerzen Herr werden konnte. Mein Kopf antwortete mit Härte. Nach dem Motto: „Der stärkste Muskel in meinem Körper ist der Kopf“, fand ich einen Weg, um die Schmerzen zu ignorieren. Sie waren da, wurden aber zur Selbstverständlichkeit.

Doch das Schicksal schenkte mir unverhofft eine zweite Chance: In der Trainingssaison 2010/11 wurde unsere heimische Trainingsstätte, die Schwimmhalle des Leistungszentrums, umgebaut, es war kein Wassertraining möglich. Wir mussten in verschiedene kleinere Schwimmhallen der Umgebung ausweichen. Da die Anfahrtswege lange und umständlich waren und uns die Trainingsmöglichkeiten in diesen öffentlichen Bädern nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden konnten, lag es auf der Hand, dass unser Team in dieser Saison deutlich weniger trainieren konnte als in den Jahren davor. Wir konzentrierten uns deshalb auf ein umfangreiches Trockentraining. Ein tägliches Schwimmtraining musste ausreichen.

Eine weitere ständige negative Begleiterscheinung meines Jobs fiel nun auch ganz plötzlich weg. Aufgrund der begrenzten Wasserfläche und der damit verbundenen geringen Trainingszeiten arbeitete ich oft allein in einem der lokalen Bäder, die Verbandskollegen waren auf einmal nicht mehr präsent – somit verschwand auch das Unbehagen. Der Dauerstreit um Wasserfläche, Fördergelder und die Beurteilung individueller sportlicher Erfolge rückten ebenso in den Hintergrund wie die persönliche Profilierung. Es war, als würde ein Rucksack voller Steine von meinen Schultern genommen werden – ein ungewohntes Gefühl, erstmals, nach zehn Jahren.

Meinem Körper gefielen die neuen Umstände ebenso wie meiner Familie. Ich wurde langsamer, achtsamer, aufmerksamer, ich nahm wieder mehr von der Faszination meines heranwachsenden Kindes wahr und hörte meiner Frau besser zu. Ich musste weniger brüllen, der gesamte Sport erzeugte weniger Druck. Das bemerkte ich auch beim Sprechen. Es fühlte sich leichter an, ich sprach automatisierter. Meine Schmerzen ließen Woche für Woche nach, es gab Tage, an denen ich meine Operationen im Mund komplett vergessen konnte. Ich dachte zum ersten Mal, die Krebsoperationen und ihre Folgen nicht nur erfolgreich in einem Hinterzimmer meines Gedächtnisses verstaut zu haben, sondern sie vielmehr endlich wegwerfen zu können. Die Schmerzen verschwanden aus meinem Alltag. Auch die lähmenden Erinnerungen und verborgenen Ängste verließen meinen Körper, und in weiterer Folge auch meinen Kopf.

Auch wenn ich diese Zeit als beruflichen Stillstand empfand, feierte mein Körper seine Wiederauferstehung.

Nicht, dass ich achtsamer mit mir und meinem Körper umging, nein, die Umstände ließen einfach nicht denselben Rhythmus, dieselbe Frequenz, dieselbe Intensität der Jahre davor zu. Die Pausen wurden länger. Es tat mir gut. Berufliche Bescheidenheit war angesagt, ich fühlte mich nicht für eine eventuell stagnierende sportliche Entwicklung in dieser Saison verantwortlich, niemand hatte Erwartungen. Als diese reduzierte Saison dann dennoch alle Erwartungen übertraf und wir als Team, vor allem im Nachwuchs, so erfolgreich wie noch nie waren, fand ich zahlreiche Gründe für den Erfolg – nicht jedoch die Tatsache, dass längere Pausen, vermehrte Ruhezeiten und Gelassenheit der Schlüssel zum Erfolg gewesen sein könnten.

Leider befüllte ich die Pausen aber intuitiv – ich wollte sie nutzen.

Ich hatte zu meinem 30. Geburtstag mein erstes Rennrad geschenkt bekommen. Das Radfahren bekam nun eine neue Qualität für mich, es wurde meine Leidenschaft. Bis dahin war ich entweder laufend oder schwimmend als Ausdauersportler unterwegs gewesen. Die Monotonie dieser beiden Fortbewegungsarten schränkte mich in meiner Aufmerksamkeit und Wahrnehmung der Umgebung ein. Ich lief entweder mit einem Tunnelblick meine immer gleichen Runden oder zählte die Fliesen im Wasser. Von unserem Haus aus joggte ich immer zwischen 30 und 75 Minuten, je nach zeitlicher Möglichkeit. Nach ein paar Jahren fand ich keine neuen Laufstrecken mehr. Schwimmen im Hallenbad war zudem ein No-Go für mich, seit ich hauptberuflicher Trainer war – jede weitere Minute an meinem Arbeitsplatz kostete mich zusätzlich Energie. Die wenigen Sommertage, in denen ich in das benachbarte Freibad springen konnte, reichten nicht aus, um mir Schwimmen als dauerhaftes Ausdauertraining schmackhaft zu machen.

Das Radfahren hingegen brachte mich auch wieder enger mit meinem Bruder Philipp zusammen. Mein kleiner Bruder, der immer im Schatten meines sportlichen Ehrgeizes gestanden hatte, der Schwierigkeiten hatte, mit mir sportlich Schritt zu halten und den ich dies auch immer spüren ließ, begleitete mich nun häufig auf meinen Touren. Ich genoss seine Anwesenheit und stellte fest, dass er ein außerordentlich ausdauernder Radfahrer war. Ich war meinem Bruder in vielerlei Hinsicht dankbar, vor allem für seine Zuneigung meinen Kindern gegenüber. Hannah und Lukas liebten Phips. Er war immer an ihrer Seite, nicht häufig anwesend, aber immer zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle. Onkel Phips war unheimlich großzügig den Kindern gegenüber, vor allem kümmerte er sich ebenso sehr um Lukas wie um sein Patenkind Hannah. Durch unser gemeinsames Radfahren konnte ich ihm etwas Aufmerksamkeit und Zuneigung zurückgeben.

Das Rennradfahren schenkte mir eine neue, bisher nicht gekannte Freiheit. Ich fuhr oft mehrere Stunden aus, meine reduzierten beruflichen Verpflichtungen erlaubten mir auch lange Radtouren. An den Vormittagen, nach dem Frühtraining, erforschte ich mit meinem Rennrad Salzburg und seine Umgebung. Meine Energie schäumte über. Vermindertes Arbeiten, umfangreiches Ausdauertraining und privates Glück – mein Leben fühlte sich perfekt an. Ich begann, alle befahrbaren Wege, Straßen, Anstiege und Abfahrten in der Umgebung der Stadt zu erkunden. Ich liebte die Abwechslung, die mir das Rennradfahren bot, den Geruch des frisch geschnittenen Grases, die Herausforderung der unterschiedlichen Landschaften, und die abwechslungsreichen körperlichen Anstrengungen, die meine Ausfahrten mir boten, tilgten meinen Hunger nach Freiheit. Der ständige Wechsel zwischen den Intensitäten verwischte jede Monotonie, die ich vom Laufen oder Schwimmen her kannte. Ich radelte einfach drauflos, meist auf die umliegenden Berge, es gab keine Vorgaben, nur die Landschaft Salzburgs und mich. Die Umgebung, der Wind und das Wetter steckten mir meine Grenzen ab, sonst niemand und nichts. Heute so, morgen komplett anders, auch wenn die Ausfahrt dieselbe war. Ich kümmerte mich nicht um Geschwindigkeiten, Wattzahlen oder Steigungen, ich fuhr einfach drauflos und nahm alle Herausforderungen dankend an. Ich inhalierte zum ersten Mal in meinem Leben das allumfassende Gefühl der wohltuenden Einsamkeit, die jeder Radfahrer im Laufe seiner stundenlangen Ausfahrten sowohl zu lieben als auch zu hassen beginnt.

In meinem Beruf arbeitete ich mit Menschen und deren sportlicher und persönlicher Weiterentwicklung. In meiner Funktion als Lehrbeauftragter und als Trainer sprang ich in die Rolle der Führungskraft. Ich leitete eine Gruppe, meine Mannschaft und übernahm Verantwortung für mein Team. Das stundenlange einsame Radfahren kompensierte diese Aufgabe meines Berufs. Ich konnte mich treiben lassen, musste nicht sprechen, war nicht für Inhalte zuständig, gehorchte nur den Anforderungen der Natur und meines Körpers.

Radfahren gab meinem Kopf Zeit, sich zu erholen.

Meinen Körper dagegen forderte ich.

Mit Fortdauer der immer längeren, anspruchsvolleren und belastenden Ausfahrten wuchsen auch die Herausforderungen an meinen Körper. Die Anstiege wurden nie leichter, ich wurde aber zusehends schneller. Hatte ich anfangs für eine Tour über das Rossfeld drei Stunden benötigt, war mein Ausflug drei Monate später um 30 Minuten kürzer. Ich wurde leistungsfähiger, mein Körper und mein Stoffwechsel passten sich an die Belastungen an, aus der anfänglichen Erholung wurde ein forderndes Training.

Die Uhr entwickelte sich wieder zum Gradmesser meiner Sporteinheiten, der Trainingsreiz bestimmte in der zweiten Hälfte der Saison 2010/11 meine Ausflüge. Eine komplette Tageshälfte nutzte ich nun für mein Training. Vor der Entdeckung meines Fahrrads hatte ich mich nur 30 bis 60 Minuten täglich belastet; mit dem Fahrrad entwickelten sich daraus mehrere Stunden. Aus sportlichem Erleben auf dem Rennrad wurde sportliches Training am Limit. Der Erlebnisfaktor blieb zwar weiter vorhanden, jedoch befriedigte ich zusätzlich meinen sportlichen Ehrgeiz. Die vollbrachte Leistung spornte mich an und trieb mich vorwärts. Einmal Leistungssportler, immer Leistungssportler.

Ich trainierte, als wäre ich 20 Jahre jünger.

Als Trainer setzte ich meine sportlichen Ziele für mein Team hinunter, niemand konnte von uns etwas Besonderes erwarten, sogar ich war inzwischen erfahren und nüchtern genug und wusste, dass unsere ehrgeizigen Ziele mit halbem Training nicht zu realisieren waren. Die nationalen und regionalen Höhepunkte dieser Saison empfand ich als zu monoton, die immer gleichen Wettkämpfe stillten meinen Hunger nach Erfolg nicht ausreichend. Es fehlten sportliche Höhepunkte, ich vermisste das elektrisierende Adrenalin meiner ersten Trainerjahre. Um das Feuer wiederzufinden, beschloss ich, im Frühjahr des Jahres 2011 selbst wieder bei Wettkämpfen an den Start zu gehen. Ich war 36 Jahre alt und wollte noch einmal das Adrenalin eines Wettkampfes als Leistungssportler erleben, die Ausbelastung körperlich spüren.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Ich war ein gelernter Schwimmer, ein begabter Läufer und fuhr seit einigen Jahren regelmäßig mit meinem Rennrad – in meinem Pausenjahr sogar sehr umfangreich –, so fühlte ich mich stark genug, um an Triathlons teilzunehmen. Zu meiner bereits hohen Trainingsintensität gesellte sich die Wettkampfintensität. Ich unterschätzte die Belastungen. Ich trainierte nicht weitsichtig und aufbauend wie ein Leistungssportler, sondern versuchte, meine Leistungen durch kurze, intensive Reize so hoch wie möglich zu schrauben. Mein Wille gierte nach Wettkampfsport, er war wieder einmal der Chef über meine körperlichen Erschöpfungssignale. Den Herausforderungen einer zweistündigen Wettkampfbelastung war ich körperlich schlicht nicht gewachsen. Die Regeneration nach meinen Wettkämpfen, auch wenn ich im Frühjahr 2011 an nur drei Triathlons teilnahm, dauerte sehr lange. Mehr als eine Woche lang fühlte ich mich nach der zweistündigen Wettkampfbelastung als Sportinvalide, leer, müde, verkatert, meine Gelenke schmerzten und meine Lungen brannten, der Körper musste auf Hochtouren arbeiten, um sich wieder ins Gleichgewicht zu bringen.

Die Wettkämpfe fühlten sich wie Stiche ins Herz an.

110 Prozent all out.

Erstmals beschlich mich das Gefühl, dass ich mich über meiner körperlichen Grenze bewegte, dass mein Körper meinem Willen nicht nachkam. Hinzu kam, dass ich mit meiner Leistung nicht zufrieden war, ich war zwar meist einer der schnellsten Schwimmer, auch ein guter Radfahrer, jedoch reichte meine läuferische Leistung nicht aus, um mich im Vorderfeld zu platzieren. Während der letzten 30 Minuten litt ich körperlich und war nach dem Wettkampf nicht erfüllt, sondern nur müde und deprimiert. Ich benötigte drei Triathlons, um festzustellen, dass ich mir damit nichts Gutes tat. Danach beschloss ich, das Kapitel Wettkampfsport für mich endgültig zu schließen. Kurz vor dem Kollaps atmete mein Körper auf.

Jedoch nicht lange. Auch das im Leistungszentrum ansässige Sportinstitut der Universität Salzburg musste ein Jahr lang mit seinem Lehrangebot pausieren. Wir entschieden, die Lehrveranstaltungen daher nach der Wiedereröffnung der Schwimmhalle noch vor Semesterbeginn des folgenden Jahres zu blocken. Das hatte zur Folge, dass ich zwei Semester lang keine Lehraufträge durchführen konnte, somit auch keine zusätzlichen Wochenstunden in der Schwimmhalle stand, dafür aber zwei Wochen im September vor Semesterbeginn des Studienjahres 2011/12 sämtliche Stunden der abgelaufenen zwei Semester nachholen musste. Mein „Pausenjahr“ ging abrupt zu Ende, und ich begann die neue Saison mit einem bis dahin noch nicht gekannten zweiwöchigen Intensivblock in der Schwimmhalle. Ich arbeitete in diesem Zeitraum täglich zwölf Stunden in der Halle und musste in dieser Zeit durchgehend sprechen. Laut, druckvoll und nach einem Jahr Pause wieder mit Schmerzen. Nach nur zwei Wochen war ich nicht nur körperlich müde vom umfangreichen Training und den eigenen Wettkämpfen der letzten Monate sowie dem intensiven Arbeitsblock, sondern bereits ausgebrannt. Vor Beginn der neuen Saison.

₺871,71