Kitabı oku: «Exit», sayfa 3

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Guido und Silke

Oben steigen Guido und Silke aus einem alten grünen Fort Taunus, den Guido so lange behalten wird, bis ihn nur noch der Dreck zusammenhält. Bis dahin wird er ihm jede Woche einmal Waschstraße gönnen, mit einem Durchschnittsverbrauch von sechzehn Litern zufrieden sein und sich von Silke an den Wochenenden durch die Gegend kutschieren lassen. Er schaut ihr zu, wie sie den Wagen abschließt und ihn umkurvt. Betrachtet ihr langes rotes Haar, wie sie es über die Schulter wirft, ihr markantes Gesicht, in dem er jede einzelne Sommersprosse liebt, ihren großen, weichen Mund, die kleinen Fältchen um ihre Katzenaugen, den herausfordernden Blick, den sie ihm so oft zuwirft. In ihrer schwarzen Wildlederhose gehört sie eigentlich auf eine Harley, und vielleicht kann er sich auch mal irgendwann eine für sie leisten. Aber bis dahin muss Guido noch eine Menge Bürgersteige und Straßen bauen und Silke noch viele Jahre Kaffee und Kuchen servieren und sich dabei von cholerischen alten Gastroweibern ankacken lassen.

„So ein Teil. Das wäre noch viel, viel geiler als der hier.“

„Was meinst du, Schatz?“

Er hat wieder laut gedacht und es nicht gemerkt. Er lächelt.

Sie erwidert es sofort, stellt sich dicht vor ihn, wuschelt mit ihren Händen durch sein kurzes braunes Haar und küsst ihn zärtlich auf den Mund, lässt dann ihre Lippen wandern. Auf sein blindes linkes Auge. Auf die Narbe, die sich wie ein schmaler, dunkler Faden kurz vor seinem Ohr am hinteren Rand der linken Wange bis zum Hals hinunterschlängelt. Sie hat ihn so kennen gelernt. Als es passierte, baute er gerade seinen zweiten Bürgersteig. Es kamen später Hunderte dazu, da passierte nichts. Aber es war ja auch genug geschehen. Es gibt Kollegen, die sagen, er dürfe gar nicht mehr arbeiten, mit nur einem Auge. Und dass irgendwann wieder was passiere. Aber er kann nichts anderes als Bürgersteige und Straßen bauen. Also baut er.

Sie lässt ihre Zunge an seiner Narbe entlangwandern, und ihm wird heiß und kalt. Sie liebt mich, denkt er.

„Och nichts. Ich hatte nur schon wieder unsere Harley vor Augen.“

„Zur Silberhochzeit. Das sind noch fünf Jahre, das schaffen wir. Versprochen.“ Und sie sagt es so, dass er es ihr einen Moment lang wirklich glaubt.

„Hallo?“, ruft er jetzt in den Wald hinein. „Wo seid ihr denn? Wir sehen nur eure Autos!“

„Hier unten!“ Sams Stimme. „Runter mit euch, worauf wartet ihr? Du warst doch schon hier, du kennst doch den Weg.“

„Echt, du kennst die Ecke?“ Silke schaut ihn ungläubig an.

„Wir haben uns hier früher ein paar Mal zum Trinken getroffen. Schön da unten am Wasser. Meine Fresse, das ist schon so lange her, das glaub ich gar nicht mehr.“

„Und was das jetzt hier werden soll, davon hast du gar keine Ahnung, ja? Das verstehe ich richtig?“

„Keinen Plan, ehrlich. Überraschung halt!“

„Und der andere ist jetzt auch ein Kollege von dir?“ „Klaus, genau.“

„Ach ja, richtig, Klaus.“

„Na, dann komm.“ Er nimmt sie an die Hand, steigt über die graue Leitplanke, die den kleinen Parkplatz vom Wald abtrennt, schiebt einen Busch beiseite und entdeckt den schmalen Trampelpfad, der hinunter ans Ufer führt.

Es sind nur ein paar Schritte nach unten.

„Downhill!“, schreit Guido plötzlich und beginnt zu laufen, er zieht Silke mit sich, die beschwert sich lachend, sie stürmen zwischen den Bäumen hindurch, stolpern ans Ufer, Guido erblickt Sam, dann das Schlauchboot, dann das Bier, und er versteht sofort und ist total begeistert, aber im selben Moment lässt Silke seine Hand los, denn sie erkennt Klaus, und Klaus erkennt Silke, und beide stehen sich starr gegenüber und sie sind alles, aber nicht begeistert.

Becky

Sie hört schon die Musik von drinnen. Die Counting Crows. Sie sieht Wolfgang an der Türe stehen. Verdammt, ihr Schweine da oben, ruft sie in sich selbst hinein, es sind die Counting Crows, es ist Mr. Jones, und ich sollte schon längst drin sein!

Sie hält inne. Ein Wagen fährt hupend an ihr vorbei, sie ist nicht sicher, ob da einer grüßen oder sie von der Straße scheuchen will, sie stolpert an den Wegesrand, bleibt stehen und denkt an Kotze. Sie denkt so lange an Kotze, bis es irgendwann reicht. Sie steht röchelnd neben einem Baum, und beim vierten Würgen muss sie sich sogar noch zusammenreißen, um sich nicht wirklich vor dem Eingang zu übergeben. Tränen schießen ihr in die Augen und laufen wie kleine Salzbäche an ihren Wangen hinunter.

Sie wischt sie weg, und es überkommt sie eine Erschöpfung, die zugleich eine tiefe Traurigkeit im Schlepptau führt. Die Stampferei, das war ja in Ordnung. Aber dieses Würgen ist jetzt echt zu viel. Direkt vor ihr huscht eine Gruppe von Leuten in den Laden. Sie schließt die Augen. „Was mache ich hier eigentlich?“

Aber niemand antwortet. So wie nie jemand antwortet, wenn sie diese Dinge tun muss.

Als sie endlich so weit ist, dass sie durch die Eingangstüre treten kann, lächelt Wolfgang sie an: „Hi, heute mal nicht die Erste? Hab mir schon Sorgen gemacht.“

Sie erwidert bemüht sein Lächeln, wischt sich die Augen, Wolfgang erkennt, trotz ihrer kleinen Nickelbrille mit dem schmalen, schwarzen Kassengestell, dass es Tränen sind.

„Hey, ist doch alles gut!“, ruft ihr Wolfgang zu.

„Ja?“

„Klar. Und? Lila oder grün oder gelb?“

„Lila.“

Witold knallt den lila-schwarzen Getränkechip auf den Tisch, sie hat von jeder Farbe einen zu Hause, so wie sie vier Exit-Feuerzeuge zu Hause hat und eine Exit-Tasse. Sie wird ihn gleich gegen das erste Flens des Abends eintauschen. Nein, vorher Kaffee.

Plötzlich fällt sie Wolfgang um den Hals, drückt ihn an sich, er spürt ihren schlanken, knochigen Körper, das schwarze Lackoberteil. Seine Hände umschließen ihre dünnen, tätowierten Oberarme, legen sich dann auf ihr kurzes, pechschwarzes Haar. Als sie von ihm ablässt, schauen sich beide in die Augen. Ihre funkeln tiefschwarz, seine strahlen die Ruhe von einem aus, der schon all das gesehen hat, worüber andere maximal schreiben.

„War schön.“ Beinahe schluchzt sie.

„Ist es doch. Noch ist nicht zu. Rein mit dir, lass es krachen.“

„Gleich. Erst brauch ich meinen Kaffee. Auch heute.“

Steffi erwartet sie bereits im Bistro.

„Ultrastark, das Zeug, das schwör ich dir. Damit kannste bis morgen um neun durchmachen.“

„Danke.“

Sie hält eine dunkelrote Tasse hoch, auf der in weißer, halb abgebröckelter Schrift das Wort „Lovely” steht. Becky streckt die Hand aus, spreizt die Finger und umfasst die Tasse so, dass sie einander nicht berühren und auch den Henkel nicht erreichen können. Das ist der einzige Nachteil an der Tasse: dass sie einen Henkel hat. In diese Tasse hat Steffi ihr am 13. Juni 1992 ihren ersten Exit-Kaffee eingeschenkt. Seither ist es ihre Tasse. Die Lovely-Tasse.

Steffi lächelt, Becky schaut ihr einen Augenblick länger in die Augen als sonst und erkennt, wie sie funkeln. Steffis Augen funkeln sonst nur so, wenn ihr eine gefällt. Sie bildet sich ein, dass sie für den Moment diese eine sein darf.

Guido und Silke

Guido weiß nicht, dass er sie einander nicht mehr vorstellen muss. Mit feierlichem Ton verkündet er: „Silke – Klaus. Klaus – Silke.“

„Hallo.“

„Freut mich.“

Schweigen.

Sam und Guido schauen sich an, irgendwas ist schief an diesem Bild, hier in der beginnenden Dämmerung am Kiesufer, über ihnen Wälder, vor ihnen der Fluss, zwischen ihnen etwas Undefinierbares. Vielleicht ist es auch der Rahmen, vielleicht sogar die ganze Wand. Aber sie wissen nicht, was es wirklich ist. In so einem Moment spult man den Film gerne einfach vor, man vergisst die Szene, aber rausschneiden kann man sie auch nicht. Sie ist da und sie wird irgendwann, später, noch einmal eine Rolle spielen. Sam ergreift die Initiative, reicht den beiden ein Bier, alle vier stoßen an: „Also, auf euren Zwanzigsten!“

„Und jetzt fahren wir Boot, oder was?“ Silke hat ihre Sprache wiedergefunden.

„Ja, nur leider ist es ein Familienboot für Eltern mit kleinen Kindern, wir werden also alle ein bisschen kuscheln, denn der Kasten Bier muss ja auch noch rein. Aber das passt schon. Und dann ab auf die Wupper.“

„Ach, und es fehlt genau eine Schwimmweste, also lassen wir die einfach ganz weg“, erklärt Klaus. Sie lächelt ihn höflich an und wünscht sich einen winzigen Augenblick lang, dass er gleich reinplumpst und nie wieder auftaucht. Und Klaus schaut sie so an, als wünsche er sich das auch.

„Und wo fahren wir hin?“, fragt Silke, „bis zum Rhein? Da sind wir dann aber erst morgen früh, oder?“

„Nee, nicht bis zum Rhein“, sagt Guido und funkelt plötzlich Sam an, „lass mich raten: Wir fahren ins Exit, richtig? Ich glaub’s nicht, das ist doch die Nummer, die wir immer mal machen wollten: mit dem Schlauchboot ins Exit fahren. Und dann da ’ne Runde abrocken. Mein Gott, wie lange war ich nicht mehr da?“

„Und du kannst auch nur noch heute. Der Laden macht morgen zu.“

„Richtig, hab ich gelesen. Bitter ist das, wirklich. Aber eine echt geniale Idee von dir, Sam.“ Und dann, an Silke gewandt: „Schatz, du warst noch nie im Exit, oder? Komisch eigentlich, wir waren da nie zusammen drin, dabei ist die Musik doch eigentlich … also, das wird sicher gut.“ Für einen kurzen Moment überlegt er, dass sie in der Tat nie mitwollte, wenn er hinging, und dass er sich da nie weiter Gedanken drum gemacht hat. Und er macht es auch jetzt nicht. Aber Silke steckt inzwischen in so einer Szene, die später noch einmal eine Bedeutung haben wird, und wenn Guido wüsste, warum das so ist, dann würde er sicher nicht nur diese eine Szene rausschneiden wollen. Er würde die ganze Filmrolle wegwerfen. Ganz weit weg.

Silke spürt, wie ihr das Herz klopft, wie ihr das Blut in den Kopf steigt und sich ihre Gesichtsfarbe der ihrer Haare angleicht. „Alles klar, Schatz? Schatz?“

Sie starrt Klaus an. Klaus schaut zur Seite. Er hält ihrem Blick nicht stand. Sie muss jetzt was sagen. „Ja, alles super, ich war da nur wirklich noch nie drin. Und was man so hört, na ja …“

„Ist eine Rockdisco, mehr nicht“, beginnt Guido, „eigentlich auch echt deine Musik. Da war mal was anderes drin, vor zwanzig Jahren oder so, sicher, aber da war ich noch nicht drin, nur der Sam hier. Klaus, du auch, oder?“

Aber als niemand mehr etwas sagt und Guido spürt, dass hier gerade irgendwie was zu kippen scheint, nur nicht was, und in welche Richtung, und warum überhaupt, da bricht er es einfach ab.

Er marschiert zum Boot, stellt den Kasten rein, dazu den Ghettoblaster, der sich nach dem Paranoid-Desaster selbst ausgeschaltet hat, und ruft: „Also, wollen wir oder liegt das Boot hier nur zur Zierde?“

Während sich Guido mit dem Schlauchboot befasst, schaut Sam die beiden an, erst ihn, dann sie, dann wieder ihn, er liest in ihren Gesichtern, und als Silke an ihm vorbeimarschiert und sich von Guido ins Boot helfen lässt und ihm einen Kuss gibt, der ihn beruhigen soll, nutzt Sam genau den Bruchteil einer Sekunde, der ihm bleibt, und kommt Klaus ganz nah: „Das ist jetzt nicht das, was mir gerade irgendeine irrwitzige Stimme in meinem Kopf einreden will, oder? Das kann es nicht sein.“

„Halt dein Maul“, schnauzt Klaus ihn gepresst an, Sam begreift, dass die Irrwitzstimme wohl recht hat, und er hat keine Ahnung, wie er diese Nummer hier überstehen soll.

Max

Max ist kein Hardcore-Rocker. Er war ein Donnerstagskind, eines von denen, die den Freitag noch mal eben auf der halben Arschbacke abgerissen haben. Vier Stunden Schlaf reichen, wenn am nächsten Tag um 14 Uhr Schluss ist. Er braucht keine Verwandlung, bevor er hierhin kommt, wie so manch andere. Keine Kutte, keine lange Matte, kein Pathologie-Parfüm, seine Idee von einem Tattoo verwarf er, als er Paul bei dessen zweitem Tattoo begleitete und der einmal so schrie, dass ihm selber schlecht wurde. Er schaut an sich herunter und findet sich mal wieder langweilig. Blaue Levis, schwarzes Shirt, Sneakers und alles so klein. Er könnte in diesem Outfit auch auf eine Schlagerparty gehen oder ins Kabarett, das würde keiner Sau auffallen. Klein eben.

Aber das hier ist die letzte Nacht, und da haben alle und alles ihren Platz, auch er und sogar Juli mit Geile Zeit, das lief vorhin schon und eben wieder und es war ja auch eine geile Zeit. Er hat hier drin noch nie auf Juli getanzt. Aber jetzt ist Vossi dran, der hat auch schon mal die Donnerstage gemacht, jetzt holt er die Hardcore-Menschen ab, sind schon genügend am Start, und da steht er selbst lieber nur rum und schaut, wie sie total abgehen auf die Songs. Er liebt es, hier ordentlich abzurocken, aber fast genauso geil ist das Zuschauen. Beim Great Song of Indifference vorhin ist einer ganz alleine draufgestürmt, der ist total ausgerastet, in der Luft herumgesprungen, alles barfuß und dann bei so einem Song, der muss sich alles ausgerenkt haben. Jedes Instrument, von der Geige bis zur Flöte, hat sich als Zucken seines Körpers widergespiegelt, und nach 4 : 30 Minuten, als sich Bob Geldof aus seinem eigenen Song herausgelacht hat, da ist der Typ so lässig wieder runtergeschlendert, als latsche er vom Bett ins Bad, hat sich auf eine Couchecke gehockt, an seiner Flasche genippt und war glücklich. Was macht ihr nur alle morgen?, fragt er sich. Natürlich gibt es andere Läden, natürlich werden sich einige wiedertreffen, wieder gemeinsam rocken, aber …

Von irgendwo hinten winkt ihm Anne zu, er winkt zurück, sie macht eine Geste, die sagen soll, ich komme gleich mal zu euch, aber jetzt muss ich zu meinen Leuten. Verdammte Cliquenwirtschaft, denkt er, aber das war nie anders hier. Sie kommen in Rudeln oder schließen sich ihnen an, und ein Wechsel ist gar nicht so gern gesehen, da wird über Ablösesummen auch mal gar nicht erst verhandelt. Er hasst diese Rudelbildung, er ist oft und gerne auch mal alleine gekommen, donnerstags, wenn er einfach nur tanzen wollte, nicht reden, nicht trinken, nur versinken in der Musik, stundenlang. Rudel kann er nicht.

Anne kennt er seit Ewigkeiten, aber trotzdem nur ein winziges bisschen. Er weiß nicht, wie viele Male sie gemeinsam auf einer von Pauls sinnlosen Partys total abgestürzt sind, die hat er früher ständig veranstaltet, ehe er sich aus seinem wahren Leben verabschiedet und dann auch nie wieder wirklich dahin zurückgefunden hat. Aber gelaufen ist da nie was, und immer dann, wenn sie halbwegs über eine Art Smalltalk hinausgekommen waren, schmierten sie ab.

Sie winken beide zurück, Max und Paul, der neben ihm steht, anderthalb Kopf größer ist als er und zwei Jahre älter, aber zehn Jahre älter aussieht, und Paul hebt wie zum Gruß seine zweite Flensflasche. Max schaut auf Pauls Bauch und kann es noch immer nicht fassen: Paul hat es gewagt, sein uraltes Manowar-T-Shirt rauszukramen, bei dem das M fehlt. Eigentlich ist genau das hier gerade seine Musik, die Hardcoreschiene. Sein Musikstil hat sich seinem Leben angepasst, seinem ganzen Sein, alles ist härter geworden bei ihm als früher. Aber anowar, das geht gar nicht.

Paul braucht einen Pegel, sonst kann er gar nicht erst draufgehen, er braucht diesen Gleichgültigkeitsblick in seinen dunkelgrauen, alten Augen, dieses Scheißegal-Gefühl, und das tritt frühestens ab dem fünften Flens ein. So war es früher hier, so war es in den anderen Clubs, in denen er in der Zwischenzeit gelandet ist, so wird es heute wieder sein. Paul und sein Pegel. Er hat sich längst krank gesoffen, sein Magen rebelliert seit Monaten, Max weiß das, er hat sie erlebt, die Rebellion, er war einmal dabei, als sie im Krankenhaus endete, er hat erfahren, dass der Arzt ihn warnte, aber für Paul haben Freundschaften dann ihre Grenzen, wenn sie sich zu sehr in seine Belange einmischen.

Und einer dieser Belange ist Sonja gewesen, und die hat ihn für ein paar Jahre von allem ferngehalten. Doch das ist lange vorbei. Paul ist wieder mit ihm hier. Noch einmal, nach all den Jahren.

Guido und Silke

Klaus hat eine Überraschung dabei. Sie haben kaum abgelegt, da fingert er etwas Gras aus der Lederjackentasche und dreht einen Joint.

„Klaus, du bist der König“, ruft ihm Guido zu, Silke ringt sich ein Lächeln ab, Sam wischt so lange an der CD herum, bis keine Krümel mehr drauf sind und sie diesmal vielleicht unfallfrei durchläuft. Er drückt auf Play, es beginnt mit Deep Purple, und wenn an diesem Abend für diese vier irgendwas stimmig ist, dann dieser Moment. Die Tüte geht rum, sie lassen sich ein Stück treiben und grölen so laut Smoke on the water!, dass es durch das ganze Tal schallt.

Sie wechseln sich später mit dem Rudern ab, nur Silke ist befreit, sie zieht die Hälfte des Joints alleine weg, sie hat keine Wahl, sonst wird sie hier wahnsinnig.

Nach einer Stunde legt sie den Kopf zurück, schaut in den Himmel, der sich seinen bergischen Regen endlich mal spart, und lauscht dem sinnlosen Gequatsche der Kerle, die sich so hemmungslos betrinken, dass sie keine Ahnung hat, wo das hier enden soll, aber jetzt ist es ihr gerade fast ein bisschen egal.

In der Kohlfurth nimmt die Wupper an Fahrt auf, jetzt ist Sam gefragt, der DLRG-Held. Guido reicht ihm das Ruder.

„Komm, du Rettungsschwimmer, nimm mal das Paddel, jetzt wird’s brenzlig.“

„Brenzlig. So’n Quatsch, du Weichei. Los, her damit.“

Der alte Ghettoblaster schleudert die Ur-Fassung von Whiskey in the Jar in den feuchten Augustabend hinaus, die beginnende Dunkelheit hat sie längst erfasst, das Wasser schimmert dunkelgrau, es ist kühler geworden. Guido krabbelt zu ihr nach hinten, das Boot wackelt bedenklich, er setzt sich dicht neben sie, sie schmiegt sich an ihn.

Links von ihr kauert Klaus, der schon seit einer Ewigkeit sein Bein gegen ihres lehnt, sie lässt das zu, und er genießt es, doch wie sie sich jetzt an ihren Mann kuschelt, mit ihren Fingern in seinen Haaren spielt, sich dann zu ihm dreht, mit ihrer Zunge sein Ohrläppchen massiert, ihn küsst, lange und intensiv, das kann er nicht sehen, auch nach all den Jahren nicht, und er blickt verbittert in die Ferne. Sam fängt seinen Blick ein, während er das Boot nach fünf großen Pils immer noch ziemlich ordentlich über die Wupper steuert, und fragt sich, was ihn geritten hat, ausgerechnet Klaus mitzunehmen. Ausgerechnet Klaus.

Peter

„So lonely, so lonely, so loneleeeey!“ Sie springen auf, jetzt kommt das Solo, der Part danach ist fast wie Reggae, dann ziehen sie das Tempo wieder an, und Britt und Tom werfen in Peters kleinem Wohnklo die Köpfe hin und her. „Lo lo lo“, beginnt Britt, und Tom ergänzt: „I feel so, I feel so, I feel so!!!” Und umgekehrt.

Peter sitzt einfach nur in der Ecke, er verschwindet fast in seinem abgewetzten schwarzen Riesensessel und setzt das dritte Bier an, er hat sich einen guten Vorsprung herausgearbeitet, die beiden anderen sind gerade mal beim zweiten, und das teilen sie sich auch noch. Aber er braucht diesen Vorsprung. Er wird noch viele Flaschen brauchen, um es auszuhalten, um so wenig zu spüren wie möglich, vor allem, wenn der Morgen naht.

Aber jetzt hat die Nacht noch nicht einmal angeklopft, es ist kurz nach zehn, sie glühen gerade erst vor, und als Pearl Jam kommen und Stings Uralt-Polizisten ablösen, da wiegen sie sich im Dreivierteltakt von I am mine. Er hat seine Exit-Top 500 diesmal einfach nur auf Zufallswiedergabe gestellt, da sind dann halt auch mal Police und Pearl Jam dabei. Sonst hat er immer einen wahren Kult betrieben, wenn sie sich bei ihm trafen, manchmal waren sie zu fünft, manchmal zu zehnt, er brachte auch mal zwanzig Leute auf den zwölf Quadratmetern seines Wohnzimmers unter. Immer genau eine Stunde vorher hat er die Songs ausgewählt, hat Vorglüh-Themenabende veranstaltet, natürlich auf den Wochentag angepasst. Das Dark-Wave-Glühen. Das Hardcore-Glühen. Das Alternative-Glühen. Heute gibt es nur das Exit-Glühen.

Er schaut sich um in den zwölf Quadratmetern. Das Type-o-Negative-Poster hat sich über die Jahre völlig verfärbt. Er wollte es immer in einen Rahmen stecken. Aber, Gott, es ist ein Poster. Für seine CDs hat er sich einen Turm gebaut, der reicht bis an die Zimmerdecke. Er mag das eigentlich nicht, alles nur noch digital und auf dem Rechner, er braucht eine Platte und auch von denen, den echten Vinyl-Dingern, hat er noch Hunderte. Sie stapeln sich in dem kleinen Miniraum, den sein Vermieter als Keller bezeichnet. Er braucht auch die Hüllen und die Booklets und ihren Geruch, wenn sie neu sind, und er braucht die ersten Fingertatschen auf schwarzem Glanzpapier. Und das Lesen der Texte in seinem alten Sessel unter der Funzel des blassgelben Deckenfluters, den er vor ein paar Jahren auf dem Flohmarkt erstanden hat. Eigentlich passt gar nichts zusammen in dieser Bude, alles ist alt und billig. Trotzdem hat er sich hier immer wohlgefühlt.

Er streicht sich durch die Haare, die mal lang und schwarz waren, ehe die Stirn immer höher, die Frisur immer kürzer, das Trinken heftiger, sein Gesicht schmaler und die Zeit einfach eine andere wurde, er zündet sich eine Kippe an und betrachtet die Anlage hinten in der Ecke. Fixiert die Digitalanzeige des Equalizers und die silbernen Klangtropfen, die im Takt der Musik von oben nach unten regnen. Dann die riesigen Boxen, die unendlich hässlich aussehen und immer noch einen unendlich geilen Klang erzeugen und ihm schon unendlich viele Besenstiel-an-die-Decke-Attacken aus dem ersten Stock eingebracht haben. Heute ist es ihm egal. Eddie Vedder singt auf voller Lautstärke, und er hockt einfach nur da und wiegt sich jetzt auch wie automatisiert im Rhythmus, dabei mag er Pearl Jam nicht mal.

„Was ist los? Auf mit dir, Alter!“, ruft ihm Tom zu, aber er lächelt nur stumm. Und in Toms Augen stehen offene Fragen, denn Peter ist heute nicht Peter, er ist anders, er ist irgendwie weg.

Eine seltsame Ernsthaftigkeit tritt in Toms Augen, jetzt wechseln sie kurz die Blicke, lassen den Song Song sein und schauen ihn wieder an, wie er da einfach nur hockt, so seltsam weit entfernt.

„Alles gut!“, ruft er ihnen zu, „macht ihr mal.“

Irgendein Song von einem Film-Soundtrack läuft an und nimmt das Tempo raus und die beiden Tanzenden setzen sich. Britt schmiegt sich an Tom, sie teilen sich ihre Flasche und lauschen einfach nur.

„Wer ist das?“

„Keine Ahnung, klingt ganz okay. Aber heute Abend klingt ja sowieso alles okay.“

Wieder schweigen sie, minutenlang, Song für Song.

Britt prustet plötzlich los: „Wisst ihr noch, als Holger in die Wupper gefallen ist?“

Eine Bierfontäne schießt aus Toms Mund. Die Suppe läuft ihm übers Kinn auf das schwarze Rüschenhemd. „Mann, warum musst du damit anfangen, während ich trinke?“

„Auf Schwarz sieht man doch eh nix!“

„Der Holger war so blau, so was hab ich überhaupt noch nicht gesehen“, lacht Tom und zündet sich eine Kippe an. „Der ist aus dem Laden raus und will einfach nur frische Luft schnappen. Torkelt am Ufer rum und fällt voll rein.“

„Und ich hab ihn rausgezogen.“ Jetzt schauen sie Peter an, aber er schaut nicht zurück, sondern aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus und er sieht sich an der Wupper stehen, Jahre ist das jetzt her, und er packt Holger am Kragen und dann unter den Armen und zieht ihn aus dem Wasser, und Holger faselt irgendwas von „Boh, jetzt regnet’s aber richtig“ und Peter hält ihn auch dann noch, als er das ganze Ufer vollkotzt. Und er legt Stunden später seinen Arm um ihn, als sie irgendwo im Wald, hoch über dem steinigen Weg nach Schaberg, die Nacht unter einer Decke verbringen. Weil es einfach nicht mehr anders geht.

„Wir haben damals da geschlafen“, sagt er, den Blick immer noch auf das Fenster gerichtet, und leert die dritte Flasche.

„Wer? Du und Holger?“

„Mann, Tom, das hat er doch schon ein paar Mal erzählt. Du hast aber auch ein Gedächtnis wie ein Sieb.“ Britt gibt Tom einen Stups und sie lachen, jetzt auch Peter.

Er wird schnell wieder ernst: „So was haben wir danach nie wieder gemacht … wir haben danach überhaupt nicht mehr viel mit ihm gemacht.“

Sie schauen alle auf die linke Box und auf den dunkelbraunen Rahmen, der oben draufsteht, und auf das Schwarz-Weiß-Foto, das dort drinsteckt, und auf das freundliche, lebensfrohe Gesicht auf diesem Foto, auf die wachen Augen, auf die Grübchen neben dem Mund, auf die Stirn, die viel zu hoch reicht für sein Alter und seine Haare dreist in Richtung Hinterkopf verdrängt hat.

Und sie schauen auf das schwarze Band, das über der rechten oberen Ecke des Rahmens hängt.

Als die Boxen die Live-Version von Asche zu Asche ausspucken, vibriert der Rahmen ein wenig, und alle drei schließen die Augen und singen mit: „Warmer Körper, weißes Kreuz, falsches Urteil, falsches Grab …“

Sie springen auf und rocken die zwölf Quadratmeter, und unten, im ersten Stock, stößt ein alter Mann mit einem Besenstiel gegen seine Zimmerdecke, wieder mal, denn er möchte gerne im Ersten einen blonden Mann verstehen, der Menschen in Trachtensachen ankündigt, aber im Moment hört er nur ein Wummern, so dunkel wie die schwärzeste Nacht, und der Alte ist der Verzweiflung nahe, denn das da oben geht jetzt schon seit mindestens drei Jahren so mit dem verdammten Wummern, seit dieser Irre hier ins Haus gezogen ist. Und wenn er nicht schon im Schlafanzug hier säße, dann ginge er sich jetzt beschweren, dann würde er diesem Typen da oben aber endlich mal ordentlich die Meinung sagen. Der mit seiner ständigen Sauferei und seinen beknackten Freunden da jedes Wochenende und dem verfluchten Lärm, das kann doch kein normaler Mensch aushalten.

Ab Montag muss der Alte keine Sorge mehr haben. Ab Montag wird es ruhiger sein im Haus. Aber das weiß der Alte nicht. Das wissen auch Britt und Tom nicht und auch nicht Ina und Alex, die gleich noch kommen werden.

Das weiß nur Peter.

Als es an der Tür klingelt, schreit die Box gerade Thunder. Peter stellt Bier Nummer vier ab und spürt auch schon ein bisschen, dass es bereits Nummer vier ist, und schlendert durch seinen schmalen Flur, vorbei an der Küchenzeile, zur Tür. Er hört nicht, wie die beiden flüstern.

„Was ist denn mit dem los heute?“

„Was soll los sein? Es ist die letzte Nacht.“

„Der ist doch sonst nicht so. Der trinkt und trinkt und sitzt nur rum und nichts passiert.“

„Frag ihn doch einfach. Was soll denn diese Lästerei jetzt hier?“

„Ich läster doch gar nicht! Man wird sich ja wohl noch Gedanken machen dürfen.“

„Was meinst du, kommen heute alle?“

„Lenk nicht ab. Was juckt mich das denn jetzt? So oder so: Wir sollten jetzt langsam mal los.“

Die Bierflasche wird geleert, Kippen werden ausgedrückt und Outfits halbwegs geradegerückt. Britt steht prüfend vor Peters kleinem Spiegel mit dem gesprungenen Glas in der Ecke und schaut sich selbst tief in die Augen. Tom tritt neben sie, prüft sein schwarzes Rüschenhemd, nestelt am Kragen herum, zieht eine metallene Runenkette hervor und betrachtet sie. „Was schaust du so skeptisch? Doch zu viel Puder genommen?“

„Ach, bin ich dem Herrn zu blass, oder was?“

Sie dreht sich zu ihm, legt ihm ihre zierlichen Hände um den Hals, fährt mit dem Nagel durch das Fleisch, bis es genauso schmerzt, dass es gut tut, und küsst ihn. Sie lächelt ihn an, wendet sich noch einmal zum Spiegel, und ihr Blick verfinstert sich: „Wenn die, die heute alle da sein wollen, mal in den letzten zwei Jahren immer da gewesen wären, dann wäre es so weit gar nicht gekommen.“

Die Worte sind kaum gesagt, da steht Peter mit Ina und Alex bei ihnen, und auch die Hosen erzählen gerade von einem Alex, und sie umarmen sich alle, drücken sich, küssen sich schweigend und kommen sich ein bisschen vor wie vor einer Beerdigung. Vielleicht ist es das auch, aber das, was sie heute Nacht zu Grabe tragen, mit den vielen anderen, die sie gleich treffen werden, ist kein geliebter Mensch.

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