Kitabı oku: «Und dann kam das Wasser», sayfa 6

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An manchen Tagen saß Oberstleutnant Strebmann in seiner Wohnung und dachte zurück an seine erste Liebe. Er hatte sie bei einem dieser Volksfeste, die es in jeder Stadt gab, kennengelernt und ihr mit seinen Schießkünsten zu imponieren versucht. Er war damals Anfang zwanzig gewesen und sie so schüchtern, wie ein Mädchen nur sein konnte. In den folgenden Wochen hatte er ihr ganz altmodisch den Hof gemacht, sich in ihrer Nähe schwindelig vor Glück und Leidenschaft gefühlt, auch wenn es nie zum Äußersten gekommen war. Allein in seinem Zimmer hatte er sich vorgestellt, sie zu küssen und zu umarmen und irgendwann auch mit ihr zu schlafen, und hatte sich doch stets damit begnügt, froh darüber zu sein, dass er sie überhaupt kennen durfte. Zusammen kam er mit Röschen, wie er sie im Stillen nannte, auch, weil er nicht wusste, wie sie wirklich hieß, nie, und Jahre später heiratete er dann eine andere Frau. Eine, die das Herz im Himmel und den Kopf auf der Erde hatte. Louise.

Die Hochzeitsfeier war schlicht, und die Flitterwochen entfielen, weil er am nächsten Tag zum Einsatz musste. In ihrer jungen Ehe schrieb sie ihm zahllose Briefe, die ewig unterwegs waren, und versuchte die Angst vor dem Tag, an dem er vielleicht nicht zurückkam, aus dem Alltag zu verbannen. Wenn er gerade nicht im Ausland war, wechselten sie alle naslang den Wohnort, die Freunde, die Bekannten und die Bäckerin an der Ecke.

Irgendwann wurden die Briefe seltener, und als Louise das Schreiben ganz einstellte, wunderte er sich zwar, dachte aber auch, dass das eben der Lauf der Dinge sei, und zerbrach sich nicht weiter den Kopf.

Als er eines Tages die Wohnung betrat, war Louise ausgezogen. Sie habe jetzt einen anderen Mann, schrieb sie ihm in ihrem kurzen Abschiedsbrief, und bat ihn, sie zu vergessen. Sie könne das alles einfach nicht mehr ertragen. Sie wolle nicht mehr jeden Tag Angst um ihn haben.

Erst hatte er geweint, zum ersten Mal in seinem Leben. Dann hatte er versucht sie zurückzugewinnen, indem er ihr sagte, was für ein Waschlappen der Neue doch sei und warum sie ausgerechnet mit so jemandem leben wollte. Aber dann war ihm klar geworden, dass sie sich genau nach so einem Mann gesehnt hatte. Sie wollte nicht mehr im Schatten eines Helden stehen, sie wollte einen Mann, der auch mal verlieren konnte, einen, neben dem sie selbst groß war. Und ihm, dem Helden, dem Draufgänger, dem Mann, der alles im Griff hatte und der weder Tod noch Teufel fürchtete, blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. So viele Schlachten hatte er geschlagen, jetzt nagte die größte Niederlage an ihm. Er war zu Hause, und Louise war weg.

Doch dann hatte es das Schicksal noch einmal gut mit ihm gemeint und ihn sein Röschen wiedertreffen lassen. Nicht, dass sie es wirklich war, nein, das nicht, aber sie sah aus wie sie, und sie benahm sich genauso schüchtern, und weil er auch dieses Mal ihren Namen nicht wusste, nannte er sie für sich erneut :Röschen.

Schon bald war die Frau mit den wunderbaren Rundungen, dem mädchenhaften Gang und dem gütigen Gesicht seine heimliche Liebe. Ständig lauschte er auf ihre Schritte, folgte ihrem Weg und malte sich aus, wie es wäre, wenn er sich ihr endlich offenbaren würde.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sich schon in sie verliebt, und da es keine andere Frau in seinem Leben gab, für die er schwärmen konnte, tat er es künftig für Röschen. Allein in seiner Wohnung wünschte er sich, mit ihr zusammen zu sein, und wenn sie im Hausflur an ihm vorbeieilte, nahm er sich vor, sie beim nächsten Mal zu fragen, ob sie nicht mit ihm essen oder gar ausgehen wolle.

An diesem Tag hatte er, was sonst nie vorkam, verschlafen, weil er am Abend zuvor zu lange die Katastrophenberichte im Fernsehen verfolgt hatte. Ausgerechnet heute, schimpfte er sich, verzichtete auf das Frühstück, überprüfte seinen kleinen Koffer, zog seine Uniform an und rief ein Taxi. Einmal im Jahr nahm er an einer Wehrübung für Reservisten teil, und diese eine Übung begann heute.

Als er die Treppe hinuntergehen wollte, kam ihm Röschen entgegen, und als er sie sah, war die Welt eine andere. Trotz der Eile und des drängenden Hupens des Taxifahrers stellte er den Koffer ab und ließ sie vorbei. Sie sah so müde aus an diesem Morgen. Ihre Schritte waren schwer, und sie brauchte auf einmal Platz für zwei auf dem Gang, warum er sich ganz an die Wand drückte. Und als sie an ihm vorbeiging, grußlos wie immer, da sah er ein geheimnisvolles Leuchten in ihren Augen. Es war wie ein Versprechen, er wusste nur nicht, ob es gut oder schlecht war.

„Einen wunderschönen guten Morgen“, grüßte er und schlug im Eifer des Gefechts die Hacken zusammen. Und tatsächlich sah es so aus, als würde sie ihn anlächeln und ihm vorsichtig zunicken.

Beschwingt eilte er mit seinem Koffer die Treppen hinunter und stieg in sein wartendes Taxi. „Zum Bahnhof, bitte“, sang er mehr, als er es sagte. Und dann lehnte er sich zurück, schloss die Augen und wusste, dass er in den nächsten Tagen noch sehr viel an sein Röschen denken würde.


Während die Kommissarin im Büro auf den vorgeladenen Anwalt der Erbengemeinschaft wartete, klickte sie sich wie eine Besessene durch die Tatortfotos, so als könnte sie, wenn sie nur oft genug hinblicken würde, etwas entdecken, was den Täter offenbarte. Einen Täter, der sich immerhin mit ihr ganz persönlich angelegt hatte.

Als es an der Tür klopfte, zaghaft, beinah lautlos, stierte die Kommissarin gerade mal wieder auf die Hand mit den tiefen Verletzungen darin. Etwas, das sie einfach nicht verstehen konnte.

„Ja“, rief sie dementsprechend mürrisch und blickte genervt auf, als eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz und in Uniform den Kopf zu Tür hineinstreckte.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung“, setzte sie an, als sie Franziska entdeckte. Doch dann wanderte ihr Blick zu Hannes, und ein strahlendes Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Hallo“, hauchte sie jetzt nur an ihn gewandt und trat näher.

„Ah, hallo, komm doch rein!“ Hannes sprang auf und zeigte, an Franziska gewandt, auf die Besucherin. „Darf ich vorstellen? Kollegin Hoffmann.“

„Franziska Steinbacher, freut mich“, entgegnete Franziska tonlos.

„Ja, mich auch.“ Die junge Frau lächelte ein wenig unsicher. Dann hielt sie den Umschlag in die Höhe, den sie die ganze Zeit hinter dem Rücken gehalten hatte. „Ich hab etwas, was euch vielleicht interessieren könnte.“

„Komm, Sabrina, setz dich doch!“ Hannes rückte den Besucherstuhl für sie zurecht, und als sie Platz genommen hatte, schaute er ebenfalls auf den Umschlag.

„Ja, Sabrina, was haben Sie denn für uns?“, fragte Franziska in einem sehr freundlichen Ton – aber leider fiel dieser weder Sabrina noch Hannes auf, die viel zu sehr damit beschäftigt waren, einander mit funkelnden Augen anzustarren.

„Ich, ähm, hab ein bisschen in meinen Fotoalben gesucht und dann etwas gefunden, was vielleicht interessant sein könnte. Wegen den Beinhuber-Brüdern“, fügte sie für Franziska hinzu.

Die nickte auffordernd.

„Ja, also, ich habe hier ein Foto von den Brüdern und ihrer Tante Emmi.“ Sie zog ein Foto aus dem Umschlag und hielt es Hannes entgegen. „Und ich bin auch drauf. Noch ganz klein, siehst du?“

Hannes lächelte verzückt. „Süß, wirklich.“

Franziska stand auf und ging zu den beiden hinüber, um ebenfalls einen Blick auf die Aufnahme zu werfen. „Ja, wirklich, sehr süß“, erklärte sie und blickte Hannes mit hochgezogener Braue an, der daraufhin die Augen verdrehte.

Franziska wandte sich feixend von ihm ab und fragte: „Wer ist denn jetzt wer?“

„Der große ist Bernhard, der hier Franz, das ist der kleine Christian, und das hier ist Josef“, erklärte die Kollegin Hoffmann. „Ja, und das ist die alte Emmi.“

„Hm, das ist aber schon ein bisschen her. Haben Sie nicht vielleicht ein Foto, auf dem die Brüder schon erwachsen sind?“, wollte Franziska, inzwischen doch neugierig geworden, wissen.

„Doch, hab ich.“ Wieder zog Sabrina Hoffmann ein Foto heraus.

Franziska schnappte es sich sofort, schaute auf die vier Männer und fragte gespannt: „Der hier ist Bernhard, und der Franz. Richtig?“

Kollegin Hoffmann nickte. „Und das hier ist Josef.“

„Dann ist das Christian?“, fragte Franziska unsicher, weil der vierte Mann auf dem Bild nicht zu den anderen passen wollte.

„Nein. Das ist Andreas, aber der gehörte irgendwie auch immer dazu.“

„Noch ein Beinhuber-Bruder?“

„Nein. Andi ist, ja, wie soll ich sagen … Er ist nach dem Tod seiner Mutter im Waisenhaus aufgewachsen und war irgendwie immer dabei, wenn wir was unternommen haben.“

„Schade, mich hätte vor allem Christian interessiert“, stellte die Kommissarin nüchtern fest. „Ich kann ja nach Dienstschluss noch mal schauen, vielleicht finde ich eins von ihm. Wenn ich bis dahin überhaupt noch nach Hause komme. Der Pegel ist mal wieder gestiegen“, fügte sie nachdenklich hinzu.

„Ja, tun Sie das, das wäre wirklich hilfreich“, erklärte Franziska und lächelte sie aufmunternd an.

„Wenn du nicht mehr in deine Wohnung darfst, wo kommt du dann unter?“, hakte Hannes, mit mehr Interesse an der Kollegin als an den Fotos, nach.

„Dann zieh ich ins Notquartier. Die Stadt hat inzwischen einige eingerichtet. Ich kann es mir aussuchen: Dreiländerhalle oder Jahnturnhalle. Aber ich glaube, ich nehme die Dreiländerhalle − wobei, dort sind ja auch die ganzen auswärtigen Hilfskräfte untergekommen …“

„Also, wenn du Hilfe brauchst, dann melde dich“, bot Hannes an und erntete dafür einen weiteren skeptischen Seitenblick von Franziska.

„Blöde Situation“, gab sie zu, nachdem Sabrina den Raum verlassen hatte, blickte auf ihr Handy und fluchte lauter als nötig: „Verdammt! Jetzt ist es schon zehn Uhr durch, und Rechtsanwalt Mooslechner ist immer noch nicht aufgetaucht.“

Hannes grinste. „Was hast du eigentlich gegen die Kollegin Hoffmann?“

„Sabrina?“, entgegnete Franziska spöttisch.

„Ja, so heißt sie.“

„Nichts. Ich hab nur was dagegen, dass wir einen Zeugen vorladen und der einfach nicht kommt.“ Franziska stöhnte. „Nein, stimmt nicht. Ich hab vor allem was dagegen, eine Leiche zu haben und doch irgendwie auch nicht. Und da das schon so nervig ist, wüsste ich wenigstens gern, ob Mutter Beinhuber uns die Wahrheit gesagt hat, ob das mit dem Erbe wirklich so gestimmt hat, ob der Christian ein Netter war oder einer, der über Leichen ging, ob es am Ende jemanden gab, der Interesse an dem Haus hatte und, und, und. Und stattdessen kommt das Fräulein Sabrina und zeigt uns Kinderfotos.“ Franziska lächelte bitter. „Süße Kinderfotos.“

„Hey, bei euch ist ja 'ne Bombenstimmung“, unterbrach Kollege Obermüller, der sich ohne anzuklopfen ins Zimmer geschoben hatte, Franziskas Gekeife.

„Ah, gut, dass du kommst. Sag mal, Obermüller, hat sich unser Zeuge Viktor Mooslechner bei dir gemeldet?“

Matthias Obermüller war ein Schrank von einem Mann, sehr verlässlich, aber auch für jeden Ratsch und Tratsch zu haben. Gemeinsam mit Ludwig Gruber unterstützte er das Team der Passauer Mordkommission bei kniffligen Fällen. Als akribische Ermittler waren die beiden unschlagbar, was Franziska nur zu gern ausnutzte.

„Nee, tut mir leid, den Namen höre ich zum ersten Mal. Aber da ihr anscheinend die Einzigen seid, die bei dem Sauwetter hier rumsitzen und sich Gedanken über einen Zeugen machen, den sie nicht befragen können, hätte ich ein wenig Abwechslung für euch.“


Als Natalia die Wohnung erst einmal verlassen hatte und mit kleinen unauffälligen Schritten immer mehr Distanz zwischen sich und ihr Martyrium brachte, fühlte sie sich zunehmend erleichtert. Sie hatte einen Entschluss gefasst und ihren Weg gefunden.

In ihrem Inneren trug sie heute ein Licht und eine Wärme, die sie noch nie gespürt hatte und die sie unempfänglich für alles um sie herum machte. So achtete sie nicht auf die vielen Menschen, die mit schreckgeweiteten Augen auf das blickten, was einmal ihr Zuhause gewesen war, oder die, die mit Schirmen und Kameras ausgerüstet auf der Jagd nach den besten, den ungeheuerlichsten Fotos unterwegs waren. Natalia hielt den Blick gesenkt, das Gebet zur Jungfrau Maria im Herzen.

Auf der langen Reise nach Passau hatte sie oft von schönen Sachen geträumt, die sie sich kaufen wollte, sobald sie ihr erstes Geld verdient hatte. Doch jetzt, Monate später, war es nicht mehr wichtig, welches Kleid oder welchen Mantel sie trug. Und auch der Regen, der schon wieder in Sturzbächen vom Himmel fiel, störte sie nicht.

Fast die gesamte Altstadt war vom Hochwasser heimgesucht worden. Sie hatte die Bilder in den Nachrichten gesehen, doch es hatte sie nicht berührt. In ihrer Heimat wäre so etwas eine fürchterliche Katastrophe gewesen, aber hier gab es für alles und jeden eine Hilfe vom Staat und Unterstützung – zumindest, wenn man einen Anspruch darauf hatte.

Unwillkürlich zuckte sie beim Gehen mit den Schultern. Mitleid war nicht ihre Stärke. Mitleid musste man sich erst einmal leisten können.

Fest drückte Natalia die aufwendig bestickte schwarze Samttasche, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte, an sich. Sie war wie ein Schatz für sie, ein Stück Heimat. Als sie klein gewesen war, hatte ihr die Großmutter erzählt, dass sie sehr wertvoll wäre, weil sie sie im Wald von einer Elfe bekommen habe. Mit den Jahren hatte die Großmutter diese Geschichte immer weiter ausgeschmückt, und Natalia hatte sie geliebt. Daran änderte sich auch nichts, als ihre Mutter ihr erzählte, in Wirklichkeit sei sie von einem Mann, der sich damit ihre Unschuld erkauft habe. Das war aber ein Geheimnis, und Natalia durfte es niemandem verraten.

Mit einem Mal wurde Natalia unsanft aus ihren Erinnerungen gerissen. Ein Auto fuhr mit hohem Tempo an ihr vorbei und donnerte mitten durch eine tiefe Pfütze hindurch. Natalia sprang noch zur Seite, aber es war aussichtslos: Sie war von oben bis unten vollkommen nass gespritzt. Doch anstatt sich zu ärgern, wischte sie nur kraftlos mit dem Ärmel über ihr nasses Gesicht und ging weiter. Wozu sich aufregen, der Fahrer war längst weg. Lieber dachte sie noch ein bisschen an die Großmutter, die in ihrem Leben so viel gearbeitet hatte, wie alle im Dorf, und die doch immer da gewesen war, wenn Natalia sie brauchte. Als Kind und auch später noch. Zu ihr war sie gelaufen, wenn sie Trost und Wärme brauchte. Nach dem Tod des Vaters ging die Mutter arbeiten, und die Großmutter kümmerte sich um sie. Vor ein paar Jahren war die alte Frau dann friedlich eingeschlafen. Ein schöner Tod, wie sie heute nicht zum ersten Mal dachte.

Tief in Gedanken versunken, hatte sie die Nibelungenstraße erreicht. Nicht mehr lange, dann würde sie das Viertel betreten, wo man alles bekam, wenn man nur genug Geld hatte. Natalia hatte nicht viel Geld, aber seit sie hier war, hatte sie auch keine Zeit es auszugeben.

Vor ihr lag der ZOB, der Zentrale Omnibusbahnhof. Sie war erst einmal hier gewesen, ganz spät am Abend, und dann panikartig geflohen. Denn hier traf man die Menschen, denen sie schon in der Heimat besser aus dem Weg gegangen wäre.

Ein Schatten legte sich auf das Gesicht der Frau. In der Nacht hatte die Jungfrau sie aufgerichtet und ihr Kraft gegeben, um das zu tun, was sie tun musste. Aber jetzt sah sie, wie einfach es war, wenn sie einfach tat, wie sie wollte.

Trostlos blickte sie zum Turm hinauf. Er war das höchste Gebäude von Passau, wenn es auch weit schönere gab. In den vielen Stockwerken waren Ärzte, Steuerberater, Anwälte und Firmen untergebracht. Ganz oben gab es ein Café. Bei ihrer Ankunft hatte sie beschlossen, dass sie im Sommer dort sitzen wollte, Kaffee trinken, dazu ein Stück Torte essen und hinunterschauen auf die Stadt, die so schön und aufgeräumt war, wie sie sie vor ihrer Abreise auf Fotos gesehen hatte. Das alles stellte sie sich damals wunderbar vor.

Von ihrer Großmutter hatte sie nicht nur die samtene Tasche geerbt, sondern auch die deutsche Sprache gelernt, was letztlich der Grund dafür gewesen war, warum man sie ausgewählt hatte. Täglich las sie die Zeitung, um zu üben, aber auch um mehr über das Land und die Region, in der sie lebte, zu erfahren. Doch manchmal war es besser, nicht alles zu verstehen. Seit sie wusste, was vor sich ging, hatte sie noch mehr Angst, und diese Angst war langsam in ihre Seele gesickert, bis sie wie ein mottenzerfressener löchriger Lappen in ihr hing. Völlig verstört. Doch in der Nacht, da hatte die Jungfrau zu ihr gesprochen und ihr versichert, dass es überhaupt keinen Grund gab, sich zu ängstigen: Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, und wo ich bin, da ist kein Platz für Furcht, hatte sie gesagt, und sie wollte ihr so gern glauben.

Fest drückte Natalia die Tasche an sich, denn sie enthielt alles, was ihr lieb war. Dann überquerte sie mit ein paar schnellen Schritten den Platz und erreichte die Eingangstür zum Turm. Als habe sie kein Recht darauf hier zu sein, blickte sie sich vor dem Hineingehen vorsichtig um. Dabei erblickte sie ihr Spiegelbild mit den nassen Haaren und erschrak. Sie sah schlimm aus. Während sie auf den Aufzug wartete, hob sie den Arm und wischte mit einer weit ausholenden Bewegung ihres Ärmels über die Haare, um sie aus dem Gesicht zu streichen. Mehr konnte sie im Moment nicht tun.

„Achtes Stockwerk“, berichtete die Computerstimme teilnahmslos, als sich die Türen nach der kurzen Fahrt wieder öffneten. Unten hatte sie sich orientiert, bevor sie den Knopf gedrückt hatte. Jetzt ging sie zielstrebig nach rechts, öffnete die vor ihr liegende Eingangstür und sah sich gleich darauf in einem hell erleuchteten Flur um. Ihr gegenüber saß eine Frau hinter einem Schreibtisch und telefonierte. Ohne sie weiter zu beachten, wandte sie sich nach links und betrat das große Chefzimmer. Sie wusste nicht, was sie sich vorgestellt hatte, aber irgendwie passte alles sehr gut.

Natalia war jetzt ganz ruhig und konzentrierte sich nur noch auf die Stimme, die sie, tief verborgen in ihrem Inneren, weiterlockte . Fürchte dich nicht, denn ich bin bei dir, und wo ich bin, da ist kein Platz für Furcht, wiederholte die Jungfrau Maria ihr Versprechen nun immer wieder.

Ohne auf den Mann zu achten, der neben einem wuchtigen Schreibtisch stand und aufsah, sie unschlüssig betrachtete, ging Natalia schließlich zum Fenster und öffnete es. Die Aussicht war schlecht. Die Wolken hingen fast bis zu ihr herunter, und der Regen fiel ohne Unterlass. Langsam beugte sie sich hinaus. Auf dem Platz unter ihr eilten die Menschen mit gesenkten Köpfen vorbei. Hier und da erspähte sie einige aufgespannte Regenschirme. Doch Natalia war jetzt ganz bei sich und dem Grund, warum sie hierhergekommen war. Sie hatte ihren Frieden gefunden. Ihren Frieden mit ihrem Schicksal. Ihren Frieden mit Gott.

Mit einem Lächeln auf den Lippen klemmte sie die Tasche fest unter den Arm und ergriff die Hand, die ihr die Jungfrau Maria entgegenstreckte.

„Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes!“

Und tatsächlich war die Jungfrau noch immer bei ihr und hielt sie fest im Arm, bis es endlich vorbei war.


In dieser Nacht hatte Adina schlecht geschlafen, und sie wusste nicht, ob es am Regen lag, der unaufhörlich auf das Kupferdach über ihrem Zimmer prasselte, oder daran, dass sie sich Sorgen machte.

Als sie es gar nicht mehr im Bett aushalten konnte, stand sie auf, zog sich an und ging in die Küche hinunter, um einen Hefeteig anzusetzen. Die Männer liebten es, wenn es im ganzen Haus nach frischem Brot und deftigem Gulasch roch. Überhaupt waren sie leicht zu beeindrucken. Das hatte sie sofort gespürt. Und Adina kochte gern, vor allem für Männer, die ihre Kochkünste zu schätzen wussten und sagten, was sie wollten. Einen saftigen Rinderbraten in Rahmsoße zum Beispiel, und dazu Böhmische Knödel, die Leibspeise des Vaters. Und als Nachtisch: Marillenknödel, die sie mit Zimt und Zucker und einer aufgeschäumten Vanillesoße servierte. Oder ein knuspriges Grillhendl mit Kartoffelsalat. Sehr beliebt war auch ihr Schweinebraten mit frischen Reiberknödeln und Krautsalat. Pes‚tele cel mai bun, tot porcul rˇamâne, lautete ein Sprichwort aus ihrer Heimat. Der beste Fisch ist immer das Schwein.

Allerdings war Adina nicht nur sehr geschickt, was das Kochen anging, sie war auch berechnend. Nachdem sie den Teig auf den warmen Ofen gestellt hatte, sah sie nach dem Mann, den im Haus alle nur „Vater“ nannten, und als sie feststellte, dass er bereits wach war, zog sie die Vorhänge auf und wünschte ihm einen guten Morgen.

Der Vater frühstückte wie immer im Bett, warum ihm Adina die Tasse mit dem Milchkaffee, den er um diese Zeit zu sich nahm, nur halb füllte. Sein Leben lang hatte er Wert auf Etikette und gute Manieren gelegt, ein Prinzip, das mit dem zunehmenden Zittern seiner Hände immer schwieriger umzusetzen war.

„Möchten Sie essen?“, fragte Adina wie jeden Morgen, und der Vater antwortete genauso regelmäßig: „Ach, Kind, du weißt doch, dass ich um diese Zeit nichts runterbringe.“

Adina lächelte, dann nahm sie ihm die leere Tasse ab und half ihm aus dem Bett.

„Hast du schon etwas von meinem Sohn gehört?“, fragte er, als er gewaschen und angezogen in seinem Sessel saß, und sah sie mit seinen traurigen Augen, um eine positive Antwort bettelnd, an.

Bedauernd schüttelte Adina den Kopf, und damit er nicht weiter bohrte, reichte sie ihm die Zeitung.

„Danke, Kind. Was willst du uns heute kochen?“

„Gulasch mit frische Brot“, antwortete Adina und sah, wie ihm schon jetzt das Wasser im Mund zusammenlief.

„Sein Leibgericht! Na, vielleicht kommt er ja heute.“

Adina fragte, ob der Vater noch etwas brauche, doch der schüttelte nur den Kopf, bis ihm einfiel, dass sie ihm ein Buch besorgen könne.

Ja, nickte Adina erfreut, weil dieser Auftrag sehr gut zu ihrem heutigen Plan passte.

Als sie zwei Stunden später das Haus verließ, war das Brot gebacken, und das Gulasch köchelte auf kleiner Flamme vor sich hin. Um für das Wetter gerüstet zu sein, trug sie Gummistiefel und eine warme Steppjacke, deren Kapuze sie sich weit ins Gesicht gezogen hatte. Entschlossen überquerte sie die Straße und stellte sich an der Bushaltestelle unter das schmale Dach. Tagelang hatte sie auf eine Nachricht gewartet, jetzt wollte sie selbst aktiv werden. Nach einer kurzen Wartezeit stieg sie in den Bus, der sie zum Busbahnhof in der Innenstadt und damit zum Turm und den Büros, die sich dort befanden, brachte. Von dort wollte sie weiter in die Altstadt gehen, dorthin, wo die Kanzlei lag. Der Bus fuhr wegen des Hochwassers nur bis zum Busbahnhof, den restlichen Weg musste sie zu Fuß gehen, wenn es ihr überhaupt noch gelang.

Tief in Gedanken versunken, machte sie sich zum Ausstieg bereit, als sie durch die Scheibe Natalia entdeckte, die auf den Eingang zum Turm zuhielt. Den Kopf wie immer gesenkt, aber mit einem unheimlichen Lächeln im Gesicht. Adina erschauderte und begann zu drängeln, doch bis es ihr gelungen war, den Bus zu verlassen, war Natalia bereits durch die Schiebetür im Turm verschwunden.

Nachdenklich überquerte Adina den Platz und beschloss, vor dem Buchladen, der sich im Foyer des hohen Turms befand, auf die Freundin zu warten. Vertieft in die Auslagen, ließ sie die Zeit verstreichen, bis ihr einfiel, dass sie dem Vater ein Buch mitbringen sollte. Sie löste den Blick vom Schaufenster, doch bevor sie sich zur Tür wenden konnte um hineinzugehen, sah sie im Spiegel der Scheibe, wie etwas Großes, etwas Unheimliches vom Himmel stürzte. Sie fühlte den Luftzug und spürte gleich darauf den harten Aufschlag, der das Pflaster zum Beben brachte und sie herumriss. Das alles passierte in nur wenigen Sekunden, aber in ihrem Kopf würde es später immer und immer wieder ablaufen und sich so in eine gefühlte Unendlichkeit ausdehnen. Nie mehr sollte sie diesen Anblick vergessen.

Was wie ein riesiger vom Sturm gebeutelter Vogel vom Himmel herunter geschossen kam, der Mantel flatternd, die Haare grotesk nach oben gerissen, mit den Händen rudernd und einen schrillen Ton ausstoßend, war in Wirklichkeit Natalia. In einer grotesk verdrehten Körperhaltung blieb sie stumm, keine drei Meter entfernt von der Eingangstür zum Buchladen, mit dem Gesicht nach unten liegen. Nur der Regen tropfte unaufhörlich auf ihren Mantel und auf ihre Haare und vermischte sich mit der Blutlache, die sich zügig um ihren Kopf herum ausbreitete.

Wie auf Knopfdruck ließ Adina alles, was sie bei sich hatte, fallen und rannte zu der so schlimm zu gerichteten Freundin. Doch nach dem Puls suchte sie vergebens. Die Jungfrau hatte ihr Versprechen gehalten, und Natalia war bereits auf dem Weg in eine bessere Welt.

Endlich verstand Adina, was passiert war, und weil sich die Erkenntnis so rasant in ihrem Körper ausbreitete, biss sie sich heftig in die linke Hand, um nicht laut aufzuschreien. Sie musste hier weg, sofort, sie durfte keine Zeit mehr verlieren. Natalia war tot, sie konnte nichts mehr für sie tun, außer zu beten.

Weit zog Adina die Kapuze ins Gesicht und hoffte so, von oben, aus dem Stockwerk der Kanzlei, nicht erkannt zu werden. Als die ersten Schaulustigen näher kamen, verschwand Adina unauffällig im Foyer des Kinos, wo sie sich wenig später auf einer der Toiletten einschloss. Sie musste in Ruhe nachdenken. Denn mit dem Tod der Freundin waren auch ihre Pläne zunichtegemacht worden.


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