Kitabı oku: «RESET», sayfa 4
In den nächsten Monaten stand ich zwar nicht mehr zwölf Stunden in der Schwimmhalle, aber es fühlte sich genauso an. Ich war lustlos, punktuell deprimiert und suchte nach einer Änderung. Mein eigener Sport degradierte wieder zum Lückenfüller, die Pausen zwischen den beiden Trainingseinheiten nutzte ich aber weiterhin, um mich zu bewegen. Die Intensität aus dem vergangenen Jahr behielt ich aufrecht. Im Vergleich zu den Vorjahren veränderte sich mein Bewegen noch mehr von einem freudvollen, langsamen Genießen hin zu einer intensiven kurzen Belastung. Meine hohe Leistungsfähigkeit blieb dadurch erhalten, der Stresspegel jedoch auch.
Tagespause gab es keine.
Die Veränderung kam, unverhofft und anders als erwartet. Im Jänner des Jahres 2012 wurde der gesamte aktuelle Salzburger Schwimmverband vom nationalen Verband ausgeschlossen. Ein Paukenschlag. Auf einmal wurde ein neuer regionaler Verband gesucht, ebenso ein neuer Schwimmsportverantwortlicher. Ohne zu zögern ergriff ich die Möglichkeit, unser Team gründete einen neuen Verband, der auch von den Institutionen anerkannt wurde, ich selbst wurde Präsident des nun neuen Salzburger Schwimmverbandes. Nun hatte ich nicht nur die sportliche Verantwortung über den heimischen Schwimmsport inne, sondern auch die funktionelle. Ich wollte es so. Ab sofort intensivierten sich die Streitigkeiten. Der Verbandsausschluss wurde nicht hingenommen, Verbandstage, Schiedsgerichte, ordentliche Gerichte sowie Anzeigen, Intrigen und persönliche Verleumdungen als auch die ständige sportliche und existenzielle Unsicherheit und die fehlende Planungssicherheit ob der juristischen Bedrohungen machten mich Schritt für Schritt mürbe.
Die Schmerzen im Mund verschwanden nicht, im Gegenteil: Sie waren nun auch in den Sprachpausen mein treuer Begleiter. Ich konzentrierte mich auf die Auswirkung meiner Schmerzen, jedoch nicht auf ihren Grund. Den ständigen Überlastungen meines Sprachorgans begegnete ich mit Ignoranz, Durchhalteparolen und Kompensation. Mundspülungen, betäubende und beruhigende Tees, Schüßler Salze oder andere homöopathische Hilfsmittel konnten meine Schmerzen zwar kurzfristig verbessern, jedoch nicht dauerhaft auslöschen. Ausufernde Mundhygiene, die dazu führte, dass ich mir fünf- bis sechsmal am Tag die Zähne putzte, die Vermeidung von Nahrungsmitteln, die meine entzündete Schleimhaut im Mund zusätzlich reizten, sollten das Problem der dauerhaften Schmerzen verbessern; jede Therapie war aber nur als Schmerzunterdrückung gedacht.
Weitermachen, immer weitermachen.
Irgendwann kommt die Erlösung.
Noch nie war ich mit einem so hartnäckigen Gegner konfrontiert wie mit meinen Schmerzen. Da wurden selbst die Funktionärsstreitigkeiten zur Nebensache.
Der Untersberg
That cold black cloud is comin’ down,
feels like I’m knockin’ on heaven’s door.
Guns N’ Roses, Knockin’ On Heaven’s Door
Ich war müde, es war 6 Uhr am Morgen, ich bekam wenig Luft, fühlte mich erschöpft und wollte den anstehenden Lauf auf den Untersberg absagen. Es war der 12. September 2012, zwei Wochen davor, in meinem Familienurlaub auf Korsika, in dem ich mich eigentlich erholen sollte, hatte ich zum ersten Mal zu Beginn meiner täglichen Ausdauereinheit ein Brennen in meiner Brust bemerkt. Nach wenigen Minuten der Belastung war es wieder verschwunden. Auch nach diesem Urlaub war ich ungewohnt schlapp, schenkte meinem Empfinden jedoch keine Bedeutung und trainierte einfach weiter. Wird schon besser werden, lautete einmal mehr die Devise, und so zog ich mein Trainingsgewand an, packte das Nötigste für den Aufstieg zusammen, setzte mich ins Auto und fuhr zum Fuße des Untersbergs.
Der Untersberg, die markanteste Erhebung im Süden der Stadt Salzburg, ist ein beliebter Trainingsberg, im Winter wie auch im Sommer. Vom Einstieg am Ende der Moosstraße nahe dem Ort Glanegg auf 400 Metern Seehöhe bis zum Geiereck, das durch ein Gipfelkreuz gekennzeichnet ist, sind es knapp 1400 Höhenmeter. Das Ziel auf 1805 Meter kann man von Glanegg aus über zwei Steige erreichen. Entweder über den Reitsteig oder den etwas ausgesetzteren Dopplersteig. Beide sind aufgrund der vielen Stufen und der steilen Wegführung sehr anspruchsvoll, egal, ob ein Wanderer langsam oder schnell versucht, bergauf zu kommen. Das wird heute mühsam, dachte ich, bevor mir bewusst wurde: Der Untersberg ist sowieso immer mühsam. Mein Pflichtbewusstsein drängte mich zur Umsetzung unseres heutigen Plans, auch wenn ich kurz daran dachte, den Lauf per SMS abzusagen. Um 7 Uhr traf ich meine Sportler am Einstieg zum Dopplersteig.
Acht Jahre davor, im September 2004 waren wir zu sechst – fünf trainierte Schwimmer im Alter von 17 bis 25 Jahren und ich – ebenso um 7 Uhr morgens bei besten Wetterbedingungen am Fuß unseres Trainingsberges gestanden, bei der Weggabelung der beiden Steige. Ich selbst war damals 29 Jahre alt und Trainer der fünf jungen Männer. Ich fühlte mich damals immer noch als Spitzensportler. Zwei Burschen liefen gemeinsam mit mir am Dopplersteig los, die drei anderen starteten am Reitsteig. Es war ein typischer Trainingswettkampf in der Vorbereitung auf die neue Schwimmsaison. Welches Team ist schneller?, lautete die Herausforderung, wir waren alle hochmotiviert. Die ersten beiden gleichzeitig ankommenden Gipfelstürmer eines Teams würden den Sieg für die jeweilige Gruppe erringen. Die Herausforderungen am Dopplersteig erschienen mir etwas höher, deswegen legten wir von Beginn an ein sehr hohes Tempo vor. Das Hauptkriterium in diesem durchgängig sehr steilen Steig liegt erst bei 1450 Höhenmetern: eine ca. 150 Meter hohe Wand, die es zu durchsteigen gilt. Die Steinstufen dort sind außergewöhnlich steil, in hohem Tempo schwierig zu gehen, sie zu laufen war hingegen unmöglich für uns; zu intensiv drückte die Belastung auf unsere Lungen. Ein Fehltritt würde uns viele hundert Meter in die Tiefe werfen. Zu gefährlich. Beide Steige treffen ungefähr 300 Höhenmeter vor dem Geiereck zusammen, der Schlussanstieg über das Zeppezauerhaus verlief somit für beide Teams gleich. Beim Zusammenschluss beider Wege angekommen folgte für unser Team die Ernüchterung: Unsere Kollegen befanden sich schon rund 150 Höhenmeter über uns und brachten dies auch durch ihr Jubeln zum Ausdruck. Nach 75 Minuten erreichten wir den Gipfel, völlig ausgepumpt, acht Minuten hinter den Siegern.
67 Minuten – kein schlechtes Laufergebnis für ein paar Schwimmer, dachte ich nun, acht Jahre später, an das damalige Training zurück. Ich befand mich im Auto, auf dem Weg zum Untersberg. Noch immer hundemüde, erinnerte ich mich an die Anstrengung von vor acht Jahren: irgendwie grenzwertig.
Aber gleichzeitig bewunderte ich unseren Rekord.
Die Mannschaft hatte sich verändert, ich mich jedoch nicht. Die neuen Gesichter strotzten vor Motivation, sie alle wollten schneller als ihr Trainer auf dem Gipfel sein. Sie kannten mich, ich war bei jedem Training an Land nicht nur ihr Trainer, ich war auch der härteste Trainingskollege. Ich lebte meinen Sporttrieb mit den immer jungen Gesichtern aus, mein Beruf erlaubte es mir, sämtliche Outdoor-Aktivitäten gemeinsam mit meinen Sportlern zu genießen. Gleichzeitig wollte ich ihnen ein Vorbild sein, mein Ansporn war es stets, besser zu sein als meine Schwimmer, nicht im Wettkampfbecken, aber auf dem Berg, mit dem Ball oder am Rad. Meine gierigen Sportler hielten mich jung, die frische Atmosphäre belebte mich, ich fühlte mich auf dem Höhepunkt meiner körperlichen Belastbarkeit.
Nur heute nicht.
Die ersten Stufen waren sehr steil, eine abrupte, intensive körperliche Belastung, vor allem wenn man Tempo machte. Bereits nach wenigen Minuten spürte ich wieder das unangenehme Brennen in der Brust. Mach weiter, motivierte ich mich, es wird sicher gleich wieder vergehen, du musst nur warmwerden. Die folgenden 90 Minuten Aufstieg brachten mich an meine körperlichen Grenzen. Nicht im gewohnten, intensiven Belastungsbereich, nein, anders. Ungewohnt, dumpf und schwer. Mein Herz schien zu krampfen, zuzumachen, es verengte sich. Mehrmals wollte ich abbrechen und umkehren, das Brennen verstärkte sich mit jedem Höhenmeter. Am Zeppezauerhaus – unser Team stieg an diesem Tag über die vielen Stufen des Dopplersteigs – beschleunigte ich nochmals das Tempo. Ich wollte die jungen Sportler fordern, sie ihrerseits an ihre Grenzen bringen, einen intensiven Trainingsreiz für alle setzen. 15 Minuten später, unter maximaler Dauerbelastung, erreichte ich das Gipfelkreuz, knapp vor den ersten Sportlern.
Kopf besiegte Körper.
Wille. Ehrgeiz. Vermögen.
Ich bestimmte, wann es nicht mehr ging.
Der Atem beruhigte sich rasch, doch ich schwitzte extrem, mir war schwindlig, das Brennen in der Brust blieb, es verstärkte sich sogar. Es entwickelte sich zu einem beklemmenden Druck, der mir das Atmen erschwerte. Erstmals, hier oben auf über 1800 Metern, befiel mich ein Gefühl der Unsicherheit. Angstschweiß, Unterarmschmerzen, wackelige Beine und punktuelle Panikattacken überfielen mich im Laufe des Tages in wiederkehrenden Abständen. Weder ein Entspannungsbad nach unserer Rückkehr noch die Abwechslung durch das Abhalten des Schwimmtrainings am Nachmittag änderte etwas daran. Nervös lief ich am Beckenrand auf und ab, fand in meinem Trainersessel keine ruhige Position, nahm tiefe Atemzüge, um den beklemmenden Brustschmerz wegzuatmen.
Nichts half.
Nach dem Training, es war 20 Uhr, fuhr ich mit dem Auto zur Trainingshalle meiner Tochter, die sich im Voltigieren übte. Hannah zeigte in ihrer Leidenschaft, die sie mit neun Jahren bei einer Jugendsportaktion eines Dachverbandes entdeckt hatte, einen sportlichen Ehrgeiz, den ich mir vor zwei Jahren noch nicht hätte vorstellen können. Ich weiß, was es bedeutet, sportliche Ziele zu haben, schmunzelte ich kurz, als ich im Auto auf Hannah wartete. Sogar beim Lächeln schmerzte meine Brust. Was zum Teufel ist da los?, fluchte ich und bekam erneut Sorge, ob ich es am Morgen auf dem Untersberg nicht übertrieben hatte. Aber warum auch? Zigmal hatte ich mich in den letzten Jahren körperlich ausbelastet, warum sollte ich nun auf einmal damit überfordert sein? Ich hatte mir das Ziel gesetzt, als Erster auf dem Gipfel zu sein, und versucht, es umzusetzen. Ich hatte getan, was ich immer schon getan hatte. Mein Leben lang hatte ich sportliche Ziele verfolgt. Meine Gedanken schweiften wieder zu Hannah. Nun hatte auch sie klare sportliche Ziele. Eine komische Wendung der Geschichte. Daran hatte ich wirklich nicht geglaubt. Noch war ich mir unsicher, ob ich dies gut oder schlecht fand. Auf jeden Fall spürte ich ihren Willen. Ihr Wollen.
Das allein war der einzig wichtige Grund, sie in allen ihren Wünschen zu 100 Prozent zu unterstützen. Ich erinnerte mich daran, als Hannah das Voltigieren für sich entdeckt hatte. In erster Linie ging es ihr ums Schauspielen. Der Ausdruck der Tänzer auf dem Pferd faszinierte sie von Beginn an, weniger die sportliche Leistung. Sie liebte es, sich darzustellen; am meisten beeindruckten sie die Kostüme der Voltigierer. Einfallsreich, bunt, auffällig und im Idealfall passend zu der Kür, die man auf dem Pferd präsentiert. Von Leistungssport war am Anfang überhaupt nicht die Rede. Mir war diese Einstellung sehr recht.
Lange hatte ich gehofft, Hannah würde ihr musisches Talent weiterverfolgen. Doch das Spiel mit der Geige glich nach anfänglichem Zauber einem Leistungssport. Stundenlanges Üben, Disziplin und der alleinige Fokus auf die Entwicklung ihres Geigenspiels entsprachen nicht ihrer kindlichen Seele. Der Spaß an der Bewegung, die Faszination der Klänge und die Unbekümmertheit, ihrem Talent leistungsfrei nachzugehen, das wünschte ich mir für Hannah. Ich wusste nicht warum, aber so empfand ich das von Anfang an bei ihr. Der frühe Fokus auf die Verbesserung eigener Fähigkeiten engt ein, ich selbst hatte dies am eigenen Leib erlebt und arbeitete nun seit 16 Jahren als Trainer daran, die elegante Form des Schwimmens als Leistung so früh und so schnell wie möglich zu definieren. Und immer gab es an jeder Leistung, war sie auch noch so gut, etwas auszusetzen. Permanenter Druck, etwas besser machen zu müssen, nie zufrieden zu sein – keine einfache Aufgabe für einen jungen Menschen.
Ich selbst war ein Kind des Leistungssports.
Der ununterbrochene Stress, den ein Streben nach einer außergewöhnlichen Leistung mit sich bringt, sei sie nun sportlicher oder musischer Natur, kostet zu viel Energie. Die eigene Kraft und Leidenschaft hätte ich auch in eine leichtere, dankbarere Aufgabe investieren können. Hannah schuf sich auf dem Pferd ihre eigene Welt, und das war gut so. Das Voltigieren passte wunderbar in diese Welt. Gab es eine bessere Beschäftigung, als seine Freizeit mit den Pferden zu verbringen? Hannah lernte sozial sehr viel, bewegte sich an der frischen Luft, war auch im Winter meist bei großer Kälte im Stall und schuf sich einen perfekten Ausgleich zum intensiven Schulalltag. Ich sah im Voltigieren weniger den Sport als vielmehr die perfekte Kombination aus Bewegung, Tanz und Kreativität, hier konnte sie alle ihre Talente perfekt miteinander vereinen, jenseits des Leistungsdenkens.
Auch Roswitha unterstützte Hannah mit all ihrer Kraft, Zeit, Energie und Emotion. Sie hatte als Jugendliche selbst ein Pferd besessen, das Reiten, den Stall und sein Umfeld lieben gelernt. Mit Hannahs Einstieg in die Welt des Pferdesports kam auch Roswithas Leidenschaft für Pferde zurück. Nun war sie Trainerin und Obfrau des Voltigiervereins, in dem Hannah täglich trainierte. Vier Jahre zuvor hatte Roswitha mit ihrem Pas de deux bei den damaligen Europameisterschaften die Bronzemedaille erobert, Hannah hatte die Welt des Pferdeleistungssports hautnah als Kind miterlebt. Von da an war ihr klar gewesen: Sie wollte auch zu den Europameisterschaften!
So entstand ein Kreislauf, der auch Hannah zu einer Leistungssportlerin formte. Ich lebte seit über 20 Jahren im und für den Schwimmsport, selbst war ich immer Vollblutleistungssportler gewesen, Roswitha, ebenso ehrgeizig, liebte die Pferde und hatte sich das Know-how im Voltigieren erarbeitet. Hannahs Weg war vorgezeichnet. Sie ging ihn unweigerlich nach dem Vorbild ihrer Eltern.
Das Läuten meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Ich telefonierte mit dem Geschäftsführer der Landessportorganisation. Gegen Ende des Gesprächs erzählte ich ihm von meinen Schmerzen in der Brust und meiner Unruhe. Noch während ich meinen Zustand beschrieb, kam ich mir lächerlich vor, ich versuchte, das Gesagte sofort wieder abzuschwächen, auch die Besorgnis in der Stimme meines Gesprächspartners ignorierte ich. Hannah kam von ihrem Training, ich beendete das Gespräch und lächelte meine Tochter an. Wieder schmerzte es in meiner Brust.
Beim Abendessen erschrak Roswitha über meinen Anblick. Sie nahm zum ersten Mal das Wort Herzinfarkt in den Mund, ich wiegelte ab. Ich spielte die Brustschmerzen hinunter, sagte, ich hätte wohl bloß einen Muskelkater, verursacht durch das Krafttraining am Vortag. Hätte ich tatsächlich einen Herzinfarkt erlitten, hätte ich wohl kaum auf den Untersberg laufen können.
Kein Mensch könnte das.
Ich nahm zwei Schmerztabletten, hoffte, mich über Nacht zu erholen und Roswithas Verdacht auf einen Herzinfarkt am nächsten Tag Lügen strafen zu können. Mir ging es tatsächlich besser. Die Nacht war unruhig, ich wachte mehrfach auf, fühlte mich aber erholter und ruhiger. Die Schmerzen in der Brust waren immer noch spürbar, das beklemmende Gefühl war weiterhin vorhanden, ich empfand Druck, doch ich versuchte, die Symptome nicht überzubewerten. Roswitha blieb auch am nächsten Tag hartnäckig, bestand darauf, meine Beschwerden von einem Internisten abklären zu lassen. Widerwillig setzte ich mich auf mein Rad und fuhr zu meinem Internisten, der seit vielen Jahren meine Schwiegereltern und auch meine Frau betreute.
Das Wartezimmer war voll, ich wartete über eine Stunde, wollte bereits dreimal wieder nach Hause fahren. Ich hasse Warten, speziell in einer Ordination, und es erschien mir noch unerträglicher bei einem Termin wie diesem, den ich ohnehin für sinnlos hielt. Als ich endlich an die Reihe kam, erklärte ich den Grund für mein Kommen. In jedem zweiten Satz nannte ich schlüssige Gründe für meine eigenartigen Schmerzen, ich bat um eine schnelle Fachmeinung. Die ersten Untersuchungsergebnisse schienen nicht auszureichen, um mich wieder nach Hause zu schicken; nach einem EKG waren Blutuntersuchungen zur weiteren Abklärung notwendig. Die behandelnden Schwestern agierten plötzlich hektisch und gestresst, und als der Internist zu mir ins Behandlungszimmer kam, wusste ich, dass etwas nicht stimmte.
„Sie haben einen schweren akuten Hinterwandinfarkt“, konfrontierte er mich nach einem finalen Herzultraschall mit der Realität. „Sie müssen sofort ins Krankenhaus.“
Die Vehemenz seiner Worte erschütterte mich, ich brauchte einige Momente, um das Gesagte zu begreifen. Ich fühle mich besser, ich bin eben mit dem Rad zu Ihnen gefahren und tags davor 1400 Höhenmeter auf den Untersberg gelaufen, wie ist das möglich?, dachte ich, doch ich sagte nur: „Okay, ich fahre mit dem Rad ins Krankenhaus.“ „Sie haben einen schweren Herzinfarkt!“, fuhr mich der Internist an, „die Rettung ist in wenigen Minuten da!“
Ich schluckte, blickte leer an ihm vorbei und wartete darauf, dass ich das eben Gesagte einfach an mir vorbeiwandern lassen könnte. Als würde es mich nicht betreffen.
„Tut mir leid“, hörte ich den Arzt noch sagen und war wieder allein im Behandlungszimmer.
Ich war 37 Jahre alt. Sportler. Topfit. Keine Risikofaktoren. Alle Herzgefäße entsprachen diesem Image – bis auf eines, das weigerte sich.
Herzinfarkt.
Das folgende Telefonat war das schlimmste meines Lebens. Ich zog, immer noch im Behandlungsraum liegend, mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer meiner Frau. Das Aussprechen der Diagnose gelang mir nicht, wieder bagatellisierte ich: „Mir geht es gut, sie wollen mich mit der Rettung ins Krankenhaus fahren, es wird nicht so schlimm sein.“
Ich fühlte Unglauben, schlechtes Gewissen, Trotz. Was mir jedoch wichtig war: dass Roswitha mein Rad abholte. Im Anschluss rief ich meinen Freund und Trainerkollegen Marino an und bat ihn, sich in den nächsten Tagen um alles im Verein und beim Training zu kümmern.
Ich war selbst noch aktiver Sportler gewesen, als Marino 1989 nach Salzburg gekommen war und als Trainer bei meinem Verein zu arbeiten angefangen hatte. Von Anfang an liebte ich seine Trainings, noch mehr jedoch faszinierten mich sein offenes Wesen und sein Lachen. Es war anders, als ich es bisher gekannt hatte. Marino war zwölf Jahre älter als ich, war vor den Wirren des Krieges in Kroatien nach Österreich geflüchtet und sprach nur bruchstückhaft Deutsch. Ich verstand anfangs nur sein Herz, kaum seine Aussprache. Er kommunizierte in einer Mischung aus Deutsch, Englisch und Zeichensprache. Nie wusste ich genau, was er ausdrücken wollte, doch ich verstand ihn jedes Mal. Seine Menschlichkeit, seine Ehrlichkeit und sein offenes Wesen bedeuteten mir mehr als seine fachlichen Fähigkeiten. Mehrmals besuchten wir ihn und seine Familie im Sommer auf seiner Heimatinsel Hvar, wo er jedes Jahr die Ferien verbrachte. Sein Steinhaus auf einer Anhöhe über einer Bucht direkt am Meer war seine Oase des Rückzugs. Er lebte am Strand und harpunierte häufig unser Abendessen aus dem Meer. Die erbeuteten Tintenfische, Muscheln oder Fische stellten gegrillt den Höhepunkt jedes Abends dar. Er war ein Kind des Meeres. Uns verband eine enge Freundschaft, er wurde im Laufe der Jahre zu meinem großen Bruder. Er beruhigte mich am Telefon und gab mir zu verstehen: Mach dir keine Sorgen. Ich kümmere mich um alles. Wir schaffen das.
Trotzdem fühlte es sich unwirklich an, ich wollte in den Krankenwagen steigen, die Pfleger ließen mich nicht. Sie transportierten mich auf einer Trage liegend in den Wagen und fuhren mit Warnsignalen ins Landeskrankenhaus, wenige Minuten später lag ich bereits am Operationstisch zur anstehenden Herzkatheteruntersuchung. Eine der behandelnden Ärztinnen war die Mutter einer meiner Schwimmerinnen. Sie begrüßte mich verdutzt, gab mir aber auch das Gefühl der Vertrautheit: Ich war nach wie vor bei meinen Schwimmern. Während ich am Operationstisch lag und alle Vorbereitungen für den Eingriff an meinem Herzen vorgenommen wurden, realisierte ich Stück für Stück die Dramatik der Situation.
Warum?
Warum?
Womit hatte ich das verdient?
Was habe ich falsch gemacht?
Ich konnte die Tränen nicht mehr unterdrücken, sie kamen wie von selbst und rollten über die zitternden Wangen. Tränen und Verzweiflung. Bei vollem Bewusstsein schoben mir die Ärzte einen dünnen Kunststoffschlauch über eine Vene des Unterarms ins Herz. Auf einem Monitor konnte ich alle Herzkranzgefäße erkennen. Stück für Stück arbeiteten sich die Ärzte durch das Gefäßsystem und suchten nach dem Verschluss. Ich spürte die Bewegungen des Schlauchs, nicht schmerzvoll, aber dumpf, als würde jemand ganz nach innen vordringen, in meinen Mittelpunkt einbrechen, und unwillkürlich dachte ich an „That cold black cloud is comin’ down, feels like I’m knockin’ on heaven’s door“ von Guns N’ Roses.
Erst als ich ein Beruhigungsmittel injiziert bekam, wurde ich teilnahmslos. Ich bekam nicht mehr mit, dass das verschlossene Gefäß wieder geöffnet werden konnte, ein Stent eingesetzt wurde und ich nach rund einer Stunde bereits wieder auf der Intensivstation der Herzchirurgie des Landeskrankenhauses lag, in einem Operationshemd. Ich roch Albert, sah ihn aber nicht, er musste wohl an meinem Krankenbett sitzen. Ich beruhigte mich nun auch innerlich, mit meinem Glücksbringer an meiner Seite schlief ich ein, in dem Wissen: Alles wird gut.
Es war September, mein Oberkörper, braun gebrannt von der Sonne meines Korsika-Urlaubs und muskulös durch das ständige Training, bewegte sich langsam und rhythmisch. Als ich aufwachte, war Albert verschwunden, ich begann unweigerlich zu weinen, es war reinigend. Nach einer Weile fiel mein Blick auf den Monitor vor mir: 46, 48, 50, 49, 49, 52, 52, 50 – meine Herzfrequenz. Auch sah ich die Herzfrequenzen der anderen Intensivpatienten auf einem weiteren Bildschirm, zusammen mit meiner eigenen. Sechs unterschiedliche Frequenzen, alle waren höher als die meine. Bis auf eine. Drei bis fünf Schläge pro Minute schlug dieses Herz stabil weniger. Ich beobachtete den Monitor zehn Minuten lang, suchte nach Tendenzen in den jeweiligen Frequenzen und versuchte, mich selbst zu entspannen. Atme langsamer, leg den Oberkörper flach, halte deine Luft an, atme tiefer ein und aus, befahl ich mir. Ich wollte die Veränderung auf dem Monitor beobachten. Meine Frequenz wurde langsamer, fiel zwei, drei Schläge im Durchschnitt nach unten. Immer noch Zweiter, aber näher dran, meldete sich mein Ehrgeiz.
Ich hatte eine Beschäftigung.
Ich hatte einen Anreiz.
Ich war motiviert.
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