Kitabı oku: «Kieler Bagaluten», sayfa 4
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In Karins Altonaer Wohnung klingelt das Telefon. Sie geht ran.
»Was sagt dir eigentlich der Name Schuppi?«, hört sie.
Ohne »Hier ist Mami«, ohne Begrüßung, ohne alles.
Na, so geht das natürlich nicht. Mehrere Jahre Funkstille zwischen Mutter und Tochter. Kein einziges Wort. Nichts. Um nicht zu sagen, gar nichts. Da könnte man von einer liebenden Mutter doch erwarten, dass sie, wenn sie nach so langer Zeit mal anruft, nicht gleich mit der Tür ins Haus fällt, sondern mit einem »Hallo, Karin, wie geht es dir?« oder mit einem »Karin, wir sollten uns wieder vertragen« den Boden bereitet. Doch nichts dergleichen, sondern gleich hopplahopp mittenmang: »Was sagt dir eigentlich der Name Schuppi?«
»Mami?«, fragt Karin erstaunt.
»Ja, Gott, Kind. Natürlich.«
Die Worte der mütterlichen Stimme rotieren in Karins Kopf. Gott, natürlich, Kind – Kind, Gott, natürlich – natürlich, Gott, Kind. Ich muss sagen: So richtig verdenken kann ich es Karin nicht. Du wärst auch leicht verwirrt, wenn dein eigen Fleisch und Blut Gott und Kind mit dem Wort »natürlich« vermanscht – und das nach Jahren der Funkstille.
»Mami?«, fragt Karin noch mal.
»Ja, hier ist deine Mutter«, bequemt sich Frau Heerten endlich zu sagen.
»Mein Gott, Mami!«, ruft Karin.
Na ja, viel besser ist das nicht. Für meine Begriffe ist auch da mindestens der Gott zu viel. Aber Frau Heerten gehört nicht zu den Menschen, die sich um Götter Gedanken machen, zumal andere Themen in ihrem Kopf kreisen.
»Ich hab Wum im Bilderrahmen«, sagt sie anklagend.
»Wie bitte?«, fragt Karin.
Es bringt wohl nicht viel, wenn wir dem Telefonat an dieser Stelle noch weiter folgen. So ein erstes Gespräch nach Jahren der Stille ist nie schön. Wenn dann noch Tränen der Versöhnung fließen – wer will bei so was dabei sein? Deshalb klinken wir uns erst wieder ein, als Karin fragt, was das mit Schuppi vorhin eigentlich gesollt haben soll.
»Ja, eben«, sagt Frau Heerten, »was sagt dir der Name Schuppi?«
»Schuppi …«, sinniert Karin. »Das war doch der, der –«
»Genau der«, unterbricht ihre Mutter sie.
Karin, aus der eben noch beinah Tränen der Rührung über den Versöhnungsanruf herausfließen wollten, ist dicht davor aufzulegen. Kein bisschen verändert, die Mutter. Immer noch der ungeduldige Besen von einst, nur Jahre älter. Doch sie nimmt sich zusammen und fängt an zu erzählen.
Süß war er, der Martin, der für alle anderen nur Schuppi war. Ein bisschen hallodrimäßig vielleicht, aber alle fanden ihn toll. Ja, sie hatte auch mal was mit ihm gehabt, mit dem süßen Martin, sogar dann noch, als manche behaupteten, er hätte auch mit anderen was, der Arsch.
»Kind«, sagt Frau Heerten, »das will ich doch alles gar nicht wissen. Sag mir lieber, was aus ihm geworden ist.«
Typisch. Da will Karin endlich mal ihre Vergangenheit aufarbeiten, die immer noch nicht verheilte Wunde mit mütterlichem Balsam beträufeln lassen, aber Mami zieht nicht mit. Hat nie mitgezogen. Ja, wirklich, Karin kann sich nicht erinnern, dass Mami auch nur ein einziges Mal …
»Was hast du gesagt?«, fragt Karin. Vielleicht hat sie sich ja verhört und Mami hat gesagt: Das will ich später wissen, sag mir erst mal, was aus dir geworden ist. Aber nein.
»Was macht der Schuppi jetzt?«
»Keine Ahnung.« Karin überlegt ernsthaft, ob sie nicht auflegen sollte.
»Du wirst doch wohl wissen, was aus deinem Ex-Lover geworden ist«, sagt Frau Heerten. Ihre Stimme hat jetzt wieder diesen unangenehm piksenden Ton, der Karin so nervt. »Immerhin hattest du doch mal irgendwie so was wie ein Verhältnis mit diesem Polen.«
»Dieser Pole? Was soll das denn jetzt heißen?«
Wenn du mich fragst, wäre es spätestens jetzt an der Zeit, das Gespräch zu beenden und die nächsten Jahre Funkstille einzuläuten. Solche Vorwürfe betteln geradezu darum.
»Martin ist Deutscher«, sagt Karin stattdessen spitz. »Er hat einen deutschen Pass.«
»Ja, Gott, Kind, das weiß ich. Ich will wissen, wo er ist. Was er jetzt macht.«
»Woher?«
»Was meinst du? Woher?«
»Woher weißt du, dass Martin einen deutschen Pass hat?«
Frau Heerten schweigt. Was soll sie darauf sagen? Dass sie Nachbars Katze überfahren und dann heimlich vergraben hat, weil sie die einzigen Enkelkinder, die sie nach ihrem Streit mit Karin noch hat, nicht auch noch verlieren wollte? Dass sie sich schuldig fühlt, weil sie zu tief ins Glas geschaut hat? Dass sie Schuppis Pass in dem Loch für die Katze gefunden hat? Bis sie der Tochter das alles aufgedröselt hat, ist Weihnachten.
»Liebes«, sagt sie, »ich hab im Keller ein Buch gefunden. Musst du dir mal von ihm geliehen haben, steht sein Name drin. Das will ich ihm zurückgeben.«
»Mutter, da mach dir mal keine Sorgen, das kannst du sicher behalten.«
»Kind, nun sei doch nicht so stur.« Langsam wird Frau Heerten böse. »Gib mir endlich seine Adresse.«
Mutter, wie sie leibt und lebt, denkt Karin. Das ist mal wieder typisch für sie. Ungeduldig bis zum Geht-nicht-mehr, immer nur auf sich bedacht, die Tochter ist ihr völlig schnuppe. War schon damals so. Wenn sie noch daran denkt, was sie … nein, da denkt sie lieber nicht dran. Das war zu schrecklich. Damals hätte sie eine mitfühlende Mutter gebraucht und kein »Was ist denn nun schon wieder? Stell dich nicht so an und lass die Heulerei«.
Eine völlig gefühlskalte Zimtzicke ist Mutter. Karins Hand krallt sich um den Telefonhörer. Keine fünf Minuten wird sie ihre beiden kleinen Engelchen der Obhut dieser Frau überlassen, Oma hin oder her. Da kann sie warten, bis sie schwarz wird.
Und Papa?, denkt sie. Wie konnte so ein wunderbarer Mann sich nur in einen solchen Drachen verlieben? Und auch noch zwei Kinder mit ihr in die Welt setzen? Was hatte Mutter gesagt, als er so plötzlich starb? »Wie kann er nur?«, hatte sie gesagt. »Lässt mich allein zurück«, hatte sie gesagt. »Gerade jetzt, wo ich ihn so sehr brauche.« Keine Tränen, nur ich bin allein, ich brauch ihn doch, was mach ich jetzt ohne ihn und sein Gehalt.
Gleich nach Papas Beerdigung hatte Karin alle Brücken zu ihrer Mutter abgebrochen und sich ganz auf ihre Ehe mit Christian konzentriert. Er war vielleicht nicht die beste Wahl gewesen, aber immerhin besser als noch einen Tag länger mit Mutter …
Mutter.
Ihre Mutter.
Karin treten Tränen in die Augen. Zusammen mit dem Vater hat sie vor sechs Jahren auch die Mutter verloren. Nur noch Christian hat sie. Und die Kinder. Aber keine Eltern mehr.
Doch … die Mutter lebt. Sie lebt noch! Lebt einsam und allein in ihrem Haus.
»Was hast du gesagt?«, fragt Karin und bricht damit endlich das Schweigen.
»Ich hab dich nach Martins Adresse gefragt«, sagt Frau Heerten.
»Keine Ahnung. Er muss wohl ziemlich runtergekommen sein, nachdem er mit mir Schluss gemacht hat. Das Letzte, was ich weiß, ist, dass er irgendwo in irgendeiner Laube in irgendeinem Schrebergarten gehaust hat.«
»Ach …«, sagt Frau Heerten. »Schrebergarten? So was gibt es noch?«
»Wieso denn nicht?«, fragt Karin.
»Schrebergärten«, erklärt ihr die Mutter, »waren nach dem Zweiten Weltkrieg dazu da, die Ernährungslage der Bevölkerung zu verbessern. Das hat sich ja heute dank Aldi und Co. weitgehend erledigt.«
Recht hat sie, die gute Frau Heerten. Deshalb heißen Schrebergärten auch nicht mehr Schrebergärten, sondern Heimgarten, Familiengarten, Gartenkolonie oder Laubenkolonie, und bewirtschaftet werden sie von sogenannten Laubenpiepern. Und natürlich zunehmend von töpfernden, selbst gestrickten Ökofrauen, die den Anbau ihrer Biomöhrchen selbst in die Hand nehmen wollen. In allererster Linie aber gibt es dort Leute, die ihr Bier gern in freier Natur trinken und denen der heimatliche Balkon zum Grillen mit Freunden und Nachbarn zu klein ist.
Aber zum Wohnen?
»Der Schuppi hat also in einem Schrebergartenhäuschen gewohnt?«, fragt Frau Heerten. »Gibt es da denn überhaupt eine Dusche?«
»Mutter, du nervst«, sagt Karin. »Der Martin war ziemlich fertig und hat sich mangels Geld dorthin verkrochen. Eine Dusche wird bestimmt seine letzte Sorge gewesen sein. Keine Ahnung, wie es ihm jetzt geht.«
»Wenn er so runtergekommen war, wie du sagst, warum hast du ihm denn dann nicht geholfen?«
Karin erlaubt sich jetzt auch ein Piksen in der Stimme. »Der Arsch hat mich von einem Tag auf den anderen sitzen lassen. Wegen seiner Scheiß-Nussallergie. Ich hätte ihn beinah umgebracht, hat er gesagt. Weil ich Nüsse gegessen hatte und er fast erstickt wäre, als er mich geküsst hat.
Frau Heerten lässt nicht locker. »Hat dein Martin eigentlich Kinder?«
»Ja. Fünf Stück. Die sitzen mit ihm im Schrebergarten, duschen, bis der Arzt kommt, und haben allesamt seine Nussallergie geerbt. Mutter! Ich weiß nichts mehr über den Kerl. Und nun lass mich endlich damit in Ruhe!«
Beide schweigen eine Weile.
»Ach, übrigens«, sagt Frau Heerten schließlich, »das war nicht richtig von dir, dass du damals, als Papa –«
»Lass es«, unterbricht Karin sie. »Mutter, LASS ES. Lass es gut sein!«
Klick. Karin hat aufgelegt. Wer kann es ihr verdenken? Aber so sind sie, die Mütter. Man könnte wirklich schier verzweifeln. Leider, leider – Mainzelmännchen und Wum werden wohl weiterhin in ihren Bilderrahmen ausharren müssen.
3
Sehr unerquicklich, dieses Gespräch mit der Tochter. Frau Heerten geht in die Küche, schwankt eine Weile, ob sie sich zum Trost noch einen Eierlikör genehmigen oder lieber einen Kaffee kochen soll, entscheidet sich dann für beides und schmeißt die Kaffeemaschine an.
Sie ist mal wieder selbst schuld, sinniert sie. Statt sich zu freuen, dass Karin nach so langer Sendepause am Telefon eine liebevollere Gangart anschlägt, bringt sie sie mit einem ihr offensichtlich unangenehmen Thema gleich wieder aus der Spur.
Nachdem die Kaffeetasse dampfend vor ihr steht und die Eierlikörflasche entkorkt beziehungsweise entdeckelt ist, nimmt sie sich erneut die Kassenbons von Schuppi vor. Für einen einsamen, armen Mann in einem Schrebergärtchen ohne Dusche hat er ganz schön hohe Beträge bei den verschiedensten Supermärkten gelassen. Sie stutzt, als sie zwischen Papiertaschentüchern und einer Packung Klopapier eine Tafel Schoko mit ganzen Nüssen findet. Als Nussallergiker?
Als sie einen prüfenden Blick durch die Lupe wirft, ob sich das Wort »Nüssen« in siebenfacher Vergrößerung nicht vielleicht als »Küssen« entpuppt, klingelt es an der Haustür. Sicherlich wieder die Polizei. Vielleicht will diesmal ein Nachbar gesehen haben, wie sie nachts um eins eine Leiche in ihrem Garten vergraben hat, und die Polizei wird sie darauf aufmerksam machen, dass das Entsorgen von Leichen im heimischen Garten der Abfallordnung widerspricht.
»Was ist denn nun schon wieder los?«, sagt sie, als sie die Tür aufreißt.
»Tante Heerten, hast du Maunzi gesehen?«, fragt ein völlig verheulter Junge mit völlig verheulter Schwester an der Hand. Felix und Mia, die Kleinen von Jürgen.
Jürgen? Hat sie wirklich Jürgen gedacht? Nicht die Kleinen der Wagners? Oder die Nachbarskinder? Nein, sie hat tatsächlich Jürgen gedacht. Ich sollte mir vielleicht Sorgen machen.
Frau Heerten schluckt. Die Kinder sind in Tränen aufgelöst, und sie ist schuld. Doch dann fasst sie sich wieder. »Immer rein in die gute Stube«, sagt sie und hält die Tür auf.
Die beiden trapsen an ihr vorbei ins Wohnzimmer, schubsen die mühsam mit Hasenohren versehenen Kissen achtlos zur Seite und klettern aufs Sofa.
»Hast du Maunzi gesehen, Tante Heerten?«, fragt Mia. Tränen kullern ihr über die kleinen schwerstgeröteten Bäckchen.
Natürlich hat Frau Heerten Maunzi gesehen. Völlig vermanscht war sie, und sie hat sie in ihrem Auto spazieren gefahren.
»Ich mach euch erst mal jedem ein Glas Saft«, sagt Frau Heerten und flüchtet in die Küche.
Ganz schön mutig von ihr. Kinder, Saft und Sofa passen nicht zusammen. Kinder und Saft geht – aber nur auf abwischbaren Küchenböden. Kinder und Sofa gehen auch, allerdings sollte man sich dann schon mal prophylaktisch von der Unversehrtheit der Polster verabschieden. Saft und Sofa geht natürlich ebenfalls, wenn man allein ist und in Hab-Acht-Stellung ein Umkippen der Gläser verhindert. Aber Kinder – obendrein verheulte – mit Saft auf dem geliebten Wohnzimmersofa … da ist die Katastrophe vorprogrammiert. Siehst du, so ist das mit dem schlechten Gewissen: Es lässt einen alle Vorsichtsmaßnahmen über Bord werfen.
»Wir haben schon überall gesucht«, sagt Felix, als Frau Heerten mit drei Gläsern Orangensaft ins Wohnzimmer kommt.
»Was sagt denn eure Mutter dazu, dass Maunzi verschwunden ist?«, will Frau Heerten fragen, da fällt ihr ein, dass Frau Wagner die Familie schon vor einiger Zeit verlassen hat. Vorsichtig reicht sie den Kindern die Gläser.
»Papa hat uns Zettel gedruckt, die wir überall angeklebt haben«, sagt Mia und verschüttet ein bisschen Saft auf dem Couchtisch.
Felix nickt. Seine Hose hat einen großen dunklen Fleck, und Frau Heerten betet, dass er vom Orangensaft kommt.
»Wollen wir Uno spielen?«, schlägt Frau Heerten vor, um die Kinder auf andere Gedanken zu bringen.
Spielen lässt einen alles vergessen. Mia vergisst Maunzi, Felix vergisst, dass Mia seine geliebte kleine Schwester ist, und Frau Heerten vergisst Jürgen. Doch die wegge Gattin von Jürgen vergisst sie nicht.
Nachdem die Kinder, beide mit einem Lutscher bewaffnet, wieder abgetrabt sind, schüttelt Frau Heerten die Kissen auf, verteilt sie nach einem System, das nur die Hausfrau kennt, auf dem Sofa und haut zu. Zack, hat jedes wieder zwei Hasenohren. So gut kann nur sie das, das macht ihr keiner nach. Wohlgefällig betrachtet sie ihr Werk.
Schön.
Schrecklich schön.
Grauenhaft.
Sie gibt den Kissen einen Faustschlag in die Magengrube, und schon ziehen sie die Ohren wieder ein.
Na bitte, sollte Jürgen jemals zu Besuch kommen, werden die Kissen sie nicht verraten: Hasenohren machen alt, und welche Frau will das schon sein?
4
Hummeln im Hintern heißt das, glaub ich.
Ich bin natürlich weit davon entfernt, von einer Dame wie Frau Heerten zu behaupten, sie habe Hummeln im Hintern. Aber irgendwie ist sie ein bisschen … sagen wir mal, aufgedreht. Auf dem Küchentisch die Überreste eines Verblichenen der Tochter, in der Nachbarschaft ein Jürgen mit entfernter Gattin und im Wohnzimmer eine trotz Kinderbesuch weitgehend unversehrte Chaiselongue, so was kann eine Frau schon mal in Erregung versetzen.
Und was machen erregte Frauen? Richtig. Entweder fallen sie über den herren- beziehungsweise gattinnenlosen Nachbarn her, oder sie versuchen, sich abzulenken.
Frau Heerten gehört zur Sorte der Ablenker und macht erst mal das, was alle Frauen machen, um sich abzulenken: Sie putzt. Zieht das Schlafzimmer auf links, schrubbt den ohnehin blütenreinen Küchenfußboden und räumt endlich mal den Keller auf. Aber so ist das bei alleinstehenden Frauen in kleinen Reihenhäuslein, denen die dreckmachenden Angehörigen nach und nach abhandengekommen sind – frau ist schnell durch.
Da fällt ihr der Sperrsitz aus Schuppis Portemonnaie wieder ein. Genau! Kino. Das wäre eine gute Ablenkung. Sie geht in die Küche, wo die »Kieler Nachrichten« ungelesen ihrer Entsorgung ins Altpapier harren. Der Blick in die Rubrik »Was machen wir heute?« überzeugt sie allerdings davon, dass kinotechnisch für sie kaum was dabei ist. »Fack ju Göhte« scheidet von vornherein aus. Sie kann zu wenig Englisch. »Ziemlich beste Freunde« auch. Ein Mann im Rollstuhl lässt ungute Zukunftsvisionen in ihr aufsteigen. Weshalb turnt sie schließlich jeden Tag mit Staubwedel durch die Wohnung? Damit sie eben nicht an Rollstühle denken muss, in denen sie ohne das Geturne vielleicht eines Tages sitzen würde. »Drachenzähmen leicht gemacht« heißt ein anderer Film. Späteste Vorstellung siebzehn Uhr, also ein Kinderfilm. Hätte man sich bei dem Titel eigentlich denken können.
Frau Heerten sieht zur Uhr. Das wird heute nichts mehr werden. Außerdem ist sie für Kinderfilme nun doch schon ein bisschen zu alt. Für solch einen Besuch müsste sie ihre Enkelkinder an die Hand nehmen, sonst lässt man sie vielleicht gar nicht rein. Ein bisschen wie im Fahrstuhl, Kinder nur in Begleitung Erwachsener, nur eben andersrum: Altertümer nur in Begleitung von Hosenscheißern. Na, was soll’s? Um in ihrer Begleitung in einen Kinderfilm zu dürfen, dazu sind Mainzelmännchen und Wum nun doch noch zu klein. Außerdem sind sie in Hamburg, und Karin würde ihr ohnehin was husten.
Mia und Felix wären groß genug.
Dieser Gedanke huscht durch Frau Heertens Gehirn. Nur ganz flüchtig, gar kein richtiger Gedanke, mehr so ein Gedänkchen, ist auch gleich wieder um die Ecke, ditscht nur von innen ganz leicht an die Stirn, wird von dort zurückgeworfen und nimmt Fahrt auf. Mia und Felix wären groß genug. Sie könnten an der Hand ihrer Adoptiv-Großmutter zum Drachenzähmen gehen. Natürlich müssten die Eltern zustimmen. In diesem Fall Singular, also nur ein Elter. Ein Mann namens Jürgen.
Ich lasse es lieber, dir den Tanz zu schildern, den die Hummeln in Frau Heertens Allerwertestem aufführen. Aber da ist was los, sage ich dir.
Abrupt reißt sie sich von der Zeitung los, geht zum Kühlschrank und dreht die Temperatur auf null. Ablenker tun so was. Die tauen lieber den Kühlschrank ab und misten das Gefrierfach aus, als sich dummen Gedanken auszusetzen. Aber es geschieht, was immer geschieht: Erst denkt man, es dauert Stunden, wenn nicht Tage, bis der Kühlschrank auch inwendig glänzt wie ein frisch eingecremter Kinderpopo. Doch irgendwann ist auch diese arbeitsame Arbeit getan.
Was nun? Frau Heerten legt die Hände in den Schoß. Und nimmt sie wieder heraus. Rückt das Väschen auf dem Küchentisch zurecht. Was es wohl im Fernsehen gibt? Sie greift zur Lesebrille und zum Zettel: »MAUNZI, WO …« Nein, das ist nicht die Fernsehzeitung. Sie geht ins Wohnzimmer und schaltet die Glotze an. Was gibt es wohl nach den Nachrichten? Zurück in der Küche, wirft sie erneut einen Blick auf den Maunzi-Zettel, was die Hummeln wieder starten lässt. Vielleicht sollte sie …
Nein, tu es nicht!
Doch. Sie tut’s.
Nimmt den »MAUNZI, WO BIST DU?«-Zettel der Kinder, geht ins Wohnzimmer, wählt die Telefonnummer von Jürgen und horcht auf das Tut-tut-tut.
Jürgen lässt die Hosen runter
1
»Hallo, Frau Heerten.«
Alles hätte Frau Heerten erwartet, aber nicht solch eine Begrüßung, wenn sie bei Jürgen anruft. »Ja, hier Wagner«, hatte sie sich vorgestellt. Und sie dann: »Ja, hier Heerten, guten Tag, Herr, äh, Jürgen, ich hatte mir gedacht, dass ich mit Ihren, äh, deinen Kindern vielleicht …« und so weiter, eben ganz locker und natürlich, so von Adoptiv-Großmutter zu Kindsvater und betont harmlos. Aber nein, er hat ihr das ganze Intro vermasselt.
»Woher weißt du, dass ich dran bin?«, fragt sie.
Nein, wie ungeschickt. Zeigt ganz deutlich, dass sie alt ist und noch nicht im Hier und Jetzt angekommen. Das weiß doch jeder, dass Telefone heute im Display die anrufende Nummer anzeigen und obendrein speichern, falls man vielleicht nicht da war, als es klingelte, und zurückrufen möchte. Oder eben gerade nicht zurückrufen möchte und am liebsten nie mehr zu Hause sein will, falls diese Nummer noch einmal anrufen sollte.
Wieso Jürgen allerdings weiß, dass die Nummer im Display die von Frau Heerten ist, gibt dann doch Anlass zum Grübeln.
»Ich weiß immer noch nicht, wie du mit Vornamen heißt«, sagt Jürgen statt einer Antwort.
»Sabine«, sagt Frau Heerten.
»Sabinchen war ein Frauenzimmer, dabei so tugendhaft«, trällert er ein Lied aus uralten Zeiten in den Telefonhörer.
»Stimmt. Ich bin sehr tugendhaft«, sagt Frau Heerten lahm.
»Na, dann kann ja nichts passieren, wenn du rüberkommst und wir ein Weinchen trinken. Ich hol dich gleich ab.«
Während Frau Heerten ins Schlafzimmer rast, um die Strümpfe zu wechseln und sich durchs Haar zu fahren, kommen ihr die merkwürdigsten Gedanken. Und der allermerkwürdigste ist: Was ist das denn für einer? Wieso geht der so ran? Bei einer Frau, die seine Mutter sein könnte? An ihrem Sex-Appeal kann es ja wohl kaum liegen.
Dieser Meinung ist sie immer noch, als sie eine halbe Stunde später auf seinem Sofa sitzt. Der Wein, den er zu bieten hat, ist vorzüglich. Muss man schon sagen.
»Dein Wein ist vorzüglich. Wo hast du den her?«
»Ich zeig dir erst mal das Haus«, sagt er. Fragen zu beantworten, scheint nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zu gehören. Er hält ihr die Hand hin, damit sie besser aus dem tiefen Sessel hochkommt, doch sie ignoriert das. So nicht, mein Lieber. Das übt sie täglich auf ihrer Isomatte: Wie komme ich aus unmöglichsten Situationen wieder in den Stand? Und schon steht sie senkrecht, ohne die geringste Berührung mit ihm. Aber irgendwie auch schade.
Er zeigt ihr die Küche, das Bad, hier schlafen die Kinder (er legt den Finger an den Mund und macht »Pssst«), da ist sein Arbeitszimmer und zu guter Letzt das Schlafzimmer. Sie will – wie eben am Kinderzimmer – vorbeischleichen, doch er hält sie am Arm zurück. Nun gut, sie wirft also einen Blick ins Schlafzimmer, auf das Doppelbett und den Schrank mit den Spiegeltüren, auf die beiden Nachttischchen samt Nachttischlämpchen und die Läufer vor jedem Einstieg in das gemachte Bett. Spießiger ist eigentlich kaum vorstellbar.
»Hübsch«, sagt Frau Heerten und wendet sich ab.
»Das zweite Bett ist nachts leider leer«, sagt Jürgen.
»Ach …«, sagt Frau Heerten. Im Grunde genau wie bei ihr.
Überhaupt alles wie bei ihr. Kein Wunder. Ein Architekturbüro denkt sich nicht für jedes lausige Häuschen einen eigenen Grundriss aus. Es ist schließlich nicht die Wohlfahrt. Und man muss auch an die Poliere denken. Am besten, alle Häuser sind gleich, dann kommen die Bauarbeiter nicht durcheinander.
»Alles genau wie bei mir«, sagt Frau Heerten. »Nur andere Möbel.«
»Bei dir ist das zweite Bett auch nachts leer?«, fragt Jürgen und rückt näher.
»Nein. Nach Armins Tod hab ich das zweite Bett entsorgt. Brauchte den Platz für meine Isomatte.«
»Der Wein wird langsam schal«, sagt Jürgen und bugsiert sie wieder die Treppe runter ins Wohnzimmer. Nachdem sich Frau Heerten diesmal auf das Sofa gesetzt hat, fragt er: »Warum hast du eigentlich angerufen?«
»Wieso hast du eigentlich gewusst, dass ich es bin?« Eine kribbelige Unruhe steigt in ihr auf, als er sich neben sie setzt. Kai Pflaume, denkt sie, er sieht genauso aus wie Kai Pflaume – nur weniger harmlos.
»Deine Nummer kenn ich in- und auswendig.«
»Ach …« Frau Heerten kann nicht umhin, sich geschmeichelt zu fühlen.
Er gießt ihr Glas voll. »Es gab Zeiten, da hat mich deine Tochter täglich angerufen – mehrfach.«
»Ach …« Frau Heerten fühlt sich nicht mehr ganz so geschmeichelt. »Warum denn das?«
»Wir waren ein Paar«, sagt Jürgen.
Jetzt ist Frau Heerten bass erstaunt. »Wieso hab ich denn davon gar nichts mitgekriegt?«
Jürgen grinst. »Weil du eine Rabenmutter bist?«
So, nun fühlt sich Frau Heerten überhaupt nicht mehr geschmeichelt. Rabenmutter. So ein Wort haut ins Mutterherz, dass die Fetzen fliegen.
Interessant, wie ein einziges Wort die Gedanken zum Tanzen bringen kann. Nicht bei jedem natürlich. Menschen mit nur ein, zwei Gehirnwindungen haben es einfacher, da tanzt nichts. Irgendwie auch beneidenswert.
Sie nimmt einen großen Schluck.
Nein, sie war keine Rabenmutter. Im Gegenteil. Wie sie sich immer um ihren Sohn, den armen Thomas, hat kümmern müssen. Der hat so doll geweint, wenn es in den Kindergarten gehen sollte. Und dann die Schulzeit. Macht sich so ein Jürgen gar keine Vorstellung von, wie das die Frau stressen kann. Na, er hat ja keine mehr. Vielleicht deshalb.
Am schlimmsten war natürlich die Pubertät. Ist bei einem Jungen ja immer besonders anstrengend. Mädchen total easy, aber Jungs … Was hat sie da reden müssen, wenn er mal wieder mit so einer blöden Tussi ankam. Also in Sachen Frauengeschmack, da muss sie bei ihm wirklich was falsch gemacht haben. Ist aber grad noch mal gut gegangen. Jetzt, in Manhattan, kann sie natürlich nicht mehr ihre Hand schützend über ihn halten. Da muss er sehen, wie er klarkommt. Wenn sie ihn besucht, schaut sie immer mal heimlich im Badezimmer nach, ob sich bei ihm was tut, ob ihn vielleicht eine geangelt hat. Aber nix, Gott sei Dank. Wobei – so langsam sollte er vielleicht doch mal … Ist immerhin auch schon über dreißig. Er wird doch wohl nicht schwul geworden sein, der arme Junge?
Ja, mit dem Jungen hatte sie ihre Last. Die Karin dagegen, die lief mehr so nebenher mit.
»Ich bin keine Rabenmutter«, sagt Frau Heerten.
»Vielleicht ist deine Tochter ja eine Rabentochter. Keine Ahnung. Über eure Familie hat sie nie was erzählt. War ja dann auch nicht mehr nötig, nachdem sie mich wegen dieses Fatzkes hat sausen lassen.« Er trinkt sein Glas in einem Zug leer.
»Welcher Fatzke?«
»Ach«, Jürgen sieht unwillig zur Seite, »irgend so ’n … Arsch.« Der »Arsch« bricht förmlich aus ihm raus. »Aber nachher wieder bei mir angekrochen kommen …«
»Sag mal …« Frau Heerten beugt sich vor, fasst ihn leicht an die Schulter und sieht ihn eindringlich an. So viele Ärsche kennt sie nämlich nicht, in Zusammenhang mit Karin sogar nur einen. »Reden wir hier von diesem Schuppi?«
Abrupt steht Jürgen auf. »Hmm«, brummt er und beginnt einen unruhigen Gang durchs Wohnzimmer. »Der Sack ist samenstreuend durch Suchsdorf gezogen«, knurrt er, während er das Rollo runterzieht, »und hat sie dann sitzen lassen.«
Das sind nun doch ein paar Informationen zu viel auf einmal. Auch Frau Heerten schüttet ihr Glas in sich rein. Das muss sie erst mal alles verdauen.
Karin hatte was mit ihrem Nachbarn zwei Häuser weiter – ja, sie denkt »ihrem Nachbarn«, also ihrem und Karins, und nicht »ihrem Jürgen« –, und sie selbst ist eine Rabenmutter, die nichts gemerkt hat. Dann hatte Karin was mit diesem Schuppi, und die Rabenmutter hat wieder nichts gemerkt. Und als ihre Tochter dann aus Kummer wegen des Schuppi-Arschs heulend zu ihrem Jürgen zurückgelaufen ist, hat sie immer noch nichts gemerkt. Das muss man erst mal verkraften, selbst als Rabenmutter.
Als all diese Tatsachen in ihr weit genug nach unten gesackt sind, kann sie oben wieder klar denken. Jetzt ist Karin mit den beiden Kindern und ihrem Christian (also ihrem, nicht ihrem) in Hamburg, und es geht ihr anscheinend gut. So what? Alles hinter dem Pflug. Nur dieser Schuppi scheint weiterhin seinen Samen zu verstreuen, wie sich dem Kassenzettel mit den Pampers entnehmen lässt.
»Aha«, sagt sie schließlich, »und nun?«
»Nun«, sagt Jürgen, setzt sich und schenkt beide Gläser wieder voll, »nun ist meine Frau weg. Nun brauchen die Kinder wieder jemanden zum Liebhaben. Und weil Felix und Mia, wenn das mit Karin anders gelaufen wäre, beinah deine Enkelkinder geworden wären, hab ich an dich gedacht.«
Was heißt das denn nun genau? Wieder so ein Satz, der eigentlich erst mal verdaut werden müsste. Aber dazu hat sie jetzt nicht mehr die Energie.
»Und wo ist dieser Samenstreuer jetzt hin?«, fragt sie. So ganz ohne Papiere und speckiges Portemonnaie, könnte sie hinzufügen, tut es aber nicht.
»Ich glaube, der wohnt irgendwo bei seinem Bruder in Süddeutschland. Ist mir im Grunde aber wirklich total scheißegal. Hast du keine anderen Themen?«
Na klar hat sie auch andere Themen. Kannst du dir ja wohl vorstellen, dass eine Frau, die nächtens zu zweit mit einem Mann allein auf einem Sofa sitzt, bei der zweiten Flasche Wein auch andere Themen hätte.
»Warst du auch mit meinem Thomas befreundet?«, fragt Frau Heerten, und ich muss sagen, an solch ein anderes Thema hatte ich jetzt nicht gedacht, zumindest nicht als Erstes.
»Nein, der gute Thomas war ja mit seiner Mutter verheiratet«, sagt Jürgen und kippt das nächste Glas in sich rein.
Da muss Frau Heerten eine ganze Weile drüber nachdenken, bis sie endlich spitzkriegt, dass er sie meint. »Na, na«, wehrt sie ab. »Ich war mit Armin verheiratet.«
»Bist du sicher?«
Also wirklich frech, diese Jugend heutzutage. »Was willst du denn damit sagen?«
»Hast du mit ihm geschlafen?«
»Natürlich.«
Er grinst. »Mit Thomas, meine ich.«
»Natürlich nicht.« Also wirklich total frech, diese Jugend heutzutage.
Ja, das ist zwar eher irgendwie das Thema, das ich gemeint habe, aber so denn nun doch nicht. Da kannst du mal sehen, dass der Jürgen anbaggertechnisch etwas … sagen wir mal, ungeübt ist. Damals, bei der Karin, hatte er es noch drauf. Doch als sie ihm dann entflattert ist – so was können Sensibelchen wie Jürgen nur schwer verkraften. Da war erst mal tote Hose. Auch als seine Eltern weggezogen sind und er beim Hausbewachen sturmfreie Bude gehabt hätte – weiter tote Hose. Bis seine spätere Frau, die Andrea, mehr oder weniger über ihn gestolpert ist und ihn für sich klargemacht hat. Da ging’s dann Schlag auf Schlag. Felix, Mia, aber schließlich – wieder alles tot in der Hose.
So eine tote Hose kann eine Frau zum Meckern bringen, kannst du dir vielleicht vorstellen. Und einen Mann zum Fußball. Und in die Kneipen. Da gibt es lauter interessante Männergespräche: wie man die Maschine von Mike tieferlegen könnte, wie lange Löw sich noch oben halten kann, ob Trump der richtige Präsident für die USA ist. Alles wichtiger als Felix’ drohender Fünfer im Rechnen. Und alles total ohne Gemecker.
Beide trinken und hängen ihren Gedanken nach.
Nun musst du wissen: Karin hat gentechnisch gesehen von ihrem Vater, dem Armin, Gott hab ihn selig, nicht viel geerbt. Dafür von ihrer Mutter umso mehr. Ich will jetzt nicht sagen, wie aus dem Gesicht geschnitten, aber doch eine große Ähnlichkeit. Und wenn die Tochter wie die Mutter aussieht, dann natürlich auch die Mutter irgendwie wie die Tochter, nur eben älter. Ist ja klar. Vielleicht ist es das, was Jürgen seine frühere Kraft zurückgibt – anbaggertechnisch gesehen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.