Kitabı oku: «Trauma und interkulturelle Gestalttherapie», sayfa 3

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In einem Land wie Bolivien ist eine kontextualisierte Gestalttherapie gefragt, da die ursprüngliche Form aus dem Norden – namentlich Europa und den USA – stammt. Diese kann nur von den einheimischen Psychotherapeuten vor Ort entwickelt werden. In der Gestaltausbildung in La Paz gebe ich meinen Studenten diese schwierige Aufgabe als Herausforderung mit. So wird man als Gestalttherapeut in Bolivien mit spezifischen kulturellen Introjekten konfrontiert, die vielleicht in einem bestimmten Maß auch in Europa gelten, aber doch nicht (mehr) in dieser gewaltigen Intensität, z. B.: Du sollst deinem Vater ergeben sein, ihm nicht widersprechen oder direkt in die Augen schauen. Als junges Mädchen sollst du warten, bis du gefragt wirst; als Junge sollst du auf jedem Terrain die Initiative ergreifen. Eine andere Akzentuierung der therapeutischen Arbeit betrifft die Leitung einer Selbsterfahrungsgruppe als Paar, als Mann und Frau. Erstens arbeitet und ist man nicht gern allein, und zweitens hat sich diese Zusammensetzung sowohl für die Leitung als auch die Gruppe als außerordentlich fruchtbar herausgestellt. Zudem möchte ich die heilsame, horizontale Gesprächsebene hervorheben, wenn sich die Menschen in Bolivien gesehen und gehört fühlen. Wahrscheinlich hängt dieses Bedürfnis bzw. dessen befreiende Befriedigung mit der jahrhundertelangen kollektiven Unterdrückung während der kolonialen und diktatorischen Geschichte zusammen. Zum Schluss möchte ich ihre Freude an Körperarbeit, Spielsequenzen und Ritualen betonen. Wenn diese Elemente in den gestalttherapeutischen Prozess eingebracht werden, so erzielen sie meist eine äußerst positive Wirkung.

2. DATEN

2.1 Allgemeine Daten zu den Teilnehmern

Das Forschungsprojekt zu traumatischen Erfahrungen und vorhandenen Ressourcen unter der studentischen Bevölkerung von La Paz und El Alto war eine Vergleichsstudie zwischen drei Universitäten: der Öffentlichen Universität von El Alto (UPEA), der Bolivianischen Katholischen Universität »San Pablo« (UCB) und der Öffentlichen Universität »Mayor de San Andrés« (UMSA). Die Daten hinsichtlich einer Gruppe von europäischen Jugendlichen (Europa), die für eine Zeit lang in Bolivien lebten, wurden im Sinne einer Kontrollgruppe eingeführt und ausgewertet. Diese umfangreiche Studie wurde von 2007 bis 2009 von einem Forschungsteam unter meiner Leitung durchgeführt. Die zehn bolivianischen Psychologen,18 sechs Frauen und vier Männer, haben während drei bis vier Monate den therapeutischen Prozess in verschiedenen gestalttherapeutischen Selbsterfahrungsgruppen begleitet. Es war uns nämlich wichtig, die teilweise äußerst schmerzhaften und Angst erregenden Erinnerungen, die von den Fragen ausgelöst wurden, auffangen zu können. Die Erhebung der Daten mittels acht verschiedener Fragebögen19 fand etwa in der Mitte des jeweiligen Selbsterfahrungsprozesses statt. Bezüglich der europäischen Jugendlichen in Bolivien erfolgte sie jedoch außerhalb jeglicher therapeutischer Arbeit, weil sie nicht für die Teilnahme in einer solchen Gruppe zu motivieren waren.

Jede der drei befragten Gruppen repräsentiert nicht die gesamte Studentenschaft der betreffenden Universität, so wie die europäische Gruppe keineswegs die Bevölkerung Europas vertritt. Somit können die Auswertungen und Analysen jeder einzelnen Gruppe nicht ohne Weiteres auf die Situation der betreffenden Universität bzw. Europas übertragen werden. Immerhin ist jede Gruppe relativ klein und nicht durch reinen Zufall zustande gekommen. Dennoch waren wir an den drei größten und renommiertesten Universitäten von La Paz20 und El Alto tätig und konnten eine repräsentative Durchschnittsmenge der studentischen Bevölkerung im Westen Boliviens, d. h. im andinen Kulturraum, erfassen. Angesichts der enormen Heterogenität im Land, was Sprache, Kultur, Hautfarbe, finanzielle, geografische und klimatische Aspekte betrifft, erheben wir keineswegs den Anspruch, die von uns befragte Population repräsentiere die Bevölkerung Boliviens. Dennoch geben unsere Forschungsresultate erstmals einen Einblick in die Realität dieser Menschen bezüglich ihrer traumatischen Erfahrungen und eigenen Ressourcen, während die europäische Kontrollgruppe einen generellen Vergleich ermöglicht hat. Trotz aller Einschränkungen wage ich sogar zu behaupten, dass viele Resultate auch für die Bevölkerung in einem anderen lateinamerikanischen Land und sogenannten Dritte-Welt-Land auf dem afrikanischen Kontinent gelten. Denn die Umwelt dieser Menschen wird von einer ›Strukturellen Gewalt‹21 – von extremer Armut, Ausbeutung und Ausschluss – geprägt, und diese verursacht eben ganz bestimmte psychosoziale Konsequenzen. Gleichzeitig wird wohl klar sein, dass es dringend noch viel mehr Forschung und Vertiefung zu diesem Themenkreis bedarf.

Die folgenden drei Tabellen präsentieren einige Zahlen, die aus dem Fragebogen zur Erhebung allgemeiner Daten hervorgegangen sind.


Abb. 1.1: ABCD. Statistiken zum Alter der Teilnehmer

In Abb. 1.1 sieht man, dass sich mit 25 Jahren der höchste Altersdurchschnitt der Studenten an der UMSA und UPEA befindet. Der höchste Zentralwert der Verteilung liegt ebenfalls an der UPEA bei 24 Jahren. Die größte Streuung oder der am häufigsten wiederholte Wert befindet sich an der UMSA mit 23 Jahren. Das Mindestalter aus den vier Gruppen befindet sich an der UCB mit 17 Jahren und das Höchstalter an der UPEA mit 38 Jahren.

An der Universidad Católica Boliviana »San Pablo« (UCB: Katholische Bolivianische Universität ›Sankt Paul‹) bestand die ausgewählte Population aus Studenten verschiedener Studienrichtungen, die sich für das Fach ›Selbsterfahrung‹ entschieden hatten. Alle Studenten dieser Universität welcher Fachrichtung auch immer müssen obligatorisch drei Vorlesungen oder Seminare von je einem Semester – vier Monate – in ›Lebenskunde‹ (Religion, Ethik, Philosophie, Lebensbewältigung, soziales Engagement) besuchen, die sie allerdings unter rund zwanzig verschiedenen Angeboten frei auswählen können. Die UCB ist katholisch und bei Weitem die größte Privatuniversität von La Paz; im Jahr 2009 (erstes Semester) gab es 5.054 Immatrikulierte.22 Die Infrastruktur und die neue Bibliothek können sich am westlichen Standard messen. Die Studienkosten sind für bolivianische Verhältnisse sehr hoch und können nur von Personen aus der Mittel- und Oberschicht bestritten werden. Weil in Bolivien la plata viene y va (»das Geld kommt und geht«), sehen sich die Studenten dieser Universität oftmals gezwungen, ihr Studium einige Semester zu unterbrechen oder sogar definitiv abzubrechen. Die UCB hat eine 43-jährige Geschichte und genießt innerhalb Lateinamerikas großes Ansehen; schließlich gibt es praktisch in jedem süd- oder mittelamerikanischen Land eine solche Katholische Privatuniversität.

An der Universidad Pública de El Alto (UPEA: Öffentliche Universität von El Alto) haben wir einen unentgeltlichen gestalttherapeutischen Selbsterfahrungskurs ausgeschrieben und den Teilnehmern nach Ablauf der drei Monate ein Zertifikat23 überreicht. Es meldeten sich viel mehr Studenten, als wir erwartet hatten und aufnehmen konnten. Weil unsere Kontaktperson an der Universität Erziehungswissenschaften dozierte, stammten die meisten Teilnehmer aus dieser Studienrichtung. Das Studium an dieser öffentlichen, autonomen Universität ist kostenlos; dennoch müssen die Studenten die Kopien bestimmter Ausschnitte aus wichtigen Studienbüchern, den Zugang zu den Prüfungen und den Erhalt von Zeugnissen und Diplomen bezahlen, was für sie bereits eine beträchtliche Ausgabe darstellt. An der Universität mangelt es am Notwendigsten, wie Papier oder Kreide. Das Gebäude mit den kaputten Fenstern und der fehlenden Farbe ist äußerst hässlich und drinnen ist es eiskalt. Diese Universität wurde erst vor sechs Jahren von der Bevölkerung von El Alto erkämpft und gilt nun als Bollwerk des Volkes; sowohl die Leitung als auch die Studenten sind sehr politisiert. Die UPEA hatte im Jahr 2008 13.650 Immatrikulierte.

Auch an der Universidad Mayor de San Andrés (UMSA: Höhere Universität von Sankt Andreas) meldeten sich die Studenten freiwillig auf unser Angebot eines dreimonatigen unentgeltlichen gestalttherapeutischen Selbsterfahrungskurses mit Zertifikat. Die Mitglieder der Arbeitsequipe hatten alle an dieser Universität Psychologie studiert und sich nun innerhalb ihrer Fakultät für den Kurs geworben. Im Verlauf des Selbsterfahrungsprozesses zogen sich aber auffallend viele Teilnehmer vorzeitig zurück. Wahrscheinlich ist dieser Abbruch unter anderem darauf zurückzuführen, dass ein Prophet im eigenen Land kaum Anerkennung findet. An dieser alten und riesigen Staatsuniversität, deren Gebäude im Zentrum von La Paz verstreut liegen, gab es im Jahr 2008 81.324 Immatrikulierte. Auch an dieser Universität ist das Studium kostenlos, obwohl es beträchtliche Nebenkosten gibt. Um an dieser Staatsuniversität aufgenommen zu werden, müssen die Tausenden von Interessenten zuerst eine Aufnahmeprüfung bestehen, auf die sie an der allgemeinen Sekundarschule24 nicht ausreichend vorbereitet wurden, sodass sie nach dem bachillerato (mit dem Abitur vergleichbar) zuerst noch einen zusätzlichen Kurs besuchen müssen. Jedes Jahr wird nur ein kleiner Prozentsatz der Allerbesten an der Staatsuniversität akzeptiert, während die Mehrheit mit der Absage auch die Chance auf einen ordentlichen Beruf verpasst hat (wobei auch ein universitäres Studium keinerlei Garantie für einen Arbeitsplatz darstellt).

Hinsichtlich der Kontrollgruppe haben wir ausschließlich Europäer zwischen 18 und 30 Jahren eingeladen, die hier in Bolivien arbeiten oder ein Praktikum absolvieren. Allerdings mussten sie Spanisch sprechen, damit sie die Fragen verstehen und entsprechend beantworten konnten. Verschiedene Botschaften und internationale Austauschprogramme zeigten ihre Hilfsbereitschaft und vermittelten uns eine Liste möglicher Interessenten. Daraufhin trafen sich mehrere Interessierte an einem Wochenende zum Austausch über ihre Erfahrungen zwischen den Kulturen; die Datenerhebung war ein Bestandteil dieses kostenlosen Workshops. Allerdings waren nur wenige Europäer in Bolivien an diesem Workshop und schon gar nicht an einem Selbsterfahrungskurs interessiert. Folglich insistierten wir und legten mehreren Jugendlichen während eines einmaligen Treffens die Fragebogen individuell ohne Einführung oder Nachbetreuung vor. Da diese Gruppe von Ausländern aus besonderen Jugendlichen mit ganz bestimmten Vorlieben und Motivationen besteht, repräsentiert sie also keineswegs die europäische Jugendbevölkerung. Dennoch wird die Analyse der traumatischen Erfahrungen und eigenen Ressourcen in Bolivien durch die Kontrastierung der Daten dieser Gruppe mit jenen der bolivianischen Gruppen um eine wichtige Perspektive von außen erweitert.


Abb. 1.2: ABC. Teilnehmer der UPEA, UCB und UMSA, je nach Sprache, die sie sprechen

Aus Abb. 1.2 geht hervor, dass alle Studenten der drei Universitäten UPEA, UCB und UMSA ausnahmslos Spanisch sprechen. Ketschua wird übrigens seit jeher vor allem im Zentrum und Südwesten Boliviens gesprochen, um die Städte Cochabamba und Potosí herum. Interessant ist, dass zwar 44 Prozent der Teilnehmer der UCB, aber lediglich 10,5 Prozent der UMSA und sogar 0 Prozent der UPEA zusätzlich eine ausländische Sprache – höchstwahrscheinlich Englisch – sprechen.

Mehr als die Hälfte der Studenten der UPEA spricht noch immer Aymara, während nur ein ganz kleiner Teil der Studenten der UMSA und UCB diese einheimische Sprache beherrscht. Etwa zwei Drittel der Studenten der UPEA gaben zudem an, Aymara als Muttersprache zu haben. Dies heißt konkret, dass im Laufe der Zeit etwa 13 Prozent dieser Studenten ihre Muttersprache aufgegeben haben. Diese Daten scheinen auf einen gesellschaftlichen Prozess rasant verlaufender Angleichung an die globalen Wertvorstellungen auf Kosten kultureller Eigenheiten hinzuweisen. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz scheint Aymara oder Ketschua später im Leben erlernt zu haben. Letzteres ist an und für sich nicht erstaunlich, da diese ungeschriebenen Sprachen mit zahlreichen Suffixen und differenzierter Aussprache äußerst schwierig zu erlernen sind.


Abb. 1.3: ABC. Kulturelle Identität der Teilnehmer der UPEA, UCB und UMSA

In Abb. 1.3 kann man beobachten, dass sich 41.5 Prozent der Teilnehmer der UPEA, 76 Prozent der UCB und 94,7 Prozent der UMSA im Sinne der kulturellen Identität als ›Mischlinge‹ bezeichnen. Kein einziger der Teilnehmer der UPEA und der UMSA hat eine ›weiße‹ kulturelle Identität, während 21,3 Prozent der UCB sich zur weißen Rasse zugehörig bezeichnen. 60,4 Prozent der Teilnehmer der UPEA, 2,7 Prozent der UCB und 5,3 Prozent der UMSA bezeichnen sich bezüglich kultureller Identität als ›Indigene‹.

Während etwa 25 Prozent der Teilnehmer aus Europa ihre kulturelle Identität als ›europäisch oder abendländisch‹ bezeichnen, geben etwa 20 Prozent gar keine Antwort auf diese Frage. Anscheinend ist die kulturelle Identität überhaupt kein Thema für diese Jugendlichen.

Einige interessante Ergebnisse in Bezug auf die allgemeinen Daten der Teilnehmer:

 Das Interesse an einer Selbsterfahrungsgruppe ist bei Frauen weitaus größer als bei Männern. Im Durchschnitt ist das Verhältnis zwei Drittel Frauen zu einem Drittel Männer.

 Während über 90 Prozent der Teilnehmer der UPEA unter extremen klimatischen Verhältnissen auf über 4.000 Metern Höhe in den Armenvierteln von El Alto lebt, residiert mehr als die Hälfte der Teilnehmer der UCB im wohlhabenden südlichen Teil von La Paz, mit einem angenehmen Klima auf 3.000 Metern Höhe. Kein einziger Student der UCB wohnt in El Alto und kein einziger Student der UPEA wohnt im südlichen Teil von La Paz. Hingegen sind die Studenten der UMSA gemischt.

 Während fast ein Viertel der europäischen Jugendlichen in ihrer Heimat alleine lebt, tun dies im Durchschnitt höchstens 7 Prozent der Studenten in Bolivien. Meistens leben sie nur deshalb allein, weil sie von den ländlichen Gebieten oder aus anderen Städten Boliviens hergezogen sind.

 Im Durchschnitt leben 75 Prozent der bolivianischen Studenten mit der Mutter und nur 61 Prozent mit dem Vater zusammen, während lediglich 51 Prozent der Teilnehmer aus Europa in der Heimat mit ihren Angehörigen zusammenleben.

 Ein relativ hoher Prozentsatz der befragten Studenten der UPEA – nämlich 11 Prozent – sind alleinerziehende Eltern.

 16 Prozent der Teilnehmer der UCB, 3 Prozent der UMSA und 0 Prozent der UPEA leben mit einer Hausangestellten zusammen. Diese weiblichen Angestellten wohnen meistens im Haus, werden manchmal als Sklaven, manchmal als Familienangehörige behandelt.

 Die Mehrheit der erfassten Jugendlichen aus Europa bleibt ungefähr ein Jahr in Bolivien. Umgekehrt ist ein solcher Aufenthalt bolivianischer Jugendliche in Europa nur in wenigen Ausnahmefällen – als Austauschstudent oder illegal – realisierbar.

2.2 Inventar traumatischer Ereignisse

Der Fragebogen, um die erlebten potenziell traumatischen Ereignisse zu inventarisieren, wurde vom Forschungsteam erstellt und aufgrund von drei Pilotversuchen validiert. Er besteht aus 22 Arten verschiedener traumatischer Ereignisse.25 Die Teilnehmer haben diese traumatischen Ereignisse ›direkt‹, das heißt am eigenen Leib, und/oder ›indirekt‹ als Zeugen oder vom Hörensagen erlebt.

Im folgenden Kasten werden einige Vergleiche aufgelistet, wobei die Höchstwerte klar hervorgehoben sind. Zum richtigen Verständnis der Resultate muss vorausgeschickt werden, dass es sich hier um die Prävalenzen der verschiedenen Arten traumatischer Ereignisse handelt, die zeitlebens direkt erlebt wurden. Es wird nichts über eine mögliche Wiederholung einer besonderen Art von traumatischem Ereignis ausgesagt. Die Anzahl der Teilnehmer der UPEA beträgt 53, der UCB 75, der UMSA 38 und aus Europa 33.


Abb. 2.1: Zeitlebens direkt erlebte traumatische Ereignisse

Auffallend ist der ungefähr dreimal so hohe Prozentsatz an traumatischen Erfahrungen in den Bereichen sexuellen Missbrauchs, gewaltsamer Tötung und Geldprobleme der bolivianischen Studenten im Vergleich zu jenem der europäischen Teilnehmer.

Im Durchschnitt erlebten die bolivianischen Studenten zeitlebens mehr traumatische Ereignisse direkt (8) als indirekt (6 oder 7). Bei den europäischen Jugendlichen ist es gerade umgekehrt: sie erlebten zeitlebens im Durchschnitt mehr traumatische Ereignisse indirekt (9) als direkt (6).

Die befragten europäischen Jugendlichen scheinen sich einigermaßen vor direktem, aber nicht vor indirektem Erleben traumatischer Erfahrungen schützen zu können. Es ist faktisch unmöglich, dass sie mehr traumatische Erlebnisse indirekt erlebt haben, als die bolivianischen Studenten, die in einer Umgebung voller Gewalt aufgewachsen sind. Anscheinend reagieren die Jugendlichen aus Europa, die nicht so viele traumatische Ereignisse direkt erlebt haben, auf die eigenen traumatischen Erfahrungen sensibler, mit einer größeren Intensität, und auf die traumatischen Erfahrungen Anderer bewusster.


Abb. 2.2: ABCD. Häufigkeit im Auftreten eines Traumas, das in den letzten zwölf Monaten von Teilnehmern der UPEA, UCB, UMSA und aus Europa ›mehrmals‹ oder ›oft‹ direkt erlebt wurde: die elf wichtigsten Ereignisse (in Prozentzahlen)

In Abb. 2.2 werden für die vier untersuchten Gruppen die elf wichtigsten traumatischen Ereignisse dargestellt, welche die Teilnehmer in den letzten zwölf Monaten direkt erlebt haben und die ›mehrmals‹ oder ›oft‹ vorgekommen sind.

In Bezug auf den ›Kontakt mit einer Person in einer unmenschlichen Situation‹ ergibt sich für Europa der höchste Prozentsatz mit 50 Prozent, während dieses Ereignis an der UMSA nicht einmal erwähnt wird. Anscheinend geht es bei der Wahrnehmung dieses Phänomens um eine Gewöhnungssache. Womöglich muss man vor allem hinsichtlich der ›leichteren‹ potenziell traumatischen Ereignisse zwischen deren subjektiven Wahrnehmung und deren realen Erleben unterscheiden.

In Bezug auf die Prävalenz von 11,8 Prozent in Sachen ›Naturkatastrophe‹ für die UPEA liegt es nahe, dass die betreffenden Teilnehmer im vergangenen Jahr wohl in der Stadt keine Dürre oder Überschwemmung erlebt haben. Aber wahrscheinlich haben sie noch immer eine starke Bindung zum Land, wo sie im letzten Jahr sogar mehrmals oder oft das Opfer einer solchen Naturkatastrophe wurden. Tatsächlich sind in Bolivien die extremen Dürren und Überschwemmungen regelmäßig wiederkehrende Phänomene.

Aufgrund der hohen Prävalenz der folgenden Ereignisse allein schon im letzten Jahr kann man sagen, dass diese für die Teilnehmer aus La Paz und El Alto praktisch zum Alltag gehören: ›Kontakt mit Person in unmenschlicher Situation‹, ›verbale Aggression außer Haus‹, ›Geldprobleme‹, ›körperliche Verwahrlosung‹, ›unfreiwillig grausamen Bildern ausgesetzt sein‹ und ›politische/soziale Konflikte‹. Obwohl ›sexueller Missbrauch‹, ›eine Naturkatastrophe‹, ›ein Verkehrsunfall‹, ›Überfall/Raub‹ und ›der gewaltsame Tod einer unbekannten Person‹ etwas weniger häufig auftreten, scheinen auch diese Ereignisse in La Paz und El Alto keine außergewöhnlichen, sondern durchaus ›normale‹ Phänomene darzustellen.

Die meisten traumatischen Erfahrungen sind von den Teilnehmern im Alter zwischen 15 und 21 Jahren gemacht worden. Dieses Alter scheint eine risikoreiche Lebensetappe darzustellen, in der die Jugendlichen sehr verletzlich sind. Es ist auffallend, dass die Teilnehmer relativ wenige traumatische Erfahrungen vor ihrem achten Lebensjahr angeben. Anscheinend sind fast nur die zuletzt gemachten traumatischen Erfahrungen in ihrem Gedächtnis präsent, während die traumatischen Ereignisse, die weit in der Zeit zurückliegen, verdeckt und verdrängt worden sind.

Das Alter, in dem die meisten Teilnehmer ›sexuellen Missbrauch‹ oder ›sexuelle Gewalt‹ erlebt haben, liegt in der Pubertät zwischen 10 und 16 Jahren, im Falle der Teilnehmer der UMSA allerdings auch bei 7 bzw. 23 Jahren.

In der nächsten Abb. 2.3 werden für die vier untersuchten Gruppen die elf wichtigsten traumatischen Ereignisse dargestellt, welche die Teilnehmer zeitlebens direkt erlebt haben und sie ›stark‹ oder ›extrem‹ betroffen haben. Die enorme Intensität, mit der die ›sexuelle Gewalt‹ – im Vergleich zu allen anderen traumatischen Erfahrungen – von den Teilnehmern erlebt wird, ist ohne Weiteres auffallend.

Die Intensität, mit der Äußerungen verbaler Aggression sowohl daheim als auch außer Haus aufgenommen werden, ist wider Erwarten hoch. Im Durchschnitt werden sie sogar stärker oder extremer als Äußerungen kör- perlicher Aggression empfunden, die relativ weniger Betroffenheit auslösen. Im therapeutischen Prozess ist immer wieder von tiefen Verletzungen die Rede, die ihnen in der Kindheit oder Pubertät von den Lehrern oder sogar eigenen Eltern zugefügt worden sind. Meistens sind sie vor allem wegen ihrer dunklen Haut (die Farbbezeichnung ›Kaffee‹ ist schlimmer als ›Schokolade‹ oder ›Milchkaffee‹) brutal diskriminiert und z. B. als ›negro de mierda‹ (Scheißschwarzer) ausgeschimpft worden.


Abb. 2.3: ABCD. Intensitätsgrad ›stark‹ und ›extrem‹ im direkten Erleben eines Traumas von Teilnehmern der UPEA, UCB, UMSA und aus Europa: die elf wichtigsten Ereignisse (in Prozentzahlen)

Die Tatsache, dass sich die europäischen Teilnehmer im Vergleich zu den bolivianischen Studenten von mehreren traumatischen Ereignissen stärker oder extremer betroffen fühlen, bestätigt ihre bereits festgestellte Sensibilität. Andererseits lassen sie sich weniger von eventuellen ›Geldproblemen‹ berühren, während ein Aufenthalt im ›Gefängnis‹, ein ›Unfall‹, eine ›Naturkatastrophe‹ oder eine Einlieferung ins ›Krankenhaus‹ bei ihnen sogar gar keine Betroffenheit auslöst. Dieser Mangel an Sensibilität hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass solche Erfahrungen in Europa angesichts eines doch vorwiegend funktionierenden staatlichen Sozialsystems weniger einschneidend sind. Dagegen verursachen diese Erfahrungen in Bolivien wegen der ausbleibenden finanziellen Unterstützung seitens des Staates bei den Opfern und deren Familien einen enormen Stress.

Abgesehen von der sexuellen und häuslichen Gewalt lösen vor allem der ›gewaltsame Tod einer nahe stehenden Person‹, allerdings auch der ›natürliche Tod einer nahe stehenden Person‹, zudem der ›Beziehungsbruch mit dem Partner‹ und die ›Trennung der Eltern‹ eine starke oder extreme Betroffenheit aus.

Die Erfahrung von ›Geldproblemen‹ löst namentlich unter den Studenten der UPEA eine starke oder extreme Betroffenheit aus, gefolgt von den Teilnehmern der UMSA, UCB und schließlich denjenigen aus Europa. Höchstwahrscheinlich kennen auch die befragten Studenten der UPEA, die fast alle aus El Alto stammen, die größten und schlimmsten ökonomischen Probleme.

2.3 Prävalenz des Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndroms

Um einen ersten Einblick in die Symptome aufgrund der traumatischen Erfahrungen zu bekommen, haben wir uns in der Forschungsequipe für die bereits bestehende Impact of Event Scale – Revised (IES-R) entschieden.


Abb. 3.1: ABCD. Prävalenz der heftigsten traumatischen Ereignisse an der UPEA (n = 53), UCB (n=75), UMSA (n = 38) und in Europa (n = 33) (in Prozentzahlen)

Diese »Bereinigte Skala der heftigsten Ereignisse« wurde ursprünglich von Horowitz erarbeitet, von Weiss und Marmar (1997) überarbeitet, ins Spanische übersetzt und von uns an die Realität Boliviens angepasst. Als wir nämlich das ursprüngliche Instrument, das nach dem momentanen Leiden aufgrund eines traumatischen Ereignisses fragt, probeweise einsetzten, war den Studenten gar nicht klar, auf welches traumatische Ereignis sich die Fragen genau bezogen. Diese Ratlosigkeit war bereits vielsagend und zeigte auf, dass ihr aktuelles psychosoziales Leiden nicht auf ein einziges Ereignis, sondern auf mehrere traumatische Ereignisse zurückzuführen ist.

Folglich fügten wir zwei einleitende Fragen hinzu, damit die Teilnehmer sich auf das heftigste traumatische Ereignis überhaupt in ihrem Leben und das jeweilige Alter konzentrieren würden. Außerdem ersetzten wir die Frage nach den Beeinträchtigungen »in den letzten sieben Tagen« durch »im vergangenen Monat«. Die IES-R besteht übrigens aus 22 verschiedenen Symptomen, die sich in drei Kategorien unterteilen lassen. Die erste Kategorie ist die ›Intrusion‹, die zweite ist die ›Vermeidung und emotionale Taubheit‹ und die dritte Kategorie ist die ›Hyperaktivierung‹. An dieser Stelle möchte ich explizit erwähnen, dass diese Skala die vorhandenen Symptome des Einfachen und nicht des Komplexen Psychotraumatischen Belastungssymdroms26 (PTBS) erfasst. Schließlich wird das Komplexe PTBS, das namentlich Judith Herman ausführlich beschrieben hat, noch nicht offiziell als Diagnose anerkannt und steht erst für eine Aufnahme in die fünfte Ausgabe des DSM zur Debatte. Man hat auch noch kein Instrument entwickelt, um dieses – komplexe – Syndrom festzustellen, es sei denn anhand eines komplizierten und langwierigen Interviews.

In Abb. 3.1 werden die Resultate der vier untersuchten Gruppen dargestellt. Dabei ist zu beachten, dass es sich um eine offene Frage handelt. Das heftigste traumatische Ereignis in ihrem Leben bestand nach Angaben von 32,1 Prozent der Studenten der UPEA und 26,7 Prozent der UCB aus dem ›gewaltsamen Tod einer nahe stehenden Person‹, von 23,7 Prozent der Studenten der UMSA aus dem ›Tod eines Angehörigem, der nicht näher – ob natürlich oder gewaltsam – spezifiziert wurde. Dies bedeutet, dass ein relativ hoher Anteil der Studenten aus nächster Nähe einen gewaltsamen Tod miterlebt hat. Für 24,2 Prozent der Jugendlichen aus Europa war das heftigste traumatische Ereignis in ihrem Leben die ›Trennung der Eltern‹, für 18,2 Prozent der ›Tod eines Angehörigem.

Interessant sind zudem die konkreten Beschreibungen, die wir unter der Rubrik ›Andere‹ heftige traumatische Ereignisse zusammengefasst haben, weil die Teilnehmer z. B. die Nachricht, schwanger zu sein, einen eigenen Suizidversuch oder den einer anderen Person, die Nachricht, dass man eine Stiefschwester hat, ein Essproblem, Gelddiebstahl bei einem Verwandten, Scheidung eines Verwandten, Unfall eines Verwandten usw. angaben. Anscheinend wird ein Suizidversuch oder Essproblem von ihnen nicht als Symptom, sondern an und für sich als etwas Traumatisches empfunden. Außerdem scheinen sie sich sehr mit ihren Verwandten zu identifizieren, indem sie ›lediglich‹ als Zeugen diese Scheidung, den Diebstahl oder Unfall, aber dennoch außerordentlich intensiv miterlebt haben.


Abb. 3.2: ABCD. Grundsätzliche Altersstruktur zur Zeit des heftigsten traumatischen Ereignisses an der UPEA, UCB, UMSA und aus Europa

Abb. 3.2 zeigt, dass im allgemeinen Durchschnitt im Alter von 18 Jahren das heftigste traumatische Ereignis erlebt wurde. Die Streuung, das am meisten sich wiederholende Alter, ist allerdings für die UCB 19 Jahre, UPEA 21, UMSA 23 und Europa 24 Jahre.


Abb. 3.3: ABCD. Prozentsatz der Teilnehmer der UPEA, UCB, UMSA und aus Europa, die das Einfache PTBS aufweisen

Aus Abb. 3.3 gehen die Ausmaße des Einfachen Psychotraumatischen Belastungssyndroms hervor. Über die Hälfte der bolivianischen Studenten, rund 55 Prozent, aber bloß ein Viertel der europäischen Teilnehmer weisen bestimmte Symptome des Einfachen PTBS in einem besorgniserregenden Ausmaß auf. 34 Prozent der Studenten der UPEA, 23 Prozent der UCB und 21 Prozent der UMSA, jedoch nur sechs Prozent der Teilnehmer aus Europa weisen sogar gewisse Symptome in einem schwerwiegenden Ausmaß auf. Obwohl ich aufgrund meiner psychotherapeutischen Tätigkeit in La Paz derartige Resultate geahnt hatte, war ich doch schockiert, diese Zahlen Schwarz auf Weiß zu sehen.

In Abb. 3.4 wird ersichtlich, dass alle Teilnehmer vorwiegend Symptome der Kategorie ›Intrusion‹, und erst an zweiter bzw. dritter Stelle Symptome der Kategorien ›Vermeidung und emotionale Taubheit‹ und ›Hyperaktivierung‹ zeigen. Ein interessantes Detail, das jedoch nicht in dieser Figur erscheint, ist die Tatsache, dass sich eine gewisse extreme Ausprägung der Symptom-Kategorie ›Hyperaktivierung‹ an der UPEA, UCB und UMSA, der Symptom-Kategorien ›Intrusion‹ und ›Vermeidung und emotionale Taubheit‹ an der UCB und UMSA findet, während sich in der Teilnehmergruppe aus Europa überhaupt keine extreme Ausprägung zeigt.

Eine Analyse der 22 spezifischen Symptome weist darauf hin, dass im Durchschnitt 30 Prozent der Studenten der UMSA und UPEA, 24 Prozent der Studenten der UCB und sieben Prozent der Teilnehmer aus Europa trotz heftiger Gefühle nicht über ihre traumatische Erfahrung reden oder versuchen, nicht darüber zu reden. Das heißt konkret, dass ein Viertel bis ein Drittel der bolivianischen Studenten mit ihren schrecklichen Erfahrungen und Folgeerscheinungen alleine bleibt. Häufig sind sie der Meinung, dass sie gerade den Menschen, die ihnen am nächsten stehen, ihr Leid und ihren Schrecken nicht zumuten können. Vielfach sprechen sie dann nach mehreren Jahren des Schweigens zum ersten Mal in einer Selbsterfahrungsgruppe oder Einzeltherapie von ihrer traumatischen Erfahrung.


Abb. 3.4: ABCD. Prävalenz je nach Symptom-Kategorie für die UPEA (n = 53), UCB (n = 75), UMSA (n = 38) und Europa (n = 33) (in Prozentzahlen)

2.4 Das Bild von sich und den anderen

Jedes traumatische Erlebnis schlägt rücksichtslos wie eine Bombe ein. Es besteht aus einer Konfrontation mit dem Tod, wobei der Ausgang ungewiss ist. Es erschüttert die betroffene Person zutiefst, indem das Undenkbare und Unmögliche eintritt. Folglich stimmen die schön zurechtgelegten Vorstellungen über das Leben nicht mehr mit der Wirklichkeit überein. Das bisherige Selbst- und Weltverständnis, mit anderen Worten das kognitive Schema, fällt wie ein Kartenhaus in sich zusammen. In der Folge soll das Bild von sich und den anderen revidiert werden.

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