Kitabı oku: «Goldgier», sayfa 4

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„Wir haben sie zur Leichentoilette geschickt, damit ihr Fotos von ihr veröffentlichen konntet“, ergänzte Frederike den Sachverhalt.

„Du erinnerst dich gut!“, lobte Franziska die neue Freundin, woraufhin Frederike nachdenklich mit den Schultern zuckte. „Fälle wie dieser waren der Grund, warum ich dann doch nicht in der Rechtsmedizin geblieben bin. Und außerdem fand ich dich schon damals sehr sympathisch.“

„Oh je! Und ich kann mich nicht an dich erinnern“, seufzte Franziska und verzog bekümmert das Gesicht.

„Macht ja nichts.“ Frederike stand auf und zog Franziska mit sich zur Theke. „Magst du einen Kaffee?“

„Nein, ich trinke nur Tee“, erklärte Franziska und begutachtete das Angebot in der Kühltheke, bevor sie ein Glas Darjeeling und ein Schinkenbaguette orderte. Frederike entschied sich für einen großen Cappuccino und ein Schokocroissant. „Nach der Rennerei heute Nacht habe ich mir das verdient“, erklärte sie lachend.

Nachdem der erste Hunger gestillt war, hakte Franziska nach. „Also dann, Freddy!“ Sie hob ihre Tasse und prostete Frederike zu. „Du wolltest mir etwas über den Zustand des Totengräbers erzählen.“

„Ja, stimmt!“ Frederike schmunzelte. „Hast du eigentlich auch einen Spitznamen?“

„Franzi! Und Obermüller, mein Kollege, nennt mich Franzilein.“ Franziska verzog das Gesicht, um zu signalisieren, dass das nicht ihr liebster Spitzname war und einzig von Obermüller verwendet werden durfte.

„Und dein Schatz?“

Frederike kam ja ganz schön schnell zur Sache, dachte Franziska und zögerte mit der Antwort. Vorsichtig nahm sie einen Schluck der goldgelben Flüssigkeit und verbrannte sich fast den Mund. Sie musste an die letzte Nacht und ihren Babystreit denken und dass ‚ihr Schatz‘ einfach weggefahren war. Sie machte eine wegwerfende Bewegung.

„Darf ich Franze sagen? Das passt irgendwie besser zu dir.“ Frederike streute vorsichtig Zucker auf ihren Milchschaum und kostete einen Löffel voll, bevor sie ihn unterrührte.

„Franze?“ Franziska ließ sich diese ungewohnte Anrede auf der Zunge zergehen und nickte. „Okay, darfst du!“

„Sehr schön“, freute sich Frederike und hob nun auch ihre Tasse, um Franziska zuzuprosten. „Aber zurück zu deinem Fall.“

„Ich bitte darum.“ Die Kommissarin biss in ihr Baguette.

„Kollege Buchner hat mir bei der Übergabe geschildert, dass der Mann vermutlich betrunken in die Grube gestürzt ist.“ Franziska nickte kauend. „Logische Schlussfolgerung: zu viel Arbeit, zu viel Bier.“

„Hm“, bestätigte Franziska und schluckte. „Dann hat sich diese Vermutung also bestätigt?“

Die Ärztin schmunzelte. „Zu viel Arbeit vielleicht – zu viel Alkohol sicher nicht. Der Mann hatte null Promille im Blut. Er war so nüchtern wie ein neugeborenes Kalb.“ Frederike biss in ihr Croissant und lachte, weil sie sich mit Puderzucker eingestäubt hatte.

„Okay, dann fällt dieser Grund für seinen Absturz also weg“, kombinierte Franziska und versuchte ihr neues Wissen einzuordnen, als sie das Grinsen bemerkte, das aus Frederikes Gesicht geradezu herausplatzen wollte. „Du hast eine Idee dafür, warum er in die Grube gestürzt ist?“, hakte die Kommissarin nach.

„Also so würde ich es nicht nennen“, hielt die Ärztin sie weiter hin.

„Egal, Hauptsache ein Ansatz!“, lockte Franziska und lächelte. Sie mochte die junge Ärztin, und das Gespräch mit ihr machte Spaß, trotzdem wollte sie endlich die Fakten kennen.

„Ich habe nicht nur eine Idee, ich habe ein ganzes Tatmuster“, erklärte Frederike mit einem Zwinkern. „Darüber befinden wir nach deinem Bericht!“, kommentierte Franziska die Anmaßung der Freundin. „Leg los!“

„Zunächst habe ich mir die Kopfverletzung von Arnold Schwarzenflecker angesehen.“ Franziska lauschte aufmerksam. „Es handelt sich hierbei um eine sogenannte ‚Gewalteinwirkung eines nicht geformten stumpfen Gegenstandes‘. Die Fläche der Tatwaffe muss größer gewesen sein als der Schädel selbst. Das erkennt man, weil die entstandene Wunde nur durch die Anatomie des Kopfes begrenzt wird. Es gibt also keine Wundränder und auch keine Wundmuster, die eine eindeutige Schlussfolgerung zulassen würden. Dadurch bleibt alles offen. Es könnte tatsächlich sein, dass der Totengräber in die Grube gestürzt ist und sich beim Aufprall die Verletzungen zugezogen hat.“

Franziska nickte und wollte gerade zu einer Bemerkung wie: „Ja, aber das ist doch alles klar, ein Unfall …“ ansetzen, als die Ärztin auch schon in ihrer Erklärung fortfuhr.

„Gegen diese Theorie spricht allerdings auch einiges. Erstens: Warum sollte der Totengräber ohne Alkoholisierung einfach so in seine Grube fallen? Ich habe ihn gründlich untersucht und nichts gefunden, was etwa für einen Herzinfarkt oder Ähnliches spricht.“ Franziska zuckte mit den Schultern, darüber hatte sie sich bisher keine Gedanken gemacht.

„Zweitens: Der Boden der Grube ist zu weich für eine solch schwere Verletzung, es sei denn, der Patient wäre beim Sturz auf Sargreste getroffen. Dann hätten sich diese allerdings als Wundmuster erkennen lassen. Damit fällt der Sturz in die Grube als Entstehungsmöglichkeit für seine Kopfwunden auch weg.“

Die Kommissarin machte große Augen, weil ihr gerade aufging, was das zu bedeuten hatte. „Das heißt ja dann …“

„Abwarten. Denn drittens kennst du ja vielleicht die sogenannte ‚Hutkrempenregel‘, nach der man davon ausgeht, dass in der Regel Verletzungen, die bei einem Sturz entstehen, unterhalb der Hutkrempe lokalisiert sind. Tatsächlich weist der Totengräber zwei Kopfverletzungen auf. Eine befindet sich unterhalb der Hutkrempe und eine weitere, viel schwerere, oberhalb der Hutkrempe.“

Frederike nahm einen Schluck ihres Cappuccinos und lächelte. „Das habe ich bei Professor Wassly gelernt.“

„Du hast eine ähnliche Art, Dinge auf den Punkt zu bringen!“, bestätigte Franziska lächelnd und trank von ihrem Tee als Zeichen, dass sie gerne zuhörte.

„Den Arm hat er sich wohl wirklich beim Sturz in die Grube gebrochen, die Tritte in die Flanken muss er allerdings schon oben bekommen haben, und die Tatsache, dass sich kein Werkzeug abbilden lässt, kann auch einfach an der Größe des Werkzeugs liegen.“

„Wow! Wie kommst du darauf?“

„Na ja, ich will jetzt nicht sagen, dass das einfach war, aber wenn man eins und eins zusammenzählt, dann schon“, freute sich Frederike.

„Bist du dir sicher, dass du nicht zurück zu Professor Wassly willst?“

Frederike lachte so laut auf, dass sich am Nachbartisch zwei alte Damen umdrehten, die aussahen, als hätte man sie bei der Planung eines Komplotts gestört. Mit erhobenen Händen entschuldigte sich die Ärztin für die Störung und beugte sich zu Franziska hinüber.

„Nachdem ich mich heute früh persönlich auf dem Friedhof umgesehen habe, würde ich folgenden Tatablauf annehmen.“ Frederike rutschte auf ihrem Stuhl noch ein wenig weiter nach vorn und flüsterte jetzt. „Der Totengräber wurde von hinten mit seinem eigenen Grabwerkzeug niedergeschlagen. Das Blatt der Schaufel und auch des Spatens ist größer als der Kopf, daher keine Wundränder. Der Schlag traf ihn stehend von oben. Danach ging der Mann zu Boden, und beim Aufschlag zog er sich die zweite, leichtere Wunde zu. Im Liegen bekam er einige Tritte in die Flanken, was die Einblutungen auf der linken Seite in Höhe der Milz sehr schön zeigen. Und ich gehe davon aus, dass er erst anschließend in die Grube befördert, vielleicht sogar geschubst wurde. Dabei hat er sich dann den Arm gebrochen und einige Abschürfungen zugezogen.“ Frederike schaute Franziska abwartend an. „Na, was sagst du jetzt, ist das ein Tatmuster?“

„Freddy, ich bin sprachlos!“, versicherte Franziska anerkennend. „Und es klingt wirklich alles total glaubwürdig. Nur, wie kommst du auf die Werkzeuge?“

„Ich ging vom Schlimmsten aus und suchte in der heftigsten Wunde nach Hinweisen. Nachdem es keine Wundränder gab, klingelte ich Dr. Buchner aus dem Bett und ließ mir alles noch einmal schildern, und dabei kam er auf den Spaten zu sprechen. Ich suchte nach Spuren von Lack oder Rost oder etwas anderem, was zu einer Schaufel als Tatwerkzeug passen würde, und entdeckte beides.“

„Und dass er einfach auf seine eigene Schaufel gefallen ist?“ Noch zögerte Franziska. Sie wollte schließlich keinen Fall bearbeiten, der keiner war.

„Und getreten hat er sich auch selbst, und wenn ich noch einmal nachschaue, dann hat er sich auch in den Hintern gebissen, oder?“ Die Ärztin kicherte auf und erntete von einer der beiden Damen am Nachbartisch einen zurechtweisenden Blick.

„Tut mir leid, wir klären hier gerade einen Mord auf“, versicherte die Ärztin mit geheimnisvoller Stimme, woraufhin sich die Blicke der Damen in Neugierde wandelten.

„Hast du das gehört, Burgi?“, flüsterte die eine, und die andere bestätigte: „Agnes, Schäfchen, natürlich habe ich es gehört, meine Ohren sind ja schließlich völlig in Ordnung.“

Hastig legte Frederike einen Finger auf die Lippen und deutete den beiden Damen damit an, dass das, was sie gerade gehört hatten, top secret war.

„Okay, das heißt, ich muss zusehen, dass ich die Werkzeuge auftreibe und mit den Proben aus der Wunde vergleichen lasse.“ Franziska nickte ganz in Gedanken an diese Möglichkeit der Ermittlung. „Immerhin eine Spur“, erklärte sie schließlich voller Zuversicht, bis ihr einfiel, dass sie gestern, als sie noch vom Alkohol als Täter ausgegangen waren, praktisch nichts gesichert hatten. „Wenn sie noch zu finden sind.“

„Sind sie.“ Die junge Ärztin lächelte zufrieden. „Und zwar ordentlich mit Plastik umhüllt in meinem Auto.“

„Nein!“

„Doch. Die lagen ja einfach neben dem Grab.“ Tadelnd schüttelte Frederike den Kopf.

„Und hast du den Täter vielleicht auf dem Beifahrersitz festgeschnallt?“, erkundigte sich Franziska, um von ihrer Nachlässigkeit abzulenken.

„Aber Franze, wo denkst du hin? Die Aufklärungsarbeit überlasse ich natürlich dir. Sonst wirst du noch arbeitslos.“

Die Kommissarin lachte abwehrend, bevor sie sich bei Frederike bedankte. „Ja also, was soll ich sagen? Das war eine wirklich hervorragende Analyse. Danke!“ Franziska trank ihren Tee aus und erhob sich. „Was meinst du? Könnte ich gleich mal mit dem Totengräber sprechen? Vielleicht kann er deine Theorie ja mit Hinweisen ergänzen?“

Nachdem Kanopka die Wohnungstür mit einem lauten Knall ins Schloss geworfen hatte, war Daniela wimmernd auf dem Boden zurückgeblieben. Einfach so, ohne sich zu rühren. Sie dachte sich, wenn sie einfach liegen blieb, dann müsste es bald vorbei sein. Sie war noch nicht einmal traurig darüber, hoffte einfach nur, dass es schnell gehen würde. Alles tat ihr weh, und es erschien ihr unmöglich, sich auch nur umzudrehen, geschweige denn aufzustehen. Wofür auch? Egal was sie in den letzten Jahren versuchte hatte, um diesen Arsch loszuwerden, es war alles umsonst gewesen. Außer der kurzen Zeit mit Arnie war ihr Leben eine Aneinanderreihung von mal mehr, mal weniger beschissenen Tagen. Wozu es fortsetzen?

So oft hatte Daniela von vorn begonnen, immer und immer wieder hatte sie eine Lücke in dem Zaun gesehen, der ihr kleines Leben einengte, und war hindurchgeschlüpft, überzeugt, dass sie Kanopka diesmal entkommen konnte. Aber egal wie weit und egal wohin sie ging, der Kerl war irgendwann wieder zur Stelle.

Jetzt fehlte ihr die Kraft, um weiterhin ein Leben zu führen, dem sie stets die Stirn geboten, das im Gegenzug jedoch nur Schläge und Tritte für sie parat gehabt hatte.

Zusätzlich zu den Schmerzen breitete sich bald schon eine Eiseskälte in Daniela aus, was dazu führte, dass ihre Zähne hart aufeinanderschlugen. Der Schmerz in ihrem Gesicht wurde dadurch schier unerträglich, und doch wurde gleichzeitig ihr Lebensmut angestachelt.

Daniela fluchte. Erst im Stillen und dann immer lauter: „Du verdammte Sau, was hast du gemacht?“ Sie hob den Kopf und drehte ihn vorsichtig zum Fenster. Es stand noch immer offen und ließ die kalte, vom Innwasser geschwängerte Herbstluft ungehindert hereinströmen. „Du widerlicher Bastard! Verrecken sollst du, elendiger! Verrecken!“

Mit diesen und weiteren wüsten Flüchen schaffte sie es schließlich, sich auf den Bauch zu drehen und zum Fenster hinüberzurobben. „Du mieser Scheißkerl, du dreckiger!“, geiferte sie und spürte, wie sie mit jedem Fluch, den sie Kanopka hinterherschickte, neuen Lebensmut fand. „Du Drecksau, du Riesenarschloch, du Arschgeburt!“ Jedes dieser Worte wirkte wie eine Befreiung und verlieh ihr gleichzeitig die Energie, die sie brauchte. Begleitet von Schmerzenslauten und weiteren Verwünschungen richtete sie sich auf und schloss das Fenster. Daniela schwankte, und sie musste sich am Fensterbrett abstützen. Sie konzentrierte sich auf ihre Atmung und auf die Wärme des Heizkörpers. Langsam kroch das Leben zurück in ihren geschundenen Leib. Durch das fast vollständig zugeschwollene Auge konnte Daniela nur schemenhaft sehen, und sie ahnte, wie ihr restlicher Körper zugerichtet worden war. Mit Misshandlungen kannte sie sich aus.

„Na los, du kleine Schlampe, du wirst dich doch von so was nicht unterkriegen lassen!“, feuerte sie sich selbst an und schlurfte mit kleinen vorsichtigen Schritten ins Schlafzimmer. „So schnell ist noch keine gestorben“, erinnerte sie sich an die Worte der alten Puffmutter, die sie nach einer ähnlichen Attacke mit Hühnersüppchen und harten Worten aufgepäppelt hatte. Nur dass der Verursacher damals ein Freier war, und die Alte für ihr Schweigen reichlich Kohle bekommen hatte.

Daniela war im Schlafzimmer angekommen und wollte nur in ihr Bett kriechen, die Decke hochziehen und alles vergessen. Trotzdem schälte sie sich aus ihrer Strickjacke und schob die Träger über die Schultern, damit das Teil erst die Arme entlang und dann an ihrem Körper hinunterrutschen konnte. Als sie sich gleich darauf vor den halbblinden Spiegel ihres Schlafzimmerschrankes stellte, entfuhr ihr ein heiserer Schrei. Das Gesicht geschwollen, ein Veilchen links, die Lippe aufgeplatzt, die linke Schulter stark gerötet. Die rechte Flanke war blutunterlaufen und tat höllisch weh. Benommen starrte sie ihren arg zugerichteten Körper an.

„Du Schwein, was hast du getan?“ Daniela schluchzte laut auf, und im nächsten Moment liefen ihr doch die Tränen über die Wangen, und ihr ganzer Körper wurde von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt. Nie zuvor hatte sie so hemmungslos Rotz und Wasser geheult. Mit hängenden Armen und gesenktem Kopf ergab sie sich in ihr Elend, bis es endlich leichter wurde, das Heulen in ein hysterisches Lachen überging und sie schließlich zur Ruhe kam.

„Altes Mädchen, dass du das noch einmal erleben darfst!“, besann sie sich plötzlich, vom Weinen wie befreit. Nackt wie sie war, schleppte sie sich ins Bad und holte aus dem kleinen Apothekerschränkchen, das noch vom Vormieter stammte, eine Schachtel Schmerztabletten und eine Salbe gegen Blutergüsse. Von den Tabletten nahm sie gleich vier auf einmal. „Viel hilft viel“, hatte die Alte ihr damals beigebracht, und die Salbe trug sie vorsichtig auf. Sie kühlte, und tatsächlich wurden die Schmerzen schon bald so erträglich, dass sie ein Nachthemd überziehen, ins Bett kriechen und die Decke über sich breiten konnte. Ihr letzter Gedanke galt Arnie, der sie auf keinen Fall so sehen durfte. Und jetzt war sie wirklich froh darüber, dass er nach seinem gestrigen Einsatz nicht mehr bei ihr vorbeigekommen war.

Längst hatte sie die Augen geschlossen, als ihr einfiel, dass das doch so gar nicht seine Art war und dass sie ja auch gar nicht mitbekommen hatte, wie er nach Hause gekommen war. Kanopkas letzte Worte fielen ihr ein, und ein ganz böses Gefühl wollte sie überkommen. Doch als es sich auf den Weg machte, ihr Gehirn mit Sorgen zu fluten, hatten die Schmerztabletten bereits ganze Arbeit geleistet und schenkten ihr einen ruhigen, tiefen Schlaf. An Arnie könnte sie am nächsten Morgen noch genug denken, schien ihr Unterbewusstsein entschieden zu haben, jetzt musste sie erst einmal selbst wieder auf die Beine kommen. Und dazu brauchte sie dringend Schlaf.

Völlig außer Puste drückte Franziska um die Mittagszeit die Glastür zum Flur der Mordkommission auf, wo sie von der langjährigen Sekretärin Ramona Meier begrüßt wurde.

„Du sollst zum Chef kommen! Der war schon zweimal bei mir, weil er wissen will, warum seine Mordkommission verwaist ist“, erklärte Ramona und verdrehte dabei zum Zeichen der Solidarität die Augen.

Franziska blieb vor Ramonas Schreibtisch stehen. „Wie kommt er darauf? Ich habe meinen Job gemacht“, rechtfertigte sie sich aufgebrachter als geplant. Nach einem sehr informativen Frühstück mit Frederike Semmelweis hatte sie sich gerade eben erst mit Schaufel, Spaten und den Proben aus der Wunde des Totengräbers abgeschleppt, um sie bei Annemarie Michel abzugeben, ihrer Kollegin aus der Kriminaltechnik.

Beschwichtigend hob Ramona die Arme. „Reg dich nicht auf. Mir musst du das auch gar nicht erklären. Obermüller hat mir nämlich schon von eurem nächtlichen Einsatz berichtet.“

„Ja, und Hannes müsste doch auch schon da sein?“ Franziska schielte auf ihre Armbanduhr. Es war fast eins. „Solange kann sein Atemkurs ja wohl nicht dauern.“

Erheitert schüttelte Ramona den Kopf. „Er ist heute früh mit Sabrina ins Klinikum gefahren. Sie bekam heute Nacht Wehen, und da wollten sie auf Nummer sicher gehen.“

„Zu viel geatmet, was?“, frotzelte Franziska.

Ramona, die selbst Mutter zweier fast erwachsener Töchter war, zuckte mit den Schultern. „Bisher habe ich noch keine Nachricht bekommen, aber ich bin mir sicher, Hannes wird sich sofort bei uns melden, wenn alles ausgestanden ist.“

Franziska ließ sich auf der Schreibtischkante nieder und seufzte in der Hoffnung, in Ramona eine verständnisvolle Zuhörerin zu finden. „Sag mal, Ramona, war das bei dir auch so kompliziert? Ich meine, wenn man miterlebt, wie sich Hannes verändert hat, dann kann man doch wirklich Angst davor bekommen, dass es einen selbst erwischt, oder?“

Ramona musterte Franziska von unten herauf. „Bist du schwanger?“

Franziska blickte verlegen auf ihre Fingernägel und beeilte sich dann zu versichern. „Nein, nein, sicher nicht. Wer sollte denn dann auch die Arbeit machen? Ich meine ja nur …“

Ramona lachte leise auf. „Mach dir keine Sorgen, Franzi. Bisher hat es noch jede irgendwie geschafft. Da werden Sabrina und Hannes keine Ausnahme machen.“

Franziska seufzte fast unmerklich. „Trotzdem macht es natürlich keinen Spaß, einen Partner zu haben, der ständig an Frau und Kind denkt. Wie soll das werden, wenn Hannes’ Würmchen erst einmal da ist?“

Ramona erhob sich und schaute Franziska direkt in die Augen. „Ich glaube, du bist einfach noch nicht wieder ganz fit. Magst du vielleicht einen Kamillentee?“ Franziska nickte, in Gedanken noch immer bei einer möglichen und ihr ganzes Leben auf den Kopf stellenden Schwangerschaft. Weil ihr das aber langsam zu viel wurde, entschied sie mit fester Stimme. „Okay, ich hör jetzt auf damit. Von nun an wird einfach ermittelt, und wenn es da ist, dann wird Hannes auch wieder tatkräftig mitarbeiten.“

„Und was, bitte, ermitteln Sie, wenn ich fragen darf?“ Unbemerkt war der leitende Kriminalhauptkommissar Schneidlinger aus seinem Büro gekommen und hatte sich zu den beiden plaudernden Frauen gesellt. Franziska fuhr herum. „Ach, Chef!“ Ihr fiel nicht gleich ein, was sie sagen sollte, weil sie nicht wusste, was er mitgehört hatte. „Hat Ihnen Obermüller noch nichts gesagt?“

„Kollege Obermüller hat mich darüber informiert, dass es heute Nacht auf dem Innstadtfriedhof einen tragischen Unfall gegeben hat. Ich warte allerdings noch auf den abschließenden Bericht“, blaffte Schneidlinger und blickte Franziska an, während diese wiederum ihren Vorgesetzten musterte. Wie immer trug er einen tadellos sitzenden Anzug, Hemd und Krawatte. Doch beim näheren Hinschauen sah er an diesem Tag wirklich schlecht aus: blass und mit tiefen Sorgenfalten um die Augen. Dabei hatte er doch erst kürzlich damit geprahlt, dass ihm so ein Virus nichts anhaben konnte, weil er mit Dreck und Mist aufgewachsen war.

Als Schneidlinger vor einigen Jahren als neuer Leiter der Mordkommission von München zu ihnen nach Passau gewechselt war, hatte es einige Unstimmigkeiten gegeben, weil er ihnen zu wenig vertraute und jedem das Gefühl gab, alles besser zu wissen. Bei ihrem ersten gemeinsamen Fall hatte er dann aber gezeigt, dass er sich nicht nur als Chef aufspielte, sondern sich auch vor seine ‚Truppe‘ stellte, wenn es hart auf hart kam. Inzwischen waren sie ein gutes Team. Doch heute musste ihm irgendetwas die Laune verhagelt haben.

„Ich ermittle, weil es sich um keinen tragischen Unfall, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach um einen versuchten Totschlag handelt“, erklärte ihm Franziska mit aufgesetzt fröhlicher Stimme.

Mürrisch schüttelte Schneidlinger den Kopf. „Und wie kommen Sie auf diesen Richtungswechsel?“

Franziska lächelte triumphierend: „Ich habe mich heute Morgen mit der behandelnden Ärztin unterhalten. Sie ist eine frühere Kollegin von Professor Wassly und …“

Obermüller war durch die offenstehende Tür seines Büros herausgetreten. Dem Geruch nach hatte er gerade mindestens drei Leberkässemmeln vertilgt. Franziska wurde flau im Magen. Wie konnte er nur? Im Gehen wischte er sich umständlich den Mund mit einer Serviette ab, bevor er nachhakte. „Und was hat sie gesagt?“

„Sie sagte, dass es sich unmöglich um einen Sturz gehandelt haben …“

In diesem Moment öffnete Kollege Hollermann die Glastür gerade so weit, dass er hindurchpasste. Er sah ähnlich schlecht wie der Chef aus: die Haare wirr, das Gesicht blass, die Mundwinkel hängend, und vor allem trug er unter seiner Regenjacke eine verbeulte Jeans und ein Hemd, das vermutlich dringend in die Wäsche gehörte. „Falscher Alarm“, erklärte Hannes, bis er zu bemerken schien, dass er gerade in ein wichtiges Gespräch geplatzt war.

Franziska, die sich ein Schmunzeln nur mit Mühe verkneifen konnte, weil es sich ja nicht um den ersten falschen Alarm handelte, schaute ihren jüngeren Kollegen nachsichtig an, bevor ihr die Frage in den Sinn kam, ob Walter sie auch so fürsorglich zum Arzt und ins Krankenhaus bringen und sich um sie kümmern würde, wenn sie nicht mehr sexy, sondern einfach nur plump und schwanger wäre.

Schneidlinger blickte den Kollegen mitleidig an, wobei Franziska diesen Blick als ein Da-machen-wir-Männer-aber-auch-was-mit deutete. Oder würde Walter genau das nicht mitmachen und seine schwangere Frau, wenn es darauf ankam, sitzen lassen und sich in der Wartezeit mit anderen, nicht-schwangeren Frauen vergnügen?

Innerlich rief Franziska sich zur Ordnung. Langsam nervten sie diese ständigen Gedanken rund um eine Schwangerschaft. Sie wollte kein Kind, sie wollte ermitteln. Darum ging sie auf Hannes zu, wickelte ihm den von Sabrina selbstgestrickten Schal ab und warf ihn achtlos auf einen Stuhl vor Ramonas Schreibtisch. Dann packte sie ihren Kollegen bei den noch in der Regenjacke steckenden Schultern und schüttelte ihn. „Da hast du ja jetzt wieder Zeit, um mit mir zu ermitteln – wir haben nämlich einen neuen Fall!“, erklärte sie lebhaft und schenkte Schneidlinger ihr allerschönstes Lächeln, bevor sie weiter berichtete: „Der Totengräber von letzter Nacht wurde nämlich niedergeschlagen und in die Grube geworfen, und so wie es aussieht mit seiner eigenen Schaufel.“ Das saß. Auch bei Schneidlinger.

„Wie kommen Sie …“, wollte der schon loslegen, wechselte dann aber einen Blick mit Obermüller, der gelassen alles von der Tür aus beobachtet und nur mit den Schultern gezuckt hatte, holte tief Luft und forderte mit fester Stimme: „In mein Büro! Alle!“

„Soll ich Kaffee bringen?“, fragte Ramona noch, und Franziska wartete gespannt auf Schneidlingers Reaktion. Doch dieser winkte nur unwirsch ab.

Begleitet von Obermüllers Zwischenrufen, schilderte Franziska die Situation der vergangenen Nacht und fügte dann genüsslich an, was sie am Vormittag von Frederike erfahren hatte.

„Und es war wirklich kein Alkohol im Spiel?“, wollte Obermüller ungläubig wissen. „Wir hätten doch schwören können …“

Du hättest schwören können“, korrigierte Franziska mit einem kleinen Augenzwinkern und fügte dann hinzu: „Nein, es war definitiv kein Alkohol im Spiel.“ Und dann wiederholte sie die Erklärung, mit der ihr Frederike klar gemacht hatte, dass der Totengräber ein Fall für die Kripo war.

„Damit scheint es also ausgeschlossen, dass der Friedhofsangestellte nur versehentlich in die Grube gefallen ist?“, hakte der Chef nach, und als Franziska nickte, stand er auf und lief zwischen seinem Schreibtisch und den Kollegen, die nicht alle einen Platz gefunden hatten und sich stattdessen an einer der Wände anlehnten, hin und her. Schneidlinger bedachte jeden mit einem kurzen Blick. Selbst Ramona, deren Vorschlag, Kaffee zu bringen, er ungewohnt und rüde abgewiesen hatte. Was Franziska kurz überlegen ließ, ob es ihn vielleicht doch auch erwischt hatte.

„Wenn der Mann brutal niedergeschlagen, getreten und anschließend in die Grube geworfen wurde, dann gilt es ab jetzt, diesen jemand so schnell wie möglich zu finden“, erklärte er, indem er jedes einzelne Wort sorgfältig betonte. „Wo kommen wir denn hin, wenn man noch nicht einmal mehr auf dem Friedhof sicher ist?“

Franziska nickte heftig, Obermüller eher skeptisch, und Hannes sah aus, als wolle er im nächsten Moment einschlafen.

„Wer macht denn so was?“, ließ sich Ramona mit einem schaudernden Flüstern vernehmen. „Einen Totengräber auf dem Friedhof niederschlagen? Das macht man doch nicht!“

Schneidlinger wandte sich zu Ramona um und ließ seinen Blick eine Weile auf ihr ruhen. „Das sollte zu klären sein“, mutmaßte er und sah Franziska an: „Gibt es bereits einen Ansatz?“

„Nein, nicht wirklich. Wir gingen ja von einem Unfall aus.“ Franziska blickte zu Obermüller, aber der schien sich auch nicht rechtfertigen zu wollen.

„Und jetzt gehen Sie eben von einem versuchten Totschlag oder sogar von einem Mordversuch aus!“, polterte Schneidlinger und Franziska fragte sich erneut, ob das wirklich nur an dem Virus liegen konnte, denn normalerweise benahm er sich nicht wie ein Sklaventreiber, zumindest nicht in dieser frühen Phase der Ermittlungen.

„Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten“, versuchte Franziska sich in einem Ansatz und warf Hannes dabei einen beschwörenden Blick zu. Es schien ihr mehr als fraglich, ob mit ihm überhaupt etwas anzufangen sei.

„Entweder kamen der oder die Täter zufällig vorbei und nutzten die Möglichkeit, einen wehrlosen Mann ungesehen zusammenzuschlagen, oder aber es legte sich jemand gezielt auf die Lauer, weil er mit Arnold Schwarzenflecker noch eine Rechnung offen hatte. So oder so nutzte jemand die Gelegenheit, den Totengräber nachts allein auf dem Friedhof anzutreffen.“ Franziska holte Luft. „Aber das ist alles nur Spekulation, reine Theorie.“

Endlich wandte sich Schneidlinger wieder seiner Oberkommissarin zu. „Konnten Sie denn den Mann inzwischen vernehmen? Kann er etwas zur Aufklärung des Tathergangs beitragen?“

Franziska schüttelte den Kopf. „Nein, leider! Der Mann hat eine schwere Kopfverletzung und wurde sediert.“

„Dann bleiben Sie an ihm dran, und ich setze den Oberstaatsanwalt ins Bild.“

„Bitte, sagen Sie doch einfach Arnie zu mir!“, forderte der Totengräber, und zum ersten Mal, seit Franziska am vergangenen Abend seine Bekanntschaft gemacht hatte, hatte sie das Gefühl, dass er wirklich wusste, was er gerade sagte.

Noch immer war sein Kopf bandagiert, und etliche Schläuche, die in seinen Körper hinein- und wieder herausführten, zeigten, wie ernst sein Zustand eingeschätzt wurde. Ein mögliches Gehirnödem dürfe man niemals verharmlosen, hatte ihr Frederike gerade erst noch einmal erklärt, um sie gleich darauf zu bitten, das Gespräch nicht in die Länge zu ziehen. Der Patient und vor allem sein Gehirn bräuchten jetzt Ruhe.

Insofern passte es gut, dass Franziska Hannes angeboten hatte, im Auto auf sie zu warten, während sie nachsehen wollte, ob Arnold Schwarzenflecker schon vernehmungsfähig war.

„Arnie“, begann die Kommissarin und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, „Ihr Handy ist bei Ihrem Sturz in die Grube kaputt gegangen. Gibt es jemanden, den ich für Sie verständigen kann? Frau, Kinder oder Ihre Eltern?“

Der Totengräber schüttelte den Kopf. „Nein, niemand.“

Franziska seufzte. „Wir haben begründete Hinweise dafür gefunden, dass man Sie niedergeschlagen hat. Erinnern Sie sich inzwischen, was passiert ist?“ Franziska blickte den Verletzten aufmerksam an, sie lechzte nach Informationen.

Doch der Totengräber schloss die Augen und schwieg, und nach einer ganzen Weile glaubte Franziska, er wäre vielleicht schon wieder eingeschlafen. Ein wenig enttäuscht schaute sie sich im Zimmer um, aber außer seiner dicken Jacke, die an einem Haken neben der Tür hing, konnte sie nichts Persönliches entdecken. Der Kommissarin wurde bewusst, dass noch niemand bei ihm war, um Blumen oder eine Schachtel Pralinen zu bringen.

Franziska machte zwei Schritte in Richtung Tür, schaute kurz zu Arnie, der sich noch immer nicht rührte, und schob dann schnell ihre Hand in jede der aufgesetzten Taschen. Aus der einen fischte sie den Haustürschlüssel und eine kleine Mappe mit seinen Ausweispapieren, die Obermüller schon in der Nacht angesehen hatte. Sie steckte beides zurück. Aus der anderen Tasche holte sie ein paar Münzen und eine alte Zeitung heraus. Franziska wollte sie gerade näher betrachten, als es an der Tür klopfte und die Krankenschwester den Kopf hereinsteckte, um zu fragen, ob alles in Ordnung wäre. Hastig stopfte Franziska Zeitung und Münzen zurück. „Ja, danke. Ich bin ohnehin gleich weg“, versicherte sie, ohne Anstalten zum Gehen zu machen.

Franziska trat ans Fenster, und nachdem sich Arnie noch immer nicht rührte, schaute sie hinaus. Von hier oben konnte man direkt auf die Kinderstation blicken. Die erkannte sie, weil dort lauter Abziehbilder an den Fenstern klebten. Irgendwo da unten hatte Hannes mit Sabrina die letzte Nacht verbracht. War auf- und abgelaufen und hatte sich sicher auch gewünscht, es wäre bald vorbei und das Baby endlich da. Im Fernsehen sah man ja ständig Entbindungen, die unter schrecklichen Schmerzen und am Limit der mütterlichen Kräfte abliefen. Ramona hatte ihr erklärt, das wäre alles nur Show. „Du kannst nicht pressen und gleichzeitig schreien!“ Trotzdem versuchte Franziska genau in diesem Moment sich vorzustellen, wie es sein würde, und dann war ihr klar, dass sich Hannes und auch Sabrina bestimmt die gleichen Fragen stellten und sie total ungerecht über die beiden dachte.

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