Kitabı oku: «Buried Far Away – In der Ferne begraben», sayfa 2
Kapitel 3 (New York)
Nasir hatte schlechte Laune. Sein Morgenkaffee, den er gern selbst mahlte, und im Übrigen in einem ziemlich teuren Coffeeshop in Greenwich Village besorgte, war weg. Oder besser gesagt: Die recyclebare, gewachste Papiertüte war zwar noch vorhanden, aber bis auf ein paar letzte Bohnen ohne Inhalt. „MIRIAM!!“, rief er und erhielt keine Antwort. Seine zweite und weniger geliebte Mitbewohnerin war wohl schon unterwegs zu ihrem schlecht bezahlten, aber Image hebenden PR-Job. Mit seinem Edelkaffee im Magen!
Miriam arbeitete als Assistentin in der Presseabteilung einer NGO, die auf lukrative Art und Weise mit der UN verquickt war und für bessere Ausbildungsbedingungen im Kongo sorgen sollte. Nicht, dass Miriam selbst jemals im Kongo gewesen wäre oder die Absicht hatte, hinzufahren, doch sie erwähnte ihre selbstlose Tätigkeit mit Aussicht auf eine sehr gut entlohnte Inhouse-Karriere gern und bei jeder Gelegenheit. Und sie stahl guten Öko-Kaffee aus Ecuador.
Arrgh! Manchmal wollte Nasir tatsächlich zurück nach Teheran, wo sein Sozialgefüge von größtenteils verträumten, aber doch eher netten Menschen geprägt gewesen war. Nun ja, zugegebenermaßen waren die Frauen auch dort tough, notgedrungen sozusagen. Aber keiner seiner iranischen Freunde, ob Männlein oder Weiblein, würde je darauf kommen, sich bei anderen schadlos zu halten. Er seufzte.
Statt Miriam kam nun Monika schlaftrunken in die winzige Küche. Sie hatten es irgendwie geschafft, an dem vergilbten kleinen Fenster mit der hässlichen Klimaanlage einen Tisch zu platzieren, und an diesen ließ sich Monika nun mit einem nasal klingenden „Uff“ fallen.
„Kaffee?“, brachte sie dann heraus und blickte Nasir unter ihrem dunklen Wuschelpony hervor kläglich an. „Mein Kopf platzt gleich.“
„Hast du gestern Abend wenigstens noch Theraflu genommen?“, fragte Nasir besorgt und hielt seine Hand an ihre ziemlich heiße und trockene Stirn.
Monika schüttelte den Kopf, aber nur ein bisschen, denn er schmerzte. „Nee, ich trau dem amerikanischen Zeug nicht. Ich warte noch auf das Care-Paket von zu Hause, da müsste eine Flasche Wick Medinait dabei sein.“
Nasir schüttelte den Kopf. „Na, dann wundert mich gar nichts. Irgendwas musst du schon nehmen, besonders wenn du auch noch Temperatur hast.“
„Nasir?“
„Ja, meine dickköpfige, in diesem Moment auch heißköpfige, ewig Suchende?“
„Warum hast du eben gebrüllt?“
„Rate mal: Kaffee weg, Miriam weg.“
Monika nahm diese niederschmetternde Nachricht mit einem langsamen Sinken ihres Kopfes entgegen, der sich mittlerweile abwechselnd wie Watte und Blei anfühlte. „Unter normalen Umständen würde ich fluchen“, sagte sie. „Unter den jetzigen schlage ich vor, wir gehen zu Franck’s.“
Sie schleppte sich aus dem Haus. Nasir passte seinen Schritt dem ihren an und rubbelte ihr ab und an den schmerzenden Rücken, denn irgendwie tat jetzt alles weh. Auf dem Weg ließ er sich nicht davon abbringen, kurz ins RiteAid zu springen und Paracetamol zu besorgen. „Immer dieses Leiden, typisch deutsch. Hör auf, an deine Leber zu denken und kuriere erst mal deinen Kopf.“ Folgsam schluckte sie zwei der Kapseln mit einem Schluck Mineralwasser, an das Nasir ebenfalls gedacht hatte. Manchmal glaubte sie, er wäre schwul, weil er so umsichtig war. Doch sie wusste, dass er in Teheran eine Freundin zurückgelassen hatte, die er über Facebook täglich mit kleinen selbst gedichteten Haikus über seinen Alltag in New York versorgte.
Sie wanderten weiter durch ein paar Nebenstraßen und kamen schließlich in ihr liebstes und in der Gegend einzig annehmbares Domizil. Franck’s war eigentlich nur ein großer Raum mit einem kleinen Schlauch nach hinten zum Hofgarten. Aus einer ehemaligen Werkstatt war der Laden mit einer Handvoll Secondhand-Möbel und selbst gezimmerten Tischchen in ein gemütliches, unprätentiöses Café verwandelt worden. Solange die Miete nicht astronomisch anstieg, würden Nick und Ophelia aus Portland hier bleiben und die Nachbarschaft mit gutem Kaffee und selbst gebackenen Scones nach einem Rezept von Ophelias englischer Großmutter versorgen. Am Eingang hing ein Zettel: „A Prayer a Day for Rent Control“. Ein Gebet täglich für die Mietpreisbindung.
Auf Monikas Frage, woher der Name „Franck’s“ stamme, sagte Nick einmal, es höre sich einfach besser an als „Nick and Ophelia’s“. Er meinte, die Leute würden sonst denken, sie seien wahlweise entweder aus Wyoming (Nick’s) und würden ständig Bluegrass spielen oder aber aus Maydavale, London (Ophelia’s) und man müsse Clubbeiträge bezahlen, um hier zu essen. Die Logik dieser Vergleiche entzog sich Monika zwar ein wenig, aber „Franck’s“ gefiel ihr – der Name erinnerte sie immer an den deutschen Ausdruck „frank und frei“.
Sie ließen sich in zwei Korbsessel fallen und sogen erleichtert den Duft von frisch gebrühtem italienischem Kaffee ein. Bald standen zwei gut gefüllte dampfende Milchkaffeetassen vor ihnen auf einem der schrill bemalten Tischchen. Allerdings ohne Milch, auf ausdrücklichen Wunsch der beiden.
Monika nahm ihre Tasse hoch und studierte das Design. Der Tisch war in mexikanischem Rot und einem leuchtenden Königsblau bemalt und zeigte Figuren, die in Ringelreihen um den Rand der Tischplatte herum tanzten.
Nasir sagte: „Wusstest du, dass Tanzen in Teheran jetzt komplett verboten ist? Na, klar treffen sich die Leute in Wohnungen und im Sommer auch auf Dächern und tanzen wie wild, aber wenn dich die Garde dabei erwischt, dann bist du dran. Wenn sie gerade Lust dazu haben, kannst du dafür sogar ins Gefängnis wandern und dann gnade dir Gott … den sie im Übrigen auch für sich beansprucht haben.“ Er blies auf seinen Kaffee und grinste. „Weißt du, was Layla macht? Sie lässt sich bei ihren Performances filmen und diese Filme werden dann in einem Theater in Berlin gezeigt. Manchmal schaffen sie es sogar live über die Webcam und das wird dann auf eine Leinwand projiziert. In Berlin improvisiert dann eine Gruppe Tänzer dazu. Schöne Idee, oder? Mann, was hab ich für eine tolle Freundin.“
Monika nickte. „Weißt du, Nasir, manchmal hab ich so das Gefühl, du würdest ganz gern zurückgehen.“
Nasir zog die Schultern hoch, eine Mischung aus Frösteln und Schulterzucken. „Vielleicht hast du recht. Das innere Zuhause ist wichtiger als das äußere.“ Damit ließ er die Schultern wieder sinken.
Sie schaute ihn mit großen Augen an. „Okay, Nasir, ich glaube, du hast schon mal die erste Zeile für deinen heutigen Haiku fertig.“ Sie lächelte kläglich und legte die Hand an die Schläfe. „Au, mein Kopf. Gib mir doch noch mal die Schachtel. Ich muss nämlich noch weiter nach Queens, kommst du mit? Da gibt’s ne Ausstellung, über die ich schreiben will, im PS1.“
Nasir schob die Schachtel Paracetamol über den lackierten Tisch. „Bis zu sechs Stück am Tag, nicht mehr“, sagte er streng. „Glaub mir, ich weiß so einiges über Medikamente und wie viel man verträgt.“ Er grinste vielsagend. „Ich muss heute leider noch mal in die Bleeker Street, Kaffee besorgen. Meinen einzigen Luxus nimmt mir auch Miriam nicht weg, egal wie viele Kongolesinnen nun angeblich einen Computerkurs kriegen.“
Monika versuchte zu lachen, ohne dass ihr der Kopf noch mehr wehtat. Was sie an Nasir so mochte, war seine Fähigkeit, die Welt mit Humor zu betrachten, obwohl er selbst nicht gerade aus den amüsantesten Verhältnissen kam. Sie nickte: „Okay, ich glaube, dann mache ich mich langsam auf den Weg. Kommst du mit zum A-Train?“
Sie kämpften sich durch die belebte Hauptstraße zum U-Bahn-Eingang. Der A-Train war um diese Zeit zwar nicht mehr überfüllt, aber es waren auch am späten Vormittag noch eine Menge Leute unterwegs. Monika versuchte, weder zu niesen noch ihre Hände zu lange irgendwo an die Metallstangen geraten zu lassen. „Hast du Desinfizierungsgel dabei?“, fragte sie Nasir.
„Zu spät, meine Liebe, nun bist du die Bazillenbombe. Und glaub mir, die Leute haben das schon mitgekriegt.“ Das stimmte. Auf ihr erstes Niesen hin waren die Umstehenden dezent von ihnen gewichen. Nasir grinste. „Na ja, so tritt uns wenigstens niemand auf die Zehen.“
Beim Umsteigen in den N-Train fühlte sich Monika plötzlich sehr alleingelassen. So war es immer, wenn man mit Nasir zusammen gewesen war: das Alleinsein fiel einem danach erst mal wieder schwerer. Sie riss sich zusammen und konzentrierte sich auf den geplanten Eintrag für ihren Blog. Ihr Notebook war zum Glück so leicht, dass sie es immer bei sich haben konnte. Netbook hieß das ja jetzt. Eventuell könnte sie gleich dort im Museumscafé beginnen, die frischen Eindrücke in einen flüssigen und nicht allzu langen Artikel umzuwandeln, „catchy“, wie man hier sagte. „Wahrhaftig“ – das war es, was sie wollte, und das war mit der amerikanischen Konsum-Mentalität manchmal leider nicht so ganz zu vereinbaren. Weshalb ihre Schreiberei vielleicht auch nie etwas abwerfen würde.
Manchmal versuchte sie, sich die entsprechende Person zu den seltenen Kommentaren auf ihrem Blog vorzustellen. Einer mit dem Pseudonym „Vain-Gogh“ schrieb neulich zu ihrem Artikel über Tim Burton: Madame, ich weiß Ihre Begeisterung zu würdigen, aber dieser Mann ist nun einmal ein Scharlatan. Er hat es lediglich früh im Leben geschafft, ein paar gutbetuchte Produzenten zu finden, und inszeniert seitdem immer wieder von vorn seine verlorene Kindheit. Nur, dass er leider ein erwachsener Mann ist und erwartet, dass andere Erwachsene ihm Anerkennung zollen für das, was er ist: ein Riesenbaby.
Sie hoffte, VainGogh nie kennenlernen zu müssen. Sie konnte ihn sich bildlich vorstellen, wie er frustriert in einer kleinen Uni in Connecticut an seiner hundertsten Vorlesung über die Bedeutung des Impressionismus für die europäische Mittelschicht oder Ähnlichem saß. Sie selbst schrieb ihren Blog trotz eindringlicher Warnungen unter eigenem Namen. Sie vertraute einfach darauf, dass ihn alle für ein Pseudonym hielten.
Das PS1 war angenehm leer. Ein paar japanische Touristen plauschten angeregt am Eingang und zeigten ab und an auf Ausschnitte von Zeitungsartikeln über den Künstler, die an einer großen Wand angeheftet waren. Die wenigen für Monika verständlichen Worte, die in die Unterhaltung einflossen, waren „independent“, „Paris“ und „Texas“. Monikas Kopf dröhnte und sie nahm noch einmal zwei Kapseln. Auf eine komische Art und Weise war das Familien-Credo, man dürfe nur im äußersten Notfall schmerzstillende Mittel zu sich nehmen, gebrochen. Wie viele, hatte Nasir gesagt, durfte man täglich nehmen? Na, egal. Hauptsache, sie kam durch den Tag.
Larry war nicht da, stattdessen bediente ein fülliges Mädchen mit faserigem Haar die Kasse. „Kann ich helfen?“, fragte es auf eine professionell freundliche Art.
„Ja, ich würde gern ein Presseticket für die Ausstellung bekommen. Ich werde darüber schreiben.“
„Presseausweis?“, sagte das Mädchen.
„Oh, nein – ich schreibe nur fürs Internet.“
Das Lächeln blieb zunächst präsent. „Welche Plattform? Vielleicht haben wir Sie auf unserer Mailing-Liste.“
Monika rieb sich die juckende Nase und versuchte es in eine andere Richtung. „Es ist in Ordnung, ich habe ihn nur einfach nicht dabei. Allerdings ist Mr. Newby seit Neuestem Kunde bei uns.“
„Entschuldigung?“
„Ich … Sehen Sie: Dieses Buch hat er bei uns bestellt – ähm, ist Larry hier?“ Sie zog den japanischen Neorealismus aus ihrer Tasche.
Das Lächeln der Frau wurde etwas dünner. „Ich verstehe nicht ganz. Wessen Kunde ist Mr. Newby? Hören Sie, wir sind hier verpflichtet, einen Ausweis zu verlangen.“
Monika nickte: „Ja, ich weiß, das kenne ich.“
Die Miene der Frau wurde immer ungläubiger. „Also, wenn Sie das kennen, dann wissen Sie auch, dass ich Sie ohne ein Ticket vom MoMA oder einen gültigen Presseausweis leider bitten muss, Eintritt zu zahlen.“
Wie machten es die Amis nur, dass sie einen beleidigen konnten, ohne auch nur ein einziges böses Wort zu sagen? Musste wohl am angelsächsischen Erbe liegen, dachte Monika. Sie fühlte ihre Erkältung, ihren unterbezahlten Job und die Tatsache, dass sie nur noch 50 Cent auf ihrem Prepaid-Konto für ihr Handy hatte, langsam, aber sicher die Oberhand gewinnen. Traurig blickte sie der höchstens 25-jährigen Kunststudentin in die nun definitiv kühlen Augen. Wie sollte sie diesem Mädel bloß klarmachen, dass in etwa zehn Jahren eventuell genau der gleiche Job auf sie warten würde – und nichts anderes? Nicht etwa das Loft und die Partnerschaft mit einer Powerlesbe aus dem Village (hier begann ihre Fantasie mal wieder zu sprühen), sondern viel eher ein kleines, dunkles Apartment in Queens mit Blick auf eine Autowerkstatt, welches sie sich mit einem schwulen Filmproduzenten teilen würde, der ihre exzellenten Kochkünste ausnutzte.
Und natürlich empfand Monika wegen dieser Zukunftsvision nun Mitleid für das Mädel. Verdammt, immer dieses Mitgefühl! Die Stimme ihrer Mutter meldete sich ganz deutlich: „Eine Tagträumerin, das bist du, und das wird dir dein Leben nicht leichter machen. Gehen dir andere Menschen denn komplett am Hintern vorbei?!“ Wenn ihre Mutter nur wüsste. Sie hatte das Leben anderer Leute oft viel zu anschaulich vor Augen! Der Gedanke an ihre Mutter hatte sie zusätzlich erschöpft und irgendwie fing es nun vor ihren Augen an zu wabern.
„Madame?“, fragte die Stimme vor ihr. „Geht es Ihnen nicht gut? Wollen Sie sich kurz setzen, da gibt es eine Bank im Eingangsbereich …“ Tatsächlich war der Blick der Kassiererin etwas milder geworden, man könnte sogar besorgt sagen. Hinter Monika hatte sich eine kleine Schlange gebildet.
„Es – es ist in Ordnung, schon gut“, sagte sie und reichte ihren letzten 20-Dollar-Schein hinüber. Es gab immerhin zehn Dollar Wechselgeld, das hatte sie nicht erwartet. Das MoMA war jedenfalls doppelt so teuer.
Kapitel 4 (New York)
Monika versuchte, sich auf die erste der in langer Reihe präsentierten Zeichnungen zu konzentrieren. Sie zeigte eine Giraffe. Die Giraffe war etwas klein für die Tatsache, dass drum herum nur ein paar Grasbüschel angedeutet waren. Und sie hatte einen menschlichen Kopf. Einen männlichen menschlichen Kopf, mit wenig Haaren. Im Hintergrund waren ein paar Partygäste mit Cocktailgläsern in der Hand zu sehen, die etwas beunruhigt auf die Giraffe blickten. Der Titel der Zeichnung war: „Jerry knew he would be asked to leave“, was so viel hieß wie: „Jerry wusste, er würde hinauskomplimentiert werden.“ Und plötzlich lachte Monika laut auf. Sie verschluckte sich und musste nach einem Taschentuch suchen, um den aufsteigenden Schnupfen zu erwischen. Sie trompetete laut in das Tuch und drehte sich dann etwas peinlich berührt um: Gott sei Dank, etwas weiter weg war nur ein Pärchen und das schien ebenfalls zu lachen. Die Frau zeigte dabei auf ein Bild und schien sich auf ihren Füßen irgendwie hin und her zu wiegen.
„Keyiko!“, rief Monika.
„Oh, hi“, erwiderte Keyiko nicht besonders begeistert. Sie rutschte lautlos auf ihren Turnschuhen heran und flüsterte: „Date!! Ich erzähle dir morgen alles! Okay?“ Ihre schmalen Augen inspizierten Monikas Nase. „Bist du etwa erkältet? Komm bloß nicht so zur Arbeit, hörst du! Ich habe später in der Woche noch ein anderes Date, da will ich mich nicht anstecken!“
Monika grinste: „Zu Befehl, aber dann musst du den Laden morgen alleine schmeißen.“
Keyiko war in die Enge getrieben. Sie betrieb Onlinedating, da sie sich weigerte, ihr New Yorker Singledasein als Tatsache zu akzeptieren. Doch kamen für sie nur Künstler oder Galeristen infrage. Diese Auswahl führte dazu, dass sie entweder (im ersten Fall) für die Restaurantrechnung zuständig war, recht guten Sex und gute Gespräche hatte oder aber (im zweiten Fall) nicht zahlen musste, mittelmäßigen Sex hatte und jemandem von früh bis spät nur zuhören musste. „Monika“, pflegte sie zu sagen, „wo ist der Mann, der kreativ ist, Frauen respektiert und die Rechnungen bezahlen kann?“
„Hm, vielleicht in Rockaway Beach“, sagte Monika. „Doch ich würde nicht darauf wetten.“
Keyiko eilte zurück zu ihrem Beau. „Komm erst, wenn du gesund bist!“, zischte sie noch über die Schulter. Ihr Date beugte sich höflich vor, um Monika in Augenschein zu nehmen, und schien etwas zu fragen. Keyiko grinste und machte eine abwehrende Handbewegung. Monika konnte förmlich hören, wie sie sagte: „Oh, das ist nur eine Kollegin aus der Galerie.“
Die hohe Dosis von sechs Paracetamol an einem halben Tag verlieh ihr nun zumindest ein Gefühl der Leichtigkeit, wenn auch eine Art Schwebezustand damit einherging. Sie hätte vorher etwas essen sollen, doch auf dem Weg war nur das elende Subway gewesen. Die Anzahl an Bioläden in Queens ließ wirklich zu wünschen übrig. Nach einem Blick durch das Schaufenster einer lokalen Bäckerei war ihr beim Anblick der vor Sahne strotzenden Cupcakes mit viel buntem Puderzuckerguss leicht übel geworden. Nun hätte sie sogar mehrere davon essen können.
Sie versuchte, sich auf den Text für ihren Artikel zu konzentrieren, und ging langsam von Bild zu Bild. Doch zu einigen Zeichnungen, so dachte sie, hätte sie gern Mr. Newby selbst befragt, denn sie hätte nicht gewagt, einfach so draufloszuschreiben. Sie fand es irgendwie pietätlos, Leute zu beurteilen und zu analysieren, ohne sie selbst zu Wort kommen zu lassen. Nun, bei Rezensionen über das Werk verstorbener Künstler war das wohl gegeben, doch selbst dann versuchte sie noch, verschiedene Eindrücke von Zeitgenossen mit einzubeziehen, die die Künstler wirklich gekannt hatten. Denn, so spürte sie, am wenigsten Wahrheit lag in der Evaluierung eines Werks durch eine einzige fremde Person. James Jones hatte einmal geschrieben: „Jeder Mensch ist das Zentrum seines eigenen Universums“, und nichts war wahrer als das. Deshalb analysierte und beurteilte jeder Mensch auch nur aus Nabel-Sicht, egal für wie neutral er sich hielt.
Komischerweise zitierte Monika für sich selbst gern Autoren des Landes, in dem sie sich gerade befand. Als sie einmal für ein Jahr in London am Goethe-Institut gearbeitet hatte, kamen ihr für die Dauer des Jahres nur die Zitate englischer Autoren wie E. M. Forster oder Virginia Woolf in den Kopf, die deutschen Bücher ihrer Kindheit und Jugend waren wie ausgeblendet. Ach, London. Durch Hampstead Heath laufen, sorglos am Fluss bei Richmond zum nächsten Herrenhaus wandern, das sanfte Licht abends an der Southbank …
„TAGTRÄUMERIN!“, sagte ihre Mutter ganz laut und deutlich an ihrer Schulter und mit einem erschreckten Einziehen der Luft drehte Monika sich um. „Arabische Nase!“, sagte die Stimme ihrer Mutter.
„Israelisch“, sagte Monika.
„Wie bitte?“, sagte Mike Newby, denn er stand genau vor ihr.
Seine Lippen waren wieder nachdenklich geschürzt und diese bohrenden Augen schienen jetzt zu lachen. „Hi, Sie sind das.“ Er streckte die Hand aus. „Mike. Ich habe mich neulich nicht vorgestellt. Und was genau ist israelisch? Ich oder mein Bild?“ Anscheinend hatte sie wieder mal laut gedacht, und dann noch auf Englisch. Der Händedruck war ehrlich und direkt, ein Energiestoß. Und dieser Mann sollte krank sein?
Aus dem Augenwinkel sah sie Keyiko, die irgendwie rot angelaufen schien. Ihr Begleiter zog gerade sein iPhone aus der Tasche. Plötzlich erwachte in Monika eine Eigenschaft, die ihre Mutter nie so richtig mitbekommen hatte: ein ganz praktischer und tatkräftiger Beschützerinstinkt. „Nein“, sagte sie laut, „es ist nicht die Zeit und der Ort für Instagram-Bilder.“ Ihr Blick war so lange auf Keyikos Begleitung gerichtet, wie es nötig war, das iPhone wieder in der Tasche verschwinden zu sehen. Nun hatte auch Keyikos Date ein rotes Gesicht. Was soll’s, dachte Monika.
Mike Newby hatte derweil kaum etwas mitbekommen, weil er auf das Bild hinter ihr blickte. „Das hätten sie aber woanders hinhängen sollen. Hab ich denen doch gesagt, verdammt.“ Er deutete auf die Zeichnung eines Kindes in einem reifenartigen Kreis. „Das gehört eigentlich da hinten hin, zur Giraffe.“
„Ja?“, fragte Monika neugierig. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand die beiden in Verbindung gebracht hätte.“
Der bohrende Blick richtete sich wieder auf sie und für einen Moment hatte sie das Gefühl, Mike Newby würde sie einfach stehen lassen. „Tut es aber“, kam es dann nach einer Weile leicht grollend. Dann aber wurde der Blick etwas weicher: „Sie sind krank, oder?“ Kein Abrücken, keine leicht pikierte Miene. Nur der gerade Blick.
„Um ehrlich zu sein … hab ich das Gefühl, dass ich gleich umkippe.“ Monika war plötzlich die trockene Luft der Klimaanlage bewusst geworden. Sie begann leicht zu schwanken und stützte sich an der Wand ab, genau unterhalb der Zeichnung.
„Okay, hören Sie zu“, sagte Newby. „Es gibt ein Café hier in der Nähe und Sie sehen so aus, als könnten Sie etwas zu essen gebrauchen. Falls Sie das Buch dabeihaben, kann ich Ihnen dort das Geld dafür geben. Guter Plan?“
Monika nickte folgsam. Im Moment wollte sie nur noch an die frische Luft und war dankbar für jeden Vorschlag. Als sie durch die Vorhalle gingen, hörte sie noch die Stimme des Mädels an der Kasse: „Oh, Mr. Newby, ich wusste ja nicht – Ihre Begleiterin. Sie hat versehentlich bezahlt!“
Er grinste: „Sie ist nicht meine Begleiterin, im Gegenteil, ich begleite eher sie.“ Doch er ging kurz hin und nahm den ausgestreckten Zehn-Dollar-Schein. „Nun können Sie mich zum Kaffee einladen.“ Wieder verzog sich der volle Mund in dem pockennarbigen Gesicht zu dem ironischen Grinsen.
Es war höchst seltsam, neben einem Mann die Straßen Queens entlangzugehen, von dem sie nur wusste, dass er angeblich einmal eine gefeierte Größe der Indie-Szene gewesen war, eine chronische Krankheit hatte und gerade in einem der renommiertesten Museen New Yorks eine Reihe Zeichnungen ausstellte. Ihr von Paracetamol gedämpfter Zustand vermochte ihr aber keine weitere Regung zu vermitteln als nur den großen Wunsch, sich auszuruhen.
Sie traten in ein Café ein, von dem sie noch nie etwas gehört hatte. „Ist das einzige hier in der Nähe, das auch nur im Geringsten annehmbares Essen hat“, sagte Newby. „Nehmen Sie das Rinder-Gulasch, das bringt Sie wieder auf Trab.“
Und das stimmte. Nach den ersten paar Löffeln fühlte sie, wie sich wieder ein paar Lebensgeister regten. Sie war immens dankbar für dieses heiße, kräftige Zeug und wollte für eine Weile an nichts anderes denken als den nächsten Löffel voll. Und die Tatsache vergessen, dass sie seit Längerem versuchte, rein vegetarisch zu essen.
Newby blätterte derweil in den japanischen Neorealisten. „Sehen Sie?“ Er hielt ihr das aufgeschlagene Buch hin und deutete auf eine Fotografie. „Danach suche ich. Der ist einfach aus dem Krieg heimgekommen und hat angefangen, in verschiedenen Großstädten Steinkreise zu errichten, ohne Kommentar. Hm. Hm. Hier steht, als er einmal gefragt wurde, was das nun eigentlich sei, was er da mache, da sagte er: ‚Die Tatsache, dass Sie sagen, das sei etwas, was ich mache, heißt, dass es existiert. Und etwas, das existiert, ist immer ein Teil vom Ganzen, philosophisch gesehen könnte man sogar sagen, in etwas ist schon alles enthalten.‘“ Newby nickte. „Der Typ hatte recht. Um ehrlich zu sein, würde ich so was nie hinkriegen.“
Monika überlegte kurz, ob sie sagen solle, wenn man im PS1 ausstelle, dann habe man doch so einiges hingekriegt, doch sie sagte lieber nichts. Im Grunde, dachte sie, hatte der japanische Neorealist recht. Warum wollten die Leute immer irgendetwas in die Dinge hineindichten? Warum brauchten sie immer irgendeine Interpretation? Um zu beweisen, dass es wertvoll war, was sie betrachteten? Wenn etwas ein Teil vom Ganzen ist und dadurch das Ganze in jedem kleinsten Teil schon vorhanden, dann gehörte eben alles zusammen und basta. Alles eine Suppe, die Ursuppe sozusagen, oder auch das Ur-Gulasch.
„Das Ur-Gulasch?“, sagte Newby. Anscheinend hatte sie schon wieder laut gedacht. „Nun ja, ich hoffe, es hilft. Und ja, wir existieren alle im Ur-Gulasch, doch die meiste Zeit merken wir es nicht und denken, unser kleines Selbst sei superwichtig: was wir machen, was wir sagen und essen und mit wem wir schlafen. Wir denken, all das mache uns zu einem höchst wichtigen Unikat. Ist aber nur der Mantel, die Hülle, die unsere eigentliche Seele trägt.“ Sie blickte ihn an und vergaß weiterzuessen. „Doch die Leute begreifen es einfach nicht. Sie ziehen sich so exzentrisch wie möglich an, stehen auf Partys herum und wundern sich, wenn eine Giraffe hereinkommt. Dabei ist die Giraffe doch auch nur eine Verkleidung.“
Monika dachte: Na, jetzt wird’s aber etwas abgefahren. Doch sie wusste genau, was er meinte. Irgendwie wurde ihr gerade der Artikel für ihren Blog in Worte gefasst. Und zwar vom Künstler selbst, na, so was.
Newby tauchte aus seinen Gedanken auf. „Hey, danke übrigens hierfür“, sagte er und tippte auf das Buch. „Deswegen mag ich auch eure Galerie so. Viele sagen, der Künstler hätte sich damit selbst ein Denkmal geschaffen. Doch der Künstler verneigt sich nicht etwa vor sich selbst, sondern lediglich vor Form und Farbe. Und dann hat er einfach ein Haus drum herum gebaut. Das muss man erst mal hinkriegen.“ Er dachte nach und sie betete, er würde weiterreden. Und dass sie sich die Zitate wortwörtlich würde merken können.
„Was ich selbst mache, ist nur ein Kommentar zu alldem. Aber ich versuche, dass der wenigstens aus dem Herzen kommt. Aus reinem Herzen, wie man so schön sagt. Alles andere ist Mumpitz. Sobald man an die Galerien und die Leute denkt, die das Ganze später anschauen und bewerten, hat man schon verloren.“
So viel Bescheidenheit hätte Monika nicht erwartet. Und doch – eigentlich hatte sie es bei der ersten Begegnung schon gemerkt: Dieses Gesicht konnte nicht lügen. Es konnte grollen, es konnte erschreckend abrupt den Ausdruck wechseln, einen bei Bedarf vielleicht auch mal im Regen stehen lassen, aber lügen, das konnte es nicht.
Mike Newby tauchte aus seinen Reflexionen auf und jetzt bohrte sich der Blick wieder in sie. „Geht’s Ihnen besser?“ Er tippte sich auf die Wangen. „Sie haben wieder ein bisschen Farbe im Gesicht. Also: Ich habe nicht mehr viel Zeit, nochmals vielen Dank.“
Sie verspürte einen kurzen Moment der Panik, schluckte, riss sich zusammen und sagte: „Mr. Newby, wäre es Ihnen wohl recht, wenn ich in meinem Kunstblog einen Artikel über Sie schreibe? Es ist zwar nichts Großes, aber schaden tut’s wohl auch nicht. Ich glaube, ein paar Leute lesen ihn täglich, manchmal kommen auch ein paar Kommentare.“ Sie kam sich schrecklich blöd vor, doch wozu machte sie das alles, wenn sie es im richtigen Moment noch nicht einmal erwähnte? Und dies war ja wohl ein richtiger Moment …
„Hm?“, sagte Newby etwas verwirrt. „Oh – ja, natürlich, nur zu. Schicken Sie mir den Artikel aber per E-Mail, bevor er online geht, okay?“ Er kritzelte eine E-Mail-Adresse auf einen Pappteller. „Sorry, keine Visitenkarte dabei, ist chronisch.“
Sie grinste: „Das haben Sie neulich schon mal gesagt. Apropos chronisch, Sie haben am Telefon eine Krankheit erwähnt?“
Da war es wieder, das Grollen, wodurch die dunklen Augenbrauen noch dunkler und die Augen noch stechender wurden. Warum sagte sie nur so was? Konnte sie nicht einmal ihren vorlauten Mund halten?
„Hab ich das? Hm. Stimmt wohl.“ Er schien zu überlegen, ob die Situation einer weiteren Erklärung würdig war. „Ich habe einen von diesen unerforschten Bugs, die im System bleiben, ob man will oder nicht. Nach einer Afrikareise, ungefähr fünfzehn Jahre ist das her, hatte ich den ersten Schub. Das passiert immer urplötzlich und ich fühle mich dann über Tage und manchmal auch über Wochen ziemlich elend. Gestern dachte ich, mich hätt’s wieder erwischt, doch es scheint, als hätte ich diesmal Aufschub bekommen.“ Er grinste schief. „Okay, Monika, ich schaue mir Ihren Artikel an. Alles klar. Kommen Sie gut nach Hause. ‚Monika‘ war es doch, nicht wahr?“ Er bezahlte die Rechnung, ging an sein Telefon, das schon mehrmals aufgeleuchtet hatte, und streckte ihr im selben Moment die Hand hin. „Hey, war schön, Sie wiederzusehen. Gute Besserung!“ Wieder der kräftige Händedruck und die Augen für eine Sekunde ganz bei ihr, bevor er sich wieder seinem Telefon widmete. Und weg war er.
Monika erwog aufgeregt, Nasir auf dem Handy anzurufen, doch mit Rücksicht auf ihr Guthaben verschob sie die Unterhaltung auf später. Stattdessen orderte sie noch einen Kaffee und holte ihr kleines Netbook heraus. Sie arbeitete, so lange ihre heißen, schmerzenden Augen es zuließen. Der Artikel schrieb sich fast von selbst.
Newby, so schrieb sie, will mit seiner Ausstellung einen Kommentar abgeben, nicht mehr und nicht weniger. Er sieht die Gesellschaft als eine Ansammlung von Individuen, die sich krampfhaft einem Ideal ihres Selbst nähern wollen. Alles, was sie dabei verunsichert oder als unpassend empfinden, wird ausgegrenzt oder ignoriert. Anstatt zu begreifen, dass alle Lebensformen das gleiche Prinzip in verschiedener Ausführung verkörpern und dass alles zusammengehört, pflücken sie es auseinander auf der Suche nach Glück. Doch das Glück ist schon da, man muss es nur ansehen. Und vielleicht ist es auch manchmal die Giraffe, die zur Cocktailparty kommt.
In diesem Sinne schrieb sie weiter und verwendete seine Zitate, so gut sie ihr ohne Notizen und Aufnahmegerät in Erinnerung waren. Als sie aufblickte, war es dunkel geworden. Der Barmann hatte ihr noch einen letzten Kaffee gebracht und machte sich für die Abendschicht bereit. Gläser wurden gewaschen und Zapfhähne gereinigt. Er nickte ihr freundlich zu. „Noch einen Wunsch?“ Sie schüttelte den Kopf, bezahlte und ging langsam zur U-Bahn. Die Züge nach Manhattan waren zum Glück nur halb gefüllt. Die meisten Leute fuhren um diese Zeit eher raus aus Manhattan.
Nachdenklich wanderte sie nach Hause. Nasir war noch nicht wieder zurück. Dafür rumorte Miriam in der Küche. Monika steckte kurz der Höflichkeit wegen den Kopf durch die Tür. „Hey, alles klar?“ Miriam stand extrem nahe vor der Mikrowelle, als könne ihre körperliche Nähe den Erhitzungsvorgang beschleunigen. Monika überlegte, ob die Mikrowelle sich nun vielleicht bedrängt fühlte und in passiven Widerstand gehen würde.
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