Kitabı oku: «Exit», sayfa 2

Yazı tipi:

Susann

Eben noch den Kaffee zum Wachbleiben, jetzt ein Flens: Sie machen es wie früher, ein Flens vorab, danach nur noch Cola und Wasser. Ab halb vier vielleicht mal einen Kurzen. Oder zwei. Oder drei. Ihre Flaschen klacken aneinander, sie schweigen für einen Augenblick, hängen ihren Gedanken nach. Susann blickt aus den Fenstern nach draußen, Steffi lässt den Blick über die alten Bilder an den Wänden gleiten, Elli dreht lächelnd ihre Flasche in der Hand. Aus den Boxen dröhnt Spacelord von Monster Magnet.

Es ist Steffi, die beginnt. „Wisst ihr noch, der Typ, den der Dirk mal hier angeschleppt hat, als ich noch gar nicht bedient habe? Dieser Schweizer?“

„Was war denn mit dem noch mal? War der nicht nur zu Besuch oder so?“

„Dachte ich auch“, antwortet Steffi und wippt wie immer automatisch im Takt mit. „Da sacht der Dirk: Guck mal, das ist der Schweizer. Der Typ stellt sich neben mich, kaum größer als ich, so die Kategorie Danny De Vito. Und ich, höflich wie immer …“

„Höflich? Du?“ Susann und Elli funkeln sich spöttisch grinsend an.

„Ruhe …“

Mother-Mother!“, rufen die beiden plötzlich wie aus einem Mund, und Steffi wird langsam ungeduldig.

„Also: Wollt ihr das jetzt hören oder lieber singen? Und außerdem heißt es Fucker.“

„Quatsch, Fucker kommt erst am Ende. Zuerst heißt es Mother“, protestiert Elli und klopft im Takt des Songs auf ihrer schwarzen Lederhose herum. „Nee nee“, sagt sie dann übertrieben großzügig, „fahr mal schön fort.“

„Ja, danke“, beginnt Steffi. „Ja, ich dreh mich also zu dem um und frag ihn: Heißt du denn jetzt mit Nachnamen so oder kommst du nur aus der Schweiz? Der hört erst mal gar nicht zu, sondern starrt plötzlich wie besessen auf mein Bauchnabelpiercing, so als hätte der so was noch nie gesehen und wolle er das gleich rausziehen oder so. Ist mir ja direkt mal total suspekt. Er fragt also Häh?, ist ja auch laut im Laden, wie immer. Und ich frag ihn wieder, ob er denn aus der Schweiz komme. Da wird er ganz blass und ganz klein und meint nur: Nee, die nennen mich nur alle so, weil ich immer ein bisschen rieche wie ein Schweizer Käse.“

Elli prustet das halbe Bier über den Tresen, Susann grölt so laut los, dass es sie wieder in den Magen sticht, aber sie lacht es einfach weg. Und macht gleich weiter. „Ich hatte mal einen, der war auch immer da, Michael oder so. Oder Martin? Der war jedenfalls ganz früher auch immer da, dann mal weniger, aber egal. Der kommt irgendwann an ’nem Donnerstag um halb drei an die Bar, als schon kaum einer mehr im Laden ist, und meint nur: Du, ich muss jetzt leider gehen, aber ich wollte dich fragen, ob ich dich nächsten Donnerstag vielleicht mal kennen lernen darf?“

Elli prustet wieder los. „Susann, hör auf! Jetzt läuft mir die Suppe schon durch die Nase!“

„Was trinkst du auch, wenn ich zur Pointe komme?“

„Ist er wenigstens wiedergekommen?“

„Ja, aber sonst ist dann keiner mehr gekommen von uns, falls du das meinst.“

Sie hat ihn sogar noch vor Augen, wie er damals vor ihr stand, dieser Michael oder Martin, es standen danach noch so viele vor ihr. Mit manchen ging sie mit, krallte sich die kleinen Abenteuer, wenn ihr danach war. Wenn die Lampen angingen und die Relikte einer Rocknacht in alle Ecken des Exit gekrochen waren. Wenn sich Kippen in den Aschenbechern stapelten, bis sie über den Rand fielen, wenn Vergessene im Halbkoma mit vereinten Kräften von der Couch gehievt werden mussten, wenn das Schwarz der Wände nicht mehr schwarz, sondern seltsam dunkelgrau schimmerte im grellen Neonröhrenlicht. Sie liebte diese Zeit nach der Zeit, wenn alles egal war, wenn Ebenen verschwammen und sie absolut keine Ahnung hatte, wie der nächste Tag aussehen würde. Auch mit Fred hatte sie später viele solcher Nächte verbracht. Sie hatten sich in diese Nächte hineingestürzt, wie in einen tiefen dunklen Ozean, aus dem sie nie wieder auftauchen wollten. Schwerelos. Vielleicht war es die schönste Zeit überhaupt gewesen, das mit ihm. Es war ein 13. Juli, an dem sie plötzlich auftauchen musste. Um unterzugehen.

„Susann? Alles klar? Hallo!“

Sie zuckt zusammen, schüttelt sich kurz, schaut die beiden an. „Ich … ja … ich war nur gerade irgendwie …“

„Mal wieder ein bisschen weg, was? Vielleicht bei dem Typen, mit dem dann so gar nichts lief, oder wie?“, grinst Steffi, „also so ganz unwichtig scheint der ja dann wohl doch nicht gewesen zu sein, oder?“

Sie erwidert Steffis Grinsen mit Mühe, schüttelt auf eine Weise den Kopf, wie man es immer macht, wenn man einen unbequemen Moment zu überspielen versucht, und sagt plötzlich, mit klarer, fester Stimme: „Nein, Steffi. Es ging um jemand ganz anderen.“

Sie zieht damit eine Schneise des Schweigens, in dieser Sekunde macht der Lautsprecher dasselbe, spuckt dann die ersten Töne von L´Ame Immortelles Bitterkeit aus, und jetzt überlegt Susann, ob das vielleicht der Moment für sie ist zu gehen. Elli und Steffi tauschen hilflose Blicke, doch dann greift Elli sich ihr Flens, leert es in einem Zug, knallt es auf den Tresen und fragt: „Sagt mal, kennt ihr eigentlich noch den Foxy?“

Steffi nimmt es dankbar auf. „War doch dein Terrier, oder? Kreativer Name übrigens: Foxy für ’n Fox-Terrier.“

„Wart’s ab. Jedenfalls, mit dem hat mich mal einer beim Gassigehen gesehen. So ’n großer Schmaler, der war auch oft freitags mal da. Schaut mich an, von wegen, die kenn ich doch und so, ich also zurückgeschaut, genickt, er dann weiter.“

„Und?“

Und? Das fragt sich auch Susann, die den Versuch der beiden, das hier irgendwie am Laufen zu halten, so liebenswert findet, dass sie ihnen um den Hals fallen möchte. Und sie beschließt, dass sie bleibt, dass sie hierher gehört, zu diesen beiden und zu denen, die da drin jetzt noch schrauben oder aufräumen oder Musik sortieren oder was auch immer sie noch machen müssen, um diese Nummer hier heute Nacht durchzuziehen.

„Ihr seid echt so geil“, ruft sie plötzlich. Steffi antwortet sofort mit einem Lächeln und nimmt Susanns Hand in ihre, und Susann begreift, dass diese Hand jetzt das Beste ist, was ihr passieren konnte. Steffi dreht sich wieder zu Elli: „So, jetzt also: du und der Terrier.“

„Ja, sag ich doch, aber vor lauter Händchenhalten kommt ja hier keiner mehr auf den Punkt.“

„Jetzt erzähl.“

„Also“, fährt Elli fort, „der Typ trifft mich also beim Gassigehen.“

„Da warst du schon“, erinnert sie Steffi.

„Ja ja, jedenfalls, dann also derselbe Abend, ja? Merken: derselbe Abend. Und ich mach gerade Thekenpause. Und Vossi spielt irgendwas richtig Geiles, ich glaub, es war Toxity von System of a Down.“

„Sehr geil.“

„Und ich also auf die Fläche, da hatte ich grade das Riesen-Armtattoo ganz neu.“

„Das Ding, das jetzt überall ist“, hakt Susann noch kurz ein.

„Du sagst es. Ich gehe also richtig ab, und wer steht da plötzlich vor mir? Der Typ vom Gassigehen.“

„Und? Was macht der?“

„Was der macht? Der drückt mir ’ne Packung Frolic in die Hand. Mitten auf der Tanzfläche.“

„Hat der nicht gemacht.“

„Hat der gemacht!“

Wieder bricht das Lachen aus ihnen heraus, bei Susann sticht es zugleich in ihren Magen, sie schiebt den Schmerz wieder weg. Aber nicht weit genug.

Steffi schaut gedankenverloren an die Decke, mit einem ungeduldigen Geschichten-Sucher-Blick, und sie wird fündig: „Also, ich weiß noch, mich hat mal einer unter die Müngstener Brücke zum Kiffen eingeladen, in einer Vollmondnacht. Das fand ich echt romantisch.“

„Ach, Steffi …“

„Echt. Und ich bin mitgegangen. Natürlich nicht nur zum Kiffen.“

„Nee, natürlich nicht … Susann, alles klar bei dir? Susann? Susann!“

Aber bei Susann ist gar nichts klar. Sie entreißt Steffi ihre Hand, ganz unbewusst, presst sie gegen ihren Bauch, sie krümmt sich vor Schmerzen, denn die haben gerade wieder einfach so zugestochen, aber diesmal mit einem Riesenstachel, der durch ihr Innerstes durchgeht, und sie spürt, wie ihr alles hochkommt, sie versucht zu rennen, aber sie schafft nur drei Schritte und übergibt sich mitten ins Bistro, als Wolfgang durch die Türe kommt.

Sam und Klaus

Klaus steht irgendwo in Wuppertal-Vohwinkel am Ufer der Wupper, zieht sein Stirntuch nach und schiebt die abgewetzte schwarze Lederjacke mit den langen Fransen zurecht, die er sich mal irgendwann in Amiland besorgt hat. Das Ding ist älter als das Exit, und es hat auch mal deutlich besser gepasst. Er zieht sie vorne zusammen, zwingt einen Knopf ins Knopfloch, spannt den Bauch, der Knopf bricht aus. Eine Katastrophe.

„Verdammt, ich werde alt.“

„Du bist alt, Klaus. Was ist, passt die Jacke nicht mehr?“

„Sei ruhig und pump.“

„Musst mehr Bierchen trinken.“

„Du sollst pumpen!“

„Mach ich. Aber nicht mehr lange.“

Ein paar Meter weiter hat Sam aus einem überdimensionalen Gummilappen mit viel fester Treterei ein putziges, orangefarbenes Schlauchboot gemacht. Er tritt die Pumpe noch ein paar Mal kräftig durch, aus seinen grauen Schläfen rinnt der Schweiß bis zum Kinn, dort verfangen sich die Tropfen in einem langen, grauen Bart, der ihm bis auf die Brust reicht und immer länger wird, je mehr sich sein Chef darüber aufregt. Er prüft den Luftdruck, schließt das Ventil, pustet tief durch, streicht seine Mähne nach hinten, bindet einen neuen Zopf, zündet sich eine Kippe an, röchelt nach ein paar Zügen wie ein sterbender Büffel und ist nicht zufrieden. Skeptisch betrachtet er das Boot. „Also ich weiß nicht, Klaus. Das sieht so klein aus, das Teil.“

Klaus stutzt. „Stimmt. Was steht denn drauf, wie viele Leute da reinpassen?“, fragt er.

„Die Anleitung liegt bei deinen Sachen.“ Seine Sachen, dazu gehören auch eine Kiste Bier, sein alter Ghettoblaster und Schwimmwesten. Sie haben die Wagen oben an der Straße geparkt, alles den Hang runtergeschleppt, sie sind vorbereitet. Eigentlich. Klaus findet die Anleitung unter dem Bierkasten. „Hab sie“, ruft er, „hier steht: für vier Leute.“

Sam tritt neben ihn. „Zeig mal her … och, nee, oder? Nee …“

„Was denn? Sind doch vier Striche drauf.“

„Ja, du Idiot. Zwei große und zwei kleine. Das is ’n Familienboot. Mama, Papa und zwei Kinder. Schön mit Schwimmflügeln. Und da sollen jetzt wir beide rein, dazu deine Wampe, und Guido und Silke. Geil, Klaus, echt. Vielleicht setzt du beim nächsten Mal einfach deine Brille auf, wenn du so ein Ding kaufst.“

„Ich kauf garantiert nie wieder so ein Ding. Außerdem bist du doch da in dem Schwimmverein.“

„DLRG.“

„Ist auch egal. Wann kommen die denn eigentlich?“

„Müssten gleich da sein.“

„Und die wissen von gar nix?“

„Nee, die wissen nur, dass sie um acht hier sein sollen“, antwortet Sam, „mach doch schon mal ein bisschen Mucke an.“

Klaus schaut sich um und grinst. Sie werden also über die Wupper schippern. Zu viert in einem kleinen Bötchen.

„Auf so was kannst auch nur du kommen, Sam. Ist die wenigstens nett?“

„Das wird super, glaub ma. Und Silke wird dir gefallen, die ist absolute Klasse. Ehrlich, wenn zwei zusammenpassen, dann die und Guido.“

„Und heute sind das zwanzig Jahre?“

„Auf den Tag genau. Was suchst du denn jetzt wieder?“

Klaus hat sich hingekniet und nimmt die Schwimmwesten hoch. Schaut auf dem Boden herum, sucht, findet nichts. „Sam, wir haben nur drei Westen.“

„Was? Das ist nicht dein Ernst, oder?“

„Doch, hier. Oder siehst du noch eine? Also, ich nicht.“

„Scheiße.“

„Ja, Scheiße, Sam. Vielleicht setzt du beim nächsten Mal einfach deine Brille auf, wenn du wieder dein DLRG-Häuschen leerräumst.“

„Ja, ist gut, Klaus, ja? Ist gut. Unentschieden. Dann dürfen halt maximal drei von Bord gehen. Der Vierte säuft dann eben ab.“

„Solange du es bist und nicht Guido und seine Silke, ist es ja gut. Und ich schwimm ja eh oben. Mit meiner Wampe …“

„Weißt du was, Klaus? Vergiss die Westen. Lass die liegen, die braucht keine Sau. Ich setz mich doch nicht wie so ’ne Leuchtboje da rein.“

Susann

Es dauert eine halbe Stunde, bis sie sich wieder gesammelt hat und die Schmerzattacke weg ist. Sie haben sie im Bistro auf die Couch gesetzt. Wolfgang kniet vor ihr, Steffi und Elli sitzen neben ihr auf den Lehnen, halten ihre Hände, streicheln sie, sind einfach da und irgendwie doch ziemlich weit weg.

„So kann ich dich nicht arbeiten lassen. Das geht nicht. Letzte Nacht hin oder her.“

„Wolfgang, bitte. Ich hab mein Zeug dabei, ich nehme gleich zwei Tabletten, das sind echte Killer, aber die bringen mich schon durch. Es ist die letzte Nacht, und das ist meine Bar da vorne.“

„Ich kann das nicht verantworten.“

Sie schaut sie alle nacheinander an, sieht die Sorge in ihren Gesichtern. Wolfgang zieht die Stirn in tiefe Falten, Elli streichelt sanft ihre Hand, Steffi zieht nervös an einer Kippe und weiß nicht, wohin mit sich. Sie wissen, dass sie krank ist, aber nicht, wie krank sie ist. Sie haben keine Ahnung von dem, was die Ärzte ihr schon vor Monaten gesagt haben und auf welche Weise. Sie haben nicht da gesessen, allein, in irgendeinem Behandlungszimmer vor irgendeinem Typ, kaum älter als sie selbst, irgendwie Anfang dreißig. Sie waren nicht dabei, als er den Satz sagte, der sogleich etwas in ihr abtötete, jenen Satz, der mit „Tja, Frau Wilhelmi …“ begann, und als er diesen Satz, diesen endlosen Satz, schließlich mit irgendwas beendete, das so klang wie „… aber es gibt Möglichkeiten, zumindest die Schmerzen einigermaßen im Rahmen zu halten“, da hörte sie schon gar nicht mehr zu. Da liefen ihr längst die Tränen runter, aber die interessierten den Doktor nicht die Bohne, der sah jeden Tag Tränen, und je mehr er davon sah, desto mehr trocknete er selber aus.

Sie sitzen da, Wolfgang und Steffi und Elli, und sie haben keinen Plan, warum sie wirklich Schluss gemacht hat mit Fred, der sie aufrichtig liebte, aber sie wollte ihm das nicht zumuten, sie wollte ihm das ersparen, was mit ihr geschehen würde. Geschehen ist. Die Schmerzen, die Schwäche und das Kotzen. Vor allem das Kotzen.

Sie zog wieder zu ihrer Mutter, die alles aufgab für ihr einziges Kind. Ihre Mutter, diese wunderbare, starke Frau, die als Einzige Bescheid weiß. Über alles.

„Wolfgang, lass sie es versuchen.“ Es ist Vossis ruhige Stimme, als er plötzlich in der Tür steht. Susann springt auf, geht auf ihn zu, sie umarmen sich. Er lässt von ihr ab und schaut ihr in die Augen: „Du siehst jetzt nicht so superfit aus, aber du machst das schon.“

„Hab dich auch lieb, danke.“

Wolfgang wirft ihm einen ernsten Blick zu, Vossi nickt nur leicht zurück. „Also schön. Aber ich übernehme …“

Doch sie lässt ihn nicht weiter: „Alles gut, Wolfgang. Ich schaff das, fertig aus, ja?“

Sam und Klaus

Sam öffnet zwei Flaschen. Sie stoßen an, setzen sich auf die Kieselsteine und schauen der Wupper nach. Im Refrain von Paranoid springt Sam auf. „Ich geh mal in ’n Busch.“

„Verbrenn dir nicht den Sack. Da sind Brennnesseln.“

Während Sam verschwindet, nimmt Klaus einen tiefen Schluck und schaut der Wupper beim Fließen zu.

„Eigentlich war Riverside ja auch ein guter Name für den Laden, oder?“, sinniert Klaus vor sich hin.

„Wenn nicht sogar der bessere!“, ruft Sam aus dem Gebüsch.

„Warst du eigentlich auch mal in dem Puff oben drüber? Als es den noch gab?“

„Klar, du nicht?“

„Was? Du warst da drin? Im Ernst?

„Ja. Klar. Du also nicht?“

„Doch, doch“, murmelt Klaus.

„Bitte?“

„Doch, do-hoch!“

„Ach so. Und mir traust du’s nicht zu, oder was? Der Sam, der macht so was nicht, oder wie?“

„Nee, so ja auch nicht. Also, mein Gott …“

„Der Typ, dem der Laden gehörte, also der Puff, der wohnt immer noch oben drüber, wusstest du das? Hat mir Wolfgang mal erzählt. Überleg mal: Der Typ, also der Mieter, der hat da unten anschaffen lassen und damit Kohle gemacht und die überweist er jetzt als Miete an Wolfgang. Hammer, oder?“

„Wie oft warst ’n du damals da, Sam? Im Puff, mein ich.“

„Einmal und nie wieder, was sonst. Gibt so Sachen, die macht man einmal und nie wieder. Heiraten zum Beispiel. Mach ich auch nie wieder. Nee, im Ernst: Ich hab das einmal gemacht und bin danach lieber nur unten geblieben. Und du?“

Klaus zögert.

„Klaus?“

Keine Antwort.

„Wie jetzt? Etwa öfter?“

„Och so … ein, zwei Mal öfter vielleicht als du. Da kannten wir uns aber noch nicht, glaub ich.“

„Echt? Mehrmals? Sieh mal an … aua!“

„Aha, jetzt ist es passiert, oder? Hab dir doch gesagt, da sind Brennnesseln drin! Und, zieht ordentlich, was?“

Ozzy Osbourne gröhlt ein People say I’m insane in die Nacht, aber in der nächsten Sekunde streikt der Blaster und spuckt nur noch ein zackiges Gn-gn-gn aus.

„Sag mal, Sam, wie lange pinkelst du eigentlich? Das Teil hier springt schon wieder! Wie letztens beim Grillen an der Bever. Also, wenn wir das Ding schon ständig mitnehmen, dann will ich auch was Richtiges und nicht jedes Mal so ein blödes Gn-gn-gn. Und grad läuft Paranoid!“

„Wieso? Ozzy und Gn-gn-gn, das passt doch!“

Sam ist aus dem Busch herausgekrochen und setzt sich wieder ans Ufer. Die Puffabenteuer von Klaus findet er jetzt spannend.

„Also, Klaus, dann pack doch mal aus: Du warst also öfter mal da oben einen wegstecken, ja?“

„Ist gut jetzt.“

„Nee, ist doch gar nicht schlimm, wir haben alle so unsere Macken. Wie alt warst ’n du da? Mitte zwanzig? Kommt hin, oder, wenn du nächsten Monat fünfzig wirst.“

„Ich werde niemals fünfzig.“ Doch, denkt er im selben Moment, das werde ich, und ich weiß wirklich noch nicht, wie ich das aushalten soll.

„Und, immer bei derselben oder Bäumchen, wechsel dich?“, beginnt Sam wieder.

Klaus verzieht das Gesicht. „Geht dich zwar gar nix an, aber: immer bei derselben. Können wir jetzt über was anderes reden?“

„Du hast damit angefangen.“

„Ja, und jetzt beende ich es.“

Klaus schaut mit ernstem Blick aufs Wasser. Sam betrachtet seinen Freund und spürt, dass er da gerade etwas entdeckt hat, was wohl eigentlich verborgen bleiben sollte. Eine lapidare Laberei hat plötzlich etwas zu Tage gefördert. Da war was zwischen ihm und einer Nutte im Riverside. Und es scheint wohl was bedeutet zu haben.

„Wie hieß sie denn?“

„Noch ein Wort und du kannst alleine Bötchen fahren.“

In diesem Augenblick durchschneiden Scheinwerfer das kleine Waldstück über ihnen, ein Hupen ertönt.

„Na endlich“, murrt Klaus, froh, erst mal aus der Nummer raus zu sein.

Sam steht lachend auf. „Dann kann die Party ja beginnen.“ Dann, grinsend an Klaus gewandt: „Aber ich komm garantiert später noch mal drauf zurück!“

Becky

Es klappt wieder nicht. Verdammt. Sie reißt sich zusammen: Ganz ruhig, du kannst das. Also: Schön den rechten Fuß hochziehen und aufstampfen.

Stampf.

Nein, doch nicht so! Gleichzeitig! Ferse und Vorderfuß im selben Augenblick, nicht nacheinander. Zugegeben: Das geht in Pantoffeln ganz gut, aber nicht in kniehohen, schwarzen Lackstiefeln. Sie atmet tief durch. Der siebzehnte Versuch ist das jetzt gewesen. Fuß hoch und …

Blödsinn. Blödsinn! Das kann ja gar nicht gehen. Der siebzehnte Versuch, wie lächerlich. Bei so einer krummen Scheißzahl geht das schon mal überhaupt gar nicht.

Stampf.

Stampf.

Stampf.

So, jetzt ist sie bei zwanzig. Das klingt schon besser. Zwanzig: prima Zahl. Durch vier teilbar, eine Null hinten, ja, das mag gehen. Aber wenn es jetzt nicht klappt, was dann?

Vierundzwanzig? Vierundzwanzig, das ist gut, fast besser als zwanzig sogar, aber erst mal schauen, ob es nicht jetzt schon funktioniert.

Sie schließt die Augen und konzentriert sich. Fuß hoch. Sie hält inne. Und runter:

Ja! Ja! Ja? Wirklich?

Verdammt: Ja! Jetzt red mir nix anderes ein!

Sie atmet tief aus. Endlich. Ein kleines Lächeln aus Erleichterung huscht ihr über die Wangen. Eigentlich eine echt gute Zahl, diese Zwanzig, findet sie. Von ihrem Sechsundneunzig-Rekord ist sie da noch ganz weit entfernt.

Der Sechsundneunzig-Rekord, aufgestellt am 27. Februar 1997 um 2 : 27 Uhr in der Früh, das war wirklich hart. Anderthalb Stunden stand sie damals vor dem Bett und war nicht in der Lage, sich einfach hineinzulegen.

Jetzt sitzt sie im Auto und hat gerade ihren rechten Fuß rausgehievt. Kurz nach acht, sie ist natürlich wie immer die Erste, das lässt sich doch ganz gut an. Jetzt muss sie nur noch den linken Fuß nachziehen, darf dabei aber den rechten nicht bewegen. Sie weiß: Da ist eine Vierundzwanzig nicht drin.

Eins.

Nein! Mit den Zehen zuerst aufgekommen, also so geht’s nun echt nicht.

Zwei.

Jetzt ist es die Ferse. Sie setzt sich eine Dreißig als Ziel.

Bei fünfunddreißig hat sie das Gefühl, der Absatz breche gerade ab, bei siebenunddreißig macht sie eine Pause. Sie ist nicht in Form heute mit dem linken Fuß. Vielleicht ist der Tag in der Klinik zu hart gewesen? Oder die verdammte Fahrerei nach Hause? Vier Umwege hat sie machen müssen, weil die Stadt vier neue Baustellen aufgemacht hat und alle liegen auf ihrem Weg zur Arbeit. Oder war es vielleicht doch der Anruf von Lily, die sich wieder von ihrem Freund hat verdreschen lassen und deswegen die letzte Nacht des Exit leider nicht live erleben wird? Oder … jetzt auch noch Ursachenforschung zu betreiben, ist ihr eigentlich ein bisschen zu anstrengend.

20 : 20 Uhr.

Sie muss jetzt mal zu Potte kommen, denn gleich sind die anderen da. Das ist ihr in all den Jahren erst dreimal passiert: nicht die Erste im Schuppen zu sein. Es endete sogar einmal damit, dass sie keinen Song in Ruhe durchtanzen konnte. Dass sie abbrach. Dass sie eher ging. Dass sie danach drei Stunden brauchte, um es von der Wohnungstür bis ins Bett zu schaffen. Dass sie die ganze Nacht wach lag. Und sich in Gedanken zur Ersten machte. Sich vorstellte, minutiös, wie sie um halb neun als Allererste an Wolfgang vorbei in diesen Schuppen spaziert, jeden Song durchtanzt, wie sie erst um halb vier wieder aus dem Laden heraustaumelt, wie sie erlöst zu Bett geht.

Das ist das Schlimme: Jetzt ist es schon wieder spät und jetzt muss sie. Dann geht es meist gar nicht.

Hör auf zu denken. Ha, das ist gut, flüstert sie, gerade jetzt aufhören zu denken, wo ich mittendrin bin, ihr Schlauberger da oben, ihr seid ja wohl nicht mehr ganz dicht!

Nummer achtundfünfzig schlägt fehl, aber sie ist zuversichtlich, dass es bei sechzig hinhauen wird. Schnell die neunundfünfzig machen: Stampf.

Okay. Und jetzt ganz locker, ganz in Ruhe, 20 : 52 Uhr, da hinten sieht sie Scheinwerfer, da kommen welche, jetzt geht’s um alles.

Sie fixiert den rechten Fuß auf dem Asphalt, hebt den anderen heraus, kommt auf, stampf, Ferse und Vorderfuß gleich! Gleich? Hat sich da nicht doch einer vorgedrängelt?

Nein, das Kampfgericht in ihr hebt den Daumen, das sieht gut aus. Sie hat es geschafft, aus ihrem Auto zu steigen, in fast hundert kleinen Schritten. Es hat schon bessere Tage gegeben. Aber auch schlechtere. Und jetzt aber nichts wie rein.

Sie schließt den Wagen ab und auf, ab und auf, ab und auf und ab, beim achten Versuch ist es gut und sie rennt zum Eingang und endlich …

Verdammt: Heute ist Samstag.

Ja, schon, aber es ist doch die letzte Nacht.

Das zählt aber nicht, zischt die Stimme in ihr.

Es ist Samstag, und samstags wird gewürgt. Auch das noch.

„Mann, ich will da rein!“, ruft sie zu niemandem.

Keine Chance, das lässt die Stimme in ihrem Kopf niemals zu, sie weiß es. Nicht ohne Würgen. Sie schließt die Augen, berührt jeden ihrer acht Ohrringe im linken Ohr, dann alle acht im rechten Ohr. Sie zieht viermal an ihrem Zungenpiercing, beim vierten Mal bleibt sie hängen und schreit quiekend auf.

Aber das war’s noch nicht. Sie muss noch würgen. Viermal, Minimum. Bis ihr die Tränen kommen.

₺265,04