Kitabı oku: «Alte Anker rosten nicht», sayfa 2
2. Karten lügen nicht
»Du hast nicht zufällig ein schönes Parfüm dabei?«, rief Maike durch die halb offene Badezimmertür.
Ich zog einen Flakon aus meinem Reisenecessaire, reichte ihn ihr und sah mir unsere Bleibe an, die mich an meine Studentenbude erinnerte. Die war ähnlich klein, alles befand sich auf engstem Raum. Damals spielte das keine Rolle, denn ich besaß nicht viel. Wozu sollte ich jetzt mehr benötigen? Trotzdem war ich froh, gleich neben dem Bett meinen roten Koffer stehen zu sehen, den offenbar einer der jungen Polohemdmänner an Bord gebracht hatte.
Maike kam aus dem Bad, zog etwas aus dem gegenüberliegenden Kleiderschrank und verschwand wieder.
Anders als in meiner Studentenbude dominierte diese Kabine ein immenses Doppelbett in Himmelblau. Wir zwei Frauen würden es uns teilen müssen. Und wir waren beide nicht ganz schlank. Auf den Kopfkissen lagen zwei kleine Cellophantütchen, in ihnen je ein Plätzchen in Ankerform und eins in Form eines Fisches. Dazu ein Hinweis: »Herzlich willkommen an Bord der ›River Diamond‹. Solange wir in Köln sind, bieten wir Ihnen eine ganz besondere Spezialität unseres Chefkochs an: Bierplätzchen. Achtung, enthält Spuren von Alkohol.«
Ich sah mich um. Der ganze Raum war in blauen Farbnuancen gehalten. Auf dem Teppich sprang hier und da der Kugelfisch, das Logo der Reederei, umher. Mit ihm und dem vielen Blau im Raum kam man sich vor wie im Aquarium.
Maike betrat jetzt frisch duftend in einem karminroten Kaftan den Raum. Dazu schlang sie sich ein Tuch in gleicher Farbe wie eine Beduinenfrau um den Kopf. Um den Hals hängte sie sich eine Kette aus Federn, auf deren Innenseite etwas geschrieben stand. Man sah es nur, wenn sie sich bewegte. Lesen konnte ich es nicht.
»Komm, wir genießen das Essen«, lud sie mich ein, »das soll hier super lecker sein. Und es ist alles schon bezahlt.«
Schwankend erhob ich mich aus dem Sessel. Seegang? Nicht auf dem Rhein. Die Cocktails? Das Leben? Wahrscheinlich eine Mischung aus allem. Maike hakte mich unter und öffnete die Tür. Im Gang brausten Hugo und Bosse auf kleinen bunten Rollern vorbei, und ich hoffte, dass sie an die Stufen am Ende des Flurs dachten. Wir folgten ihnen weniger rasant entlang der cremeweißen Kabinentüren, vorbei an der Rezeption, in den Gang zum Restaurant. Dort reihten wir uns in die Schlange vor dem Eingang ein. Gleich hinter einer aufgebrachten Mittvierzigerin, die ihren Partner anfauchte:
»Wie oft habe ich dich gefragt, ob ich etwas mitnehmen muss, und du hast mich jedes Mal beruhigt, jetzt haben wir den Schlamassel.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte hinein.
»Britt-Marie, bitte!« Der Mann an ihrer Seite klang entnervt und rollte mit den Augen. Es ging um glutenfreie Kost. Man holte den Koch und der zählte auf, was er alles dafür an Bord hatte. Erst jetzt stellte sich heraus, dass ihr Partner diese Kostform brauchte, nicht sie.
Ganz vorne in der Schlange stand Enni Flichs. Wir folgten ihr in einen abgeschiedenen Restaurantbereich. Dort besetzte sie bereits einen Fenstertisch für vier Personen, gleich an der Glasfront mit Blick aufs Wasser. Wir setzten uns zu ihr. Auf den Stuhl neben sich hatte sie eine bunte Plastiktüte gelegt. Hinter ihr war Wand, sie überblickte den Rest des Raumes und schaute, als würde sie nach jemandem suchen, während sie ihr Glas erhob. »So, Kinder, lasst die Korken knallen. Seid ihr auf all inclusive?«
Keine Ahnung, worauf ich war. Ich wusste nur eines: Ich war auf Liebesentzug. Sie griff nach meiner Schlüsselkarte, winkte damit eine junge Kellnerin herbei und zeigte sie ihr. »Hübsches Fräulein, ist das hier all inclusive?«
Die nickte.
»Dann mal her mit der Runde Sekt für drei durstige Kehlen.« Sie zwinkerte mir zu. »Ist alles schon bezahlt in diesem Tarif. Du kannst hier an Bord trinken, bis der Ast bricht.«
Es näherte sich eine Gruppe von vier Frauen, etwa Anfang 40. Alle gepflegt, manche im Cashmere-Twinset, mit dezentem Make-up, schlichten Frisuren und unaufdringlichem Goldschmuck. Sie nippten an ihren Wassergläsern und wirkten auffallend unamüsiert. Bevor sie sich an einen Nachbartisch setzten, taxierten sie uns drei mit kurzen Seitenblicken. Als unser Sekt gebracht wurde, klatschte Enni vor Freude so laut in die Hände, dass die Twinset-Truppe ihre Hälse in unsere Richtung reckte.
Enni prostete ihnen zu. »Noch nie saufende Frauen gesehen?« Nach einem kurzen Moment der Schockstarre wandten die sich ab. Maike stieß mit ihr an: »Auf schöne Tage hier an Bord.«
»Und ein paar Mordsnächte«, fügte Enni hinzu. Beide lachten eine Spur zu laut, um noch angenehm zu klingen.
Links von uns brachte sich Frau Glutenfrei in Stellung. Auf den Tischen waren Ständer platziert, an denen das Besteck wie an einer Wäschespinne hing. So konnte man sich bei jedem Gang einfach das passende vom Haken nehmen. Teller standen am Buffet. Unsere neue Tischnachbarin aber deckte ihren Tisch ein, holte Teller, arrangierte dazu zwei Servietten, die in einem Halter neben den Besteckhaken steckten. Dann holte sie ein Tellerchen mit Obst und schnitt es in kleine Stücke. Ihr Gesicht wirkte merkwürdig angespannt, so als ließe es keine Mimik zu. Irgendwas schien wie festgezurrt an ihr. Sie holte Kaffee und schaute unruhig in Richtung Gang. Sicher rechnete sie jeden Augenblick mit der Erscheinung des Herrn. Dieser betrat endlich die Bühne, setzte sich zu ihr, würdigte sie aber kaum eines Blickes, sondern griff zur bereits gefüllten Kaffeetasse. Sie sah ihn an und fragte: »Suppe?« Er nickte, ohne aufzuschauen. Sofort stand sie auf und lief in Richtung Buffet.
»Die wird es auch noch lernen«, sagte Enni. »Männer kann man nicht halten, indem man sie betüttelt wie ein Kind. Das finden sie bequem, aber nicht sexy. Ganz gleich, wie viel Zucker man ihnen in den Hintern bläst. Wenn er weg ist, wacht sie auf«, fügte sie fachmännisch hinzu. »Jetzt bettelt sie noch um Liebe. Aber je mehr sie für ihn macht, desto mehr zieht er sich zurück, und je mehr er sich zurückzieht, desto mehr wird sie sich um ihn bemühen. Irgendwann geht er doch, und sie fragt sich, warum. Schließlich habe ich alles für ihn getan.«
Ich dachte daran, wie viel Tonnen Zucker ich Adi seit Jahren in den Allerwertesten geblasen hatte. Den Marsch hätte ich ihm blasen sollen. Wer weiß, was ihm gerade … Ich verbat mir weiterzudenken.
»Woher wissen Sie das alles?«, fragte ich sie.
»Kindchen, ich kenn mich aus mit den Kerlen. Ich hab schon einige durch. Aber wir sind per Du, merk dir das.«
Draußen regnete es, das Rheinufer wirkte düster und menschenleer. Wir fuhren am Zündorfer Hafen vorbei, »Rheinkilometer 677« stand auf einem großen Schild. Hier sahen die Bäume aus wie in die Höhe gezogene Kopfweiden.
Es duftete nach Essen. Jemand freute sich, dass er Himmel un Äd met Blootwoosch, jenes typisch Kölsche Gericht aus Kartoffelpüree, Apfelmus und Blutwurst auf dem Buffet entdeckt hatte. Noch waren wir ja auch so gut wie fast in Köln. Die Tische füllten sich. Dem unseren näherte sich eine akkurat gekleidete Dame. Ihr Gesicht glänzte. Vielleicht hatte man ihr als Kind zu viel Lebertran gegeben. Bedächtig ihr Umfeld beobachtend, mit einer Tasse Kaffee in der Hand, steuerte sie auf uns zu. Zuerst schaute sie auf den leeren Stuhl, dann zu Enni, die ihrem Blick auswich und den Kopf zur Seite drehte. Gerade so weit, dass sie die Fremde nicht ganz aus den Augen verlor. Die blieb stehen. Schließlich zog Enni die Augenbrauen zusammen, senkte den Kopf wie ein Stier vor dem Angriff und schaute von unten auf: »Is was?«
Die Dame streckte ihre Kaffeetasse vor, bereit, sie auf unserem Tisch abzustellen. »Ist hier noch frei?«
Enni beugte sich vor. »Nein.«
»Aber ich sehe niemanden auf diesem Platz.«
»Sie vielleicht nicht.«
Zögernd zog die Frau ihre Kaffeetasse wieder zurück. »Was meinen Sie damit?«
Enni verschränkte beide Arme vor der Brust. »Nicht jeder sieht alles, meine Liebe.«
»Hier liegt nur eine Tüte.«
»Fräulein Hochglanz, Sie müssen lernen, zwischen den Zeilen zu lesen.«
»Ich will nicht lesen, ich will sitzen.«
»Können Sie aber nicht, weil hier jemand sitzt. Merken Sie das nicht?«
Enni öffnete ihre verschränkten Arme und stützte ihre Hände auf dem Tisch ab. »Ach, meine Kleine, du musst noch viel lernen.«
Mir reichte es. Ich stand auf und bot der Dame meinen Platz an. Pikiert zog die jedoch ab. Zu Recht, wie ich fand.
Maike beugte sich über den Tisch. »Auf wen wartest du?«
»Auf den Mann meines Lebens.« Enni senkte ihre Stimme. »Eine 1A Kartenlegerin hat es mir geweissagt. Auf dieser Reise treffe ich mein Glück. Und ich glaube, da kommt es schon.«
Maike und ich drehten uns um und sahen einen Mann im dunklen Anzug, groß und elegant, braun gebrannt, seine Haare von der Sonne blond gebleicht. Als er uns drei sah, lächelte er und nickte uns andeutungsweise zu. Enni nahm unauffällig die Plastiktüte vom Stuhl und deutete an, dass dieser Platz noch frei sei. Kurz zögerte er, blickte sich noch einmal um, nahm dann aber Kurs auf unseren Tisch.
»Einen schönen guten Abend, die Damen.« Seine Stimme klang leise und sanft. Er setzte sich und faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch. Mir fiel auf, wie gepflegt sie waren. Als hätten sie in ihrem Leben noch nichts Unangenehmes berührt. Er trug einen goldenen Siegelring, an seinem Hemd Manschettenknöpfe, die aussahen wie kleine Bücher. Ich ging davon aus, dass er um sein gutes Aussehen wusste. Dennoch gab er sich bescheiden, fast zurückhaltend, fragte sogar, ob es uns recht sei, wenn er unsere Gesellschaft suche. Sollte er ahnen, dass mindestens eine von uns ihn bereits als den Mann ihres Lebens identifiziert hatte, so ließ er es sich nicht anmerken.
Er orderte Wein und stand auf, um sich etwas vom Buffet zu holen. Enni schob ihre Lesebrille, das Diadem der bürgerlichen Frau, in ihr Haar, um ihm nachzublicken. Sobald unser Salonlöwe außer Hörweite war, instruierte sie uns, so schnell wie möglich zu Ende zu essen und den Tisch zu verlassen, damit sie diesen schönen Mann für sich alleine hatte.
»Woher willst du wissen, dass er sich nicht vielleicht für mich interessiert?«, wollte Maike wissen. Aber Enni schien sich ihrer Sache sicher. Dieser Mann war ihr Schicksal, Kartenlegerinnen irrten nicht. Ich für meinen Teil hatte schon Schicksal genug und keinen Appetit. Am Dessertbuffet, auf dem unzählige Puddingschüsselchen und Kuchenstücke auf ihren Verzehr warteten, nahm ich mir einen Kaffee und ging in den Salon. Dort setzte ich mich wieder auf das Sofa mit Blick aus dem Fenster, um alleine zu sein. Von hier aus hatte man den besten Blick auf den Rhein, man saß in Fahrtrichtung, die Ufer glitten gemächlich rechts und links an einem vorbei. Regentropfen liefen über die schrägen Glasscheiben und versahen alles mit einem kleinen Schleier. Hier war es ruhig. Die meisten Gäste gingen zum Essen ins Restaurant hinter mir.
Es dauerte jedoch nicht lange, und unser Traumprinz setzte sich neben mich. Er roch nach teurem After Shave und orderte Espresso. Seine Hände, die er vor sich auf seinem Hosenbein ablegte, zeigten eine golden schimmernde Bräune und sahen jünger aus als er selbst. Ich schätzte ihn auf Mitte 50.
Er hielt mir einen kleinen Teller mit Gebäck hin. »Darf ich Ihnen ein Rheingestein anbieten? Eine Spezialität des Hauses, oder sollte ich besser sagen des Schiffes?«
Das Gebäck erinnerte entfernt an einen Stein und sah einem Stück Braunkohle ähnlich. Also eher einem Urgestein. Als ich hineinbiss, war es krachend knusprig, mit einer nussig-süßen Note. Es schmeckte wesentlich besser, als es aussah. Er reiste offensichtlich nicht das erste Mal über den Rhein auf diesem Schiff.
Wir aßen den Teller mit Rheingestein leer, sprachen über die gute Sicht von dieser Stelle und das schlechte Wetter dort draußen. Wie nass und gleichzeitig warm es für April schon war. Er trug einen dunkelblauen Anzug aus teurem Stoff, dazu ein weißes Hemd. Beides nun mit braunen Gebäckkrümeln bedeckt.
»Eigentlich hatte ich mich Ihretwegen an diesen Tisch gesetzt«, sagte er dann zu meiner Überraschung. Weil ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte, ging ich über seine Bemerkung und mein Erröten hinweg, versuchte, ein unverfänglicheres Gespräch in Gang zu bringen. Wie ihm die Reise bisher gefalle und ob er alleine reise, fragte ich, obwohl ich davon eigentlich ausging. Aber mir fiel auf die Schnelle nichts Besseres ein.
Er nickte mit dem Kopf. »Leider. Ich wäre lieber in guter Gesellschaft unterwegs. Aber was soll ich machen? Ich bin allein. So ungern wie unfreiwillig.« Seine Stimme klang nun tiefer. »Und Sie?«
»Ich? Auch.«
Er nickte und schenkte mir ein Lächeln, das sich gut anfühlte. Es wirkte sexy auf mich. Zu meiner Überraschung.
»Sind Sie in der Buchbranche?«, fragte ich.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Wegen der Manschettenknöpfe.«
Er griff nach einem der kleinen Bücher an seinem Ärmel.
»Ich schreibe. Darf ich mich vorstellen: Gunnar Behorn.« Er stand auf und reichte mir ganz offiziell die Hand.
»Sehr angenehm, Linda Weißenberg.«
»Was machen Sie beruflich, Linda?«
»Nichts. Rein gar nichts. Schrecklich, nicht wahr? Ich bin und kann … nichts.«
»Jeder ist etwas und kann etwas.«
»Ja, vielleicht, aber ich kann wirklich nichts.«
Behorn erklärte, wie schwierig es war, vom Dichten zu leben, dass er trotzdem daran festhalten musste, weil er sich das schuldig war. Schließlich hatte er sein Leben lang davon geträumt.
»Träume sind wichtig«, sagte er, »unser Wesen offenbart sich in dem, wovon wir träumen.« Er beugte sich zu mir herüber. »Wovon träumen Sie?«
Ich versuchte, seinem Blick standzuhalten, und schaute in das kühle Grau seiner Augen. Im Augenblick träumte ich davon, dass die letzten Tage nicht stattgefunden hatten, nur ein Albtraum waren, aus dem ich endlich erwachen durfte. So gesehen sehnte ich mich danach, dass jede Sekunde der Wecker klingelte.
Er strich mir sanft über den Arm. »Jeder träumt von etwas.«
»Vorige Woche träumte ich noch von einer Kreuzfahrt in die Karibik mit einem aufmerksamen, mal nicht arbeitenden Ehemann.«
»Und nun sind Sie auf dem Rhein gelandet, dem Nil des kleinen Mannes.«
Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
»Was immer Ihnen gerade zusetzt«, sagte er und rückte noch ein wenig näher, »ich wünschte, ich könnte Sie trösten. Es gibt immer einen Weg heraus. Selbst wenn man gerade keinen sieht.«
Er klang liebevoll, beruhigend geradezu. Sollte er allerdings noch näher rücken, saß er auf mir.
Den Gedanken, dass sich unser Wesen durch das ausdrückte, wovon wir träumten, fand ich interessant. Aber wer waren wir, wenn wir keine Träume hatten? Und hatte ich wirklich keine? Die Karibikkreuzfahrt war im Grunde unwichtig.
»Träumen Sie denn nicht auch von der Liebe?«, fragte er, lehnte sich zurück und seufzte. »Ich tue das unentwegt.«
»Man kann auch zu viel lieben«, warf ich ein.
»Ach was, man muss sich dieser Welt mit seiner Liebe vorbehaltlos entgegenwerfen.« Zart, fast vorsichtig, legte er seine Hand auf meine. »Sie inspirieren mich. Darf ich ein Gedicht über Sie schreiben?«
»Dazu brauchen Sie doch nicht meine Erlaubnis.«
»Ohne die würde ich es nicht tun.«
Er sah mich auf eine Weise an, die ich so noch nicht kannte. Etwas darin brannte, begehrte, machte mir Angst, machte mich an. Während ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, nahm er meine Hand hoch, küsste sie und flüsterte: »Ich möchte nichts tun, was Sie nicht wollen.«
Etwas bewegte sich in mir, als er das sagte. Und zwar unterhalb der Gürtellinie. Wärme schoss in meine Wangen. Und in meinen Schoß.
»Da sitzen sie«, hörte ich Maike sagen.
»Lassen Sie mich das übernehmen«, sagte Gunnar, stand auf und lief mit weit ausgebreiteten Armen auf Enni und Maike zu, die uns offensichtlich suchten. Er hakte beide unter, um sie in Richtung Bar zu führen. Dabei drehte er den Kopf zurück und zwinkerte mir zu.
Ich schaute durch die Glaskuppel hinaus in das verwaschene Blau des Himmels und fühlte mich wie in einer Waschmaschine, die mich mit meinen Gefühlen umherschleuderte. In meinem Kopf klingelte es wie am Freitagabend, meinem Geburtstag. Dem letzten mit einer Vier voran. Dort klingelte es auch. An meiner Haustür. Als ich sie öffnete, stand diese fremde, stark geschminkte Frau Anfang 50 vor mir, in einem kurzen, ananasgelben Mantel und mit schulterlangem schwarzem Haar. Sie streckte mir ihre rechte Hand entgegen, an der ein lila Plastikring steckte. In der linken hielt sie eine goldene Zigarettenspitze mit rotem Mundstück.
»Wie schön, dich endlich kennenzulernen«, sagte sie lächelnd, und ich hatte keine Ahnung, wer sie war.
»Dies hier ist Hausnummer 38«, erklärte ich, denn ich war sicher, sie hatte sich verirrt.
»Richtig«, meinte sie, »du musst Linda sein.«
Sie trat einen Schritt auf mich zu. Ich wich zwei zurück.
3. Untergehende Fische
»Schon eingelebt?« Mit lautem Seufzen setzte sich Kapitän Krappmann neben mich. Er roch nach Minze und Tabak. Seine Stimme klang, als würde sie ganz tief aus dem Bauch kommen und durch seinen ganzen Körper strömen. Wie ein Brummen. Er war ein Mann der kurzen Sätze. Für jeden schien er tief Luft zu holen und sie dann mit dem Satz zusammen auszustoßen. Endete der Atem, endete der Satz.
»Man schreibt bereits Gedichte über mich«, berichtete ich.
»Oh.« Er legte seinen Kopf ein wenig schief und sah mich streng von der Seite an. Dann gab er der Crew an der Bar, die etwa 20 Meter hinter uns stand, ein Zeichen. Dort reagierte man sofort. Es dauerte nicht lange, und eine junge Frau kam mit einem Tablett auf uns zu. Darauf zwei Kaffees und für mich ein orangefarbener Drink. Er prostete mir mit seiner Tasse zu.
Der letzte Strohhalm, an den ich mich gerade klammerte, steckte also in einem Cocktail. Der schmeckte bitter und süß zugleich.
»Die Sache mit dem Gedicht missfällt Ihnen?«, fragte ich.
»Kommt darauf an, wer es schreibt.«
Ich schaute auf seine Hand, die seine Tasse hielt. Sie war groß und kräftig, so wie er selbst, und längst nicht so gepflegt wie die von Behorn. Johannes Krappmann war ein rustikaler, handfester Mann. Hinter uns hörte ich Gäste, die vom Essen kamen. Sie verteilten sich in die Sessel und begannen Unterhaltungen. Eine Durchsage lud alle Passagiere in den Salon zu einer Sicherheitsübung ein. Krappmann klopfte mir sanft auf den Oberschenkel, er müsse wieder. Schon stand er auf, um zu gehen, was ich schade fand, denn seine Gegenwart beruhigte mich. Ich war so frei, ihm unverhohlen auf den Po zu schauen, als ich ihm nachsah. Etwas, was ich vor Jahrmillionen, kurz nach Erkalten der Erdmasse, das letzte Mal getan hatte. Bei Adi.
Ich blieb auf meinem Sofa, harrte der Dinge, die da sicherheitstechnisch auf mich zukommen sollten, und stopfte mir eins der Kissen unter den Kopf, während sich der Salon hinter mir langsam füllte. Die hellen Holzrahmen der Fenster und das frische Blau der Möbel gaben der Lounge etwas Freundliches, auch wenn das Wetter draußen grau wirkte. Eine kleine Gruppe schob sich zwei Meter von mir entfernt ein paar Sessel zurecht. Einer von ihnen, ein Herr im dunkelgrauen Pullunder, war mir schon in der Mittagessensschlange aufgefallen. Er hörte nicht auf, sich zu beklagen, und sprach wie in einer Dauerschleife mit jedem, der sich in Hörweite befand. Allerdings trat nun ein anderer Mann hinzu, der so laut redete, dass er nicht nur den Dauerredner zum Verstummen brachte, sondern den halben Salon unterhielt. Er wolle nichts Negatives mehr hören, damit solle der Herr Dauerredner jetzt mal aufhören, es wäre Urlaub, und dieses schwimmende Luxuszuhause sei super. Der Lautredner trug eine Goldkette mit riesigen Gliedern um den Hals, in seinem Haar steckte eine bunt verspiegelte Sonnenbrille, und seine kräftigen Oberschenkel schienen seine zerlöcherten Jeans fast zu sprengen. Auf seinem schwarzen T-Shirt stand in goldenen Lettern »SAUNABOY«. Darunter ein paar Tropfen, ebenfalls in Gold, die offenbar Schweiß symbolisierten. Wo er sich positionierte, unterhielt man sich entweder mit ihm oder gar nicht. An seiner Hand zappelte eine zierliche Endzwanzigerin mit blondem Pferdeschwanz, die nicht viel sagte, dafür aber nach jedem seiner Sätze lachte. Auch sie trug eine bunt verspiegelte Sonnenbrille im Haar. Man fragte sich, wo die beiden bei dieser Wetterlage Sonne erwarteten, aber vielleicht wussten sie da mehr als ich. Er gehörte zu dem Typ Mann, der sich offensichtlich nicht unterhalten wollte. Der wollte einem nur etwas sagen. Wäre ich nicht so erledigt und vielleicht auch angetrunken gewesen, hätte ich schnell das Weite gesucht, zumindest so weit, dass ich ihm nicht mehr hätte zuhören müssen. Ich schloss die Augen.
Irgendwann spürte ich meinen Rücken. Mühsam richtete ich mich auf. Ein junger Steward räumte Schwimmwesten weg, die Passagiere drängelten sich an der Bar. Ich musste eingeschlafen sein und wusste nun nichts darüber, wie ich zu retten war. Mist, gerade dieses Wissen hätte ich so gut gebrauchen können. Herr Behorn näherte sich mit ausgebreiteten Armen und einem strahlenden Lächeln. Seine Bräune erinnerte an sonnigere Zeiten.
»Da sind Sie ja noch, wie schön.«
Er stellte sich vor mich hin, schaute mir einen Moment lang schweigend in die Augen und lud mich dann zu einem Champagner ein. Während er zur Bar lief, um den zu holen, kam Maike zu mir aufs Sofa. Sie schwärmte von den tollen Drinks an der Bar und von Herrn Behorn.
»Das ist ein richtig netter Mann. So gepflegt. Ich glaube, der ist sehr belesen.«
Er selbst kam nicht zurück. Aber Enni mit einer lila Nylontasche. Aus der zog sie ihre Plastikdose hervor, um uns etwas aus ihrem Fundus von Selbstgebackenem anzubieten. Etwas umständlich schob sie sich einen Sessel, der schwerer war, als er aussah, zu unserem Sofa. »Nachtisch, Mädels. Der ist besser als das Zeug vom Buffet. Und das ist schon nicht schlecht.«
Um nicht unhöflich zu sein, aber auch, weil ich inzwischen Hunger hatte, nahm ich ein paar Plätzchen. Zu dritt knabberten wir ihr Gebäck und schauten unseren Mitreisenden beim Leben zu, wie sie sich mit Getränken versorgten, lachten, miteinander plauderten und trotz der grauen Nieselsoße draußen aus den großen Fenstern fotografierten.
Enni schleckte eines ihrer Schokoplätzchen ab. »Der Behorn, Mädels, der isses. Wie der mich ansieht, da wird mir alles feucht. So was wie den an meiner Seite traut mir niemand zu. Aber ich sage euch«, wieder streckte sie ihre Zunge heraus, um genüsslich an ihrem Plätzchen zu lecken, »den habe ich verdient nach all den Pleiten.«
Rein äußerlich konnten die beiden kaum unterschiedlicher wirken. Behorn sah mit seiner Eleganz aus, als wäre er einer Vorabendserie entsprungen. Enni wirkte dagegen ungepflegt und wenig stilvoll. Obwohl mein letzter Drink eine Weile her war, fühlte ich mich angeheitert. Ich erhob einen Finger in Richtung Bar, und tatsächlich reagierte man darauf. Ohne dass ich mit jemandem sprach, brachte man mir einen Cocktail in Türkis. Dabei wollte ich nur Wasser. Die Alkoholversorgung lief hier wie am Schnürchen. Als Nächstes verlegte man sicher bald eine Pipeline direkt in meinen Mund. Ich wünschte Enni viel Glück mit Herrn Behorn. Es war immer schön, wenn sich jemand verliebte. Ich hatte erst mal ausgeliebt. Mein Drink schmeckte nach Curacao. Dort wollte ich immer schon einmal hin.
»Auf nach Curacao!«, hörte ich mich rufen und griff erneut in Ennis rote Dose. Ich fing an, mich an ihre etwas herb schmeckenden Plätzchen zu gewöhnen.
»Nicht so hastig, nimm vielleicht nicht so viele auf einmal.« Sie klang ermahnend wie eine Mutter, die verhindern wollte, dass man sich den Magen verdarb.
Krappmann kam, und ich wollte aufstehen, um diesen aparten Mann, der die Geschicke unseres Schiffes lenkte, zu begrüßen. »Hallo, Herr Krappitän«, sagte ich, als mich unerwartet ein blauer Fisch ansprang. Nein, ich fiel ihm entgegen. Es roch plötzlich ein wenig nach Turnhalle. Ich lag auf dem Boden, Auge in Auge mit den Fischen auf dem Teppichmuster. Dieser Geruch mischte sich mit Pfefferminze und Tabak, als Krappmann sich zu mir herunter beugte. Vorsichtig versuchte er mich aufzurichten. Er rief nach einem Wasser.
Ich schlang meine Arme um seinen Hals und zog seinen Kopf nah an mich heran. »Ich weiß leider nicht, wie man mich rettet. Habe die Einweisung verschlafen. Ist das nicht verboten?«
»Oh ja, das ist strengstens untersagt, aber vielleicht pausieren wir mal kurz mit den Cocktails.«
»Warum?«
»Duschen Sie kalt.«
»Mit Ihnen?«
Hatte ich das wirklich gesagt? Das sah mir gar nicht ähnlich. Ich versuchte aufzustehen. Beim Versuch zu gehen flog mir jedoch einer dieser schlecht riechenden Fische wieder entgegen. Schwammen die hier überall herum? Sanken wir? Ach, was machte das schon. Dann ging ich eben unter. Adieu, Adi. Ich tauche ab. Krappmann half mir wieder hoch.
»Ich zeige Ihnen jetzt mal, wo die Dusche ist«, sagte er.
»Oh ja! Zeigen Sie mir, wo der Frosch die Locken hat.«
Der Mann trug mich. Gab’s hier eine Türschwelle? Nein, nein, falscher Film. Bei jedem Schritt wippte die Welt. Hatte Adi mich seinerzeit eigentlich über eine Schwelle getragen? Ich erinnerte mich nicht mehr, aber ich war da schon sehr schwanger und wahrscheinlich viel zu schwer. Krappi machte seine Sache gar nicht schlecht. Heidewitzka, Herr Krappitän. Eine Welle, nein, eine Treppe. Der Mann war stark, ich wog jetzt auch ohne Kind im Bauch so viel wie damals. Vor allem mein Kopf war sehr schwer geworden, der wog bestimmt zehn Kilo mehr als noch heute Morgen.
»Fliegen wir nach Curacao?«, fragte ich.
»Aber ja.«
»Jetzt?«
»Gleich morgen früh.«
»Dann muss ich packen.«
»Nach dem Duschen.«
»Ist gut.« Er trug mich durch das Flussbett, den Kabinengang entlang. »Ach Krappi, haust du Adi eine runter?«
»Mach ich.«
»Wann?«
»Gleich morgen früh.«
»Gut.«
Er ließ mich herunter, meine Knie knickten ein. Maike tauchte auf, öffnete die Tür. Die beiden legten mich auf mein Bett. Da würde ich liegen bleiben bis ans Ende meiner Tage und konnte die Fische essen, die hier überall herumsprangen. Ich müsste nicht mal aufstehen dafür. Sollte sich die Welt ruhig ohne mich weiterdrehen. Es wurde leise.
Ich hörte Wasser rauschen und rief nach Adi, bevor mir dämmerte, wo ich mich befand.
Barfuß und mit tropfenden Haaren tapste Maike, in ein Handtuch gewickelt, aus dem Bad ins Zimmer.
»Ich bin’s nur. Hast du gut geschlafen?«
»Meine Zunge wiegt ’ne Tonne.«
»Am besten kombinierst du nicht so viel Alkohol mit Ennis Plätzchen.«
Maike machte sich fertig für den Volkssport hier an Bord: essen. In diesem Fall Abendessen.
Krappmann wollte, dass ich kalt dusche. Hatte ich? Hatten wir zusammen? Ich sah an mir herunter und war nicht nur bekleidet, sondern auch trocken. Wohl nicht. Oder ich war komplett vertrocknet. Meinen Kopf anzuheben fiel schwerer als gedacht. Auch die Beine spielten nicht so richtig mit. Die paar Meter bis zum Badezimmer erschienen mir recht weit. Einmal links um die Ecke, die freundlicherweise angeschrägt war, so kam man besser um sie herum. Dies war eigentlich der Ort der kurzen Wege. Liegend zog ich mich aus. Maike half mir auf und führte mich vorsichtig ins Bad, während ich mich an der abgeschrägten Ecke entlang abstützte. Wie konnte man nur so schnell altern? Ich fühlte mich wie hundert und ließ das Wasser in der Dusche auf mich herunterregnen. Ich schlief sonst nie am Tage. Saufen bekam mir nicht. Es half auch nicht. Maike brachte mir einen der weißen Bordbademäntel. Ein wenig erschöpft nach diesem Ausflug ins Bad setzte ich mich zu ihr aufs Bett. Sie sah mich an.
»Willst du mir nicht sagen, was wirklich los ist? Ich hatte Adi ein Dutzend Mal auf meiner Mailbox. Der schien ganz durcheinander und will dringend, dass du ihn zurückrufst.«
Mit noch immer schwerer Zunge wollte ich jenes Fiasko vor ihr ausbreiten, das meine Welt seit einer Woche aus den Fugen riss. Ich begann mit der Frau im ananasgelben Mantel vor meiner Haustür, als es an unserer Kabinentür Sturm klopfte.
Maike öffnete, und Enni, unsere liebestolle Nachbarin, brauste herein. Sie war sichtlich erregt, hatte doch der schöne Herr Behorn angekündigt, an unserem Tisch hinter der Dessertabteilung auf uns zu warten, damit wir zusammen zu Abend aßen. Maike ließ sich von Ennis Freude darüber anstecken. Man war gleich der Meinung, sich beeilen zu müssen, damit sich keine anderen Frauen zu ihm setzten, das ging gar nicht. Enni wollte nur noch kurz Make-up und Haare machen und in zehn Minuten zum Tisch eilen. Maike, nun ebenfalls ganz aufgekratzt, schloss die Tür hinter ihr und verfiel in Hektik. Dass ich nun meine Geschichte nicht erzählen musste, war mir recht. Sie zog mich zu sehr runter.
»Linda, hilf mir, ein schönes Tuch für meinen Turban auszusuchen, du hast doch Sinn für Farben.«
»Dieser Sinn sagt mir, du solltest es mal mit deinen eigenen Haaren versuchen.«
»Die taugen nicht zu einer Frisur.«
Ich deutete auf ein graues Tuch. Das schien mir am unauffälligsten. Zum ersten Mal in meinem Leben war es mir egal, wie ich aussah. Wieder drängte sich mir das Bild von der Frau in Gelb auf, wie bei einer Schallplatte, die festhing und ständig dieselbe Stelle abspielte. Maike aber ließ nicht locker und zog eine weiße Bluse mit schwarzer Hose samt grünem Seidenschal, den Flori mir Freitag zum Geburtstag geschenkt hatte, aus meinem Koffer. Beides legte sie aufs Bett, und ich zog mich schließlich an. Den Schal zu tragen fiel mir schwer. Ich hängte ihn an die Garderobe, die sich gleich rechts von der Kabinentür befand.
Seit einer Afrikareise im vorigen Jahr trug Maike diese Kaftane. Bodenlange Hängekleider, die sie verhüllten und in unseren Breitengraden etwas sonderbar wirkten. Sicher waren sie bequem. Schön fand ich sie nicht. Dazu trug sie Turbane, die sie aus Tüchern wickelte. Ich fand, man hatte das Recht, im Alter ein wenig sonderbar zu werden und sich auch so zu kleiden. Sie war jetzt Mitte 50. Der Gedanke, mir könnte es ähnlich ergehen, ließ mich schaudern. Sonderbar. Wie das schon klang. Das kam kurz vor aussortiert.