Kitabı oku: «Paulus und die Anfänge der Kirche», sayfa 4
Zum Weiterlesen
Ebner, Martin: Von den Anfängen bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts, in: Möller, Bernd (Hg.): Ökumenische Kirchengeschichte, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Mittelalter, Darmstadt 2006, 15–42.
Frankemölle, Hubert: Frühjudentum und Urchristentum. Vorgeschichte – Verlauf – Auswirkungen (4. Jahrhundert v. Chr. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) (Studienbücher Theologie 5), Stuttgart u. a. 2006, 222–267.
Schenke, Ludger: Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung, Stuttgart u. a. 1990.
Vouga, François: Geschichte des frühen Christentums (UTB 1733), Tübingen 1994.
Zeller, Dieter: Die Entstehung des Christentums, in: ders. (Hg.): Christentum I. Von den Anfängen bis zur Konstantinischen Wende (Die Religionen der Menschheit 28), Stuttgart u. a. 2002, 58–123.
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|43| Paulus und die paulinischen Gemeinden – Die Botschaft vom Messias Jesus gewinnt an Kontur (SB)
Wie kaum ein anderer hat Paulus zur Weiterentwicklung der Christusbotschaft beigetragen und sie durch seine persönliche Verkündigung und seine Briefe über Kleinasien und Griechenland bis nach Rom verbreitet. Daher legt dieses Buch einen besonderen Schwerpunkt auf die Darstellung der Person und der Arbeit des Paulus sowie auf die Erschliessung seiner Briefe. Diese sind nicht nur die ältesten erhaltenen Dokumente des Neuen Testaments, sondern stellen auch ein beredtes Zeugnis über das Leben und die Arbeit des Paulus und natürlich über die Eigenheiten seiner Christusbotschaft dar. Auf einzigartige Weise gewähren diese Briefe aber auch Einblicke in das Leben früher christusgläubiger Gemeinden. Damit sind die Paulusgemeinden diejenigen der frühen Gemeinden, über die wir durch zeitnahe Quellen am besten informiert sind.
Allerdings erweist sich die Quellenlage beim näheren Hinsehen als ein wenig komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Daher sollen im Folgenden zunächst die Quellen vorgestellt werden, die Aufschluss über Paulus und die von ihm gegründeten Gemeinden geben können. Auf der Basis des Wissens um ihre Eigenheiten kann dann im Anschluss das Leben und das Wirken des Paulus beleuchtet werden, bevor sich die folgenden Kapitel des Buches seinen Briefen zuwenden.
2.1
Die Quellen
Wer etwas über Paulus, sein Leben, seine Arbeit und «seine» Gemeinden erfahren möchte, ist zunächst natürlich auf das Neue Testament als primäre Quelle verwiesen. Paulus nimmt innerhalb der Schriften des Neuen Testaments einen enorm grossen Raum ein. Immerhin 13 der 27 Schriften des Neuen |44| Testaments sind unter dem Namen des Paulus überliefert worden, und dazu ist die Apostelgeschichte ungefähr zur Hälfte dem Wirken des Paulus gewidmet.
Exkurs
Traditionell wird zum Corpus Paulinum, der paulinischen Briefsammlung im Neuen Testament, als ein vierzehnter Brief auch der Hebräerbrief gerechnet. Dieser selbst gibt allerdings nicht Paulus als Verfasser an, sondern bleibt anonym; doch ist seine Überschrift «an die Hebräer» analog zu den paulinischen Briefen gestaltet, in denen die Adressaten genannt werden, im Unterschied zu den «katholischen Briefen», die den Namen des jeweiligen Verfassers angeben. Ausserdem wird durch die Nennung des Timotheus in Hebr 13,23 und die vorausgesetzte persönliche Verbindung des Verfassers zu diesem eine paulinische Autorschaft zumindest nahegelegt. Schliesslich mag bei der Zuordnung zum Corpus Paulinum eine Rolle gespielt haben, dass dieses mit dem Hebräerbrief 14 Briefe und damit zweimal die symbolische Zahl sieben umfasst.51
2.1.1
Die authentischen Paulusbriefe
Nicht allen diesen Schriften, die unter dem Namen des Paulus überliefert sind oder sich mit Paulus befassen, kommt der gleiche Quellenwert im Blick auf Paulus selbst zu. Denn von den 13 Briefen, die Paulus zugeschrieben werden, stammen nur sieben von Paulus selbst. Zu diesen «echten», «authentischen» oder auch «orthonymen»52 Paulusbriefen zählen nach weitgehendem exegetischem Konsens die Briefe an die Gemeinden in Rom (Röm), Korinth (1 und 2 Kor), Galatien (Gal), Philippi (Phil) und Thessaloniki (1 Thess) sowie der Brief an Philemon und die Gemeinde in seinem Haus (Phlm). Wenn wir also die Stimme des Paulus selbst vernehmen wollen, sind wir auf diese Briefe verwiesen. Sie sind die erste Quelle für eine historische Rekonstruktion des Lebens und Arbeitens des Paulus, für sein theologisches Denken, für seine Perspektiven auf die ersten Gemeinden und die dort diskutierten Lebensfragen sowie für die Stimmen und Debatten aus diesen Gemeinden.
Allerdings bieten diese Briefe weder eine vollständige Biografie des Paulus, noch geben sie einen zusammenhängenden |45| Bericht über seine Reisen. Weder stellen sie in einem einzigen Regelwerk zusammen, wie Gemeinde zu sein hat, noch bieten sie eine systematische «Theologie des Paulus». Das liegt daran, dass sie allesamt – mit einer gewissen Ausnahme des Römerbriefs – situationsbezogene Schriften sind, in denen Paulus auf Fragen, Konflikte und Ereignisse in den Gemeinden reagiert. Das heisst, sie sind Antworten des Paulus auf Anfragen aus den Gemeinden, sie geben seine Überlegungen zu aktuellen Streitigkeiten in den Gemeinden, zu Fragen der Lebensgestaltung und des Zusammenlebens als Gemeinde oder auch zu theologisch strittigen Themen wieder und sind daher nicht wohlabgewogen und distanziert geschrieben, sondern oftmals voller Emotionen, leidenschaftlich und engagiert. Denn stets ist Paulus selbst mit seinen Anliegen und seinem Einsatz für die Gemeinden in alle diese Fragen involviert. Meist müssen heute die eigentlichen Ausgangsfragen oder -konflikte mühsam rekonstruiert werden, weil Paulus sie nicht eigens erklärt, da sie seinen Adressatinnen und Adressaten ja bekannt waren. Und oft stossen wir bei diesen Rekonstruktionen an die Grenzen dessen, was herauszufinden ist.
Das heisst: Die Briefe des Paulus geben zwar vielfältige und höchst interessante Einblicke in das Leben und Arbeiten des Paulus, in seine Auffassungen über eine von Christus geprägte Lebensgestaltung als Einzelperson oder als Gemeinde sowie über sein theologisches Denken, doch tun sie dies aus den genannten Gründen nicht in zusammenhängender Art und Weise, sondern punktuell, an verschiedenen Stellen der Schriften, bisweilen fragmentarisch und manche Fragen nur andeutend. Dazu kommt, dass alle erhaltenen Paulusbriefe in einem relativ kurzen Zeitraum von ungefähr zehn Jahren entstanden sind (etwa zwischen 50 und 60 n. Chr.), so dass wir weder zeitnahe Zeugnisse aus der Frühzeit des Völkerapostels noch aus der allerletzten Zeit vor seinem Tod besitzen. Biografische Fragen des Paulus spielen in seiner Korrespondenz mit den Gemeinden höchstens am Rande eine Rolle, so dass wir dazu nur einige punktuelle und unzusammenhängende Angaben in seinen Briefen finden. Manche Themen bleiben vollständig ausgeblendet. Und schliesslich werden manche Fragen höchst leidenschaftlich oder gar polemisch diskutiert, |46| so dass Einseitigkeiten entstehen und wichtige Aspekte und Argumente einfach unter den Tisch fallen. Solche Eigenheiten der paulinischen Briefe sind bei der Auslegung zu berücksichtigen.
2.1.2
Die Paulus zugeschriebenen Briefe
Die anderen sechs Briefe, die unter dem Namen des Paulus überliefert worden sind, wurden nicht von Paulus selbst verfasst, sondern von Autoren späterer Zeiten, die sich die Autorität des Paulus zunutze machten und Briefe in seinem Namen verfassten.
Exkurs
Dieses Phänomen pseudepigrafischer oder deuteronymer Literaturproduktion betrifft nicht nur die Briefe, die im Namen des Paulus verfasst wurden, sondern fast alle Schriften des neutestamentlichen Kanons.53 So sind die Evangelien und die Apostelgeschichte ursprünglich anonyme Schriften gewesen, die erst im Lauf der Überlieferung mit Titeln und entsprechenden fiktiven Verfasserangaben versehen wurden (sekundäre Pseudepigrafie). Dabei tritt der Verfasser des Lukasevangeliums und der Apostelgeschichte durch seine Vorreden (Lk 1,1–4; Apg 1,1 f.) als – wenn auch namenlose – Persönlichkeit hervor. Das Nachtragskapitel des Johannesevangeliums weist das Werk dem «Jünger, den Jesus liebte», zu (Joh 21,24 f.), der in der kirchlichen Überlieferung mit dem Apostel Johannes identifiziert wurde. Dagegen verbleiben das Markus- und Matthäusevangelium vollständig anonym.
Die «katholischen Briefe», zu denen der Jakobusbrief, der erste und zweite Petrusbrief sowie der Judasbrief gerechnet werden, tragen wie die pseudepigrafischen bzw. deuteronymen Paulusbriefe fiktive Verfasserangaben, unterscheiden sich von diesen aber dadurch, dass sie nicht auf «echte» (orthonyme) Briefe der behaupteten Verfasser zurückgreifen können. Sie richten sich auch nicht an eine konkret benannte Gemeinde, sondern an einen allgemeinen, also im Wortsinn «katholischen» Adressatenkreis.
Die drei Johannesbriefe stammen wohl aus einer gemeinsamen johanneischen «Schule» und sind untereinander sowie mit dem Johannesevangelium durch Sprache, Stil und einige Motive verbunden. Während der erste Johannesbrief anonym ist, geben der zweite und dritte Johannesbrief einen nicht namentlich genannten «Presbyter» als Verfasser an (2 Joh 1; 3 Joh 1). Dieser wurde erst im Lauf der Überlieferung mit dem Apostel Johannes gleichgesetzt.
|47| Die «unechten», deuteronymen oder pseudepigrafischen Paulusbriefe (Deuteropaulinen) unterscheiden sich von den echten Paulusbriefen hinsichtlich ihrer Sprache, ihres Umgangs mit Fragen der Lebensgestaltung, ihrer theologischen Positionen und ihres Umgangs mit Andersdenkenden sowie hinsichtlich der vorausgesetzten Situationen. Es wird deutlich, dass die Botschaft des Paulus in veränderter Zeit in neue Fragestellungen und Situationen hinein transformiert und entsprechend aktualisiert wurde. Dies führte zum Teil zu produktiven Weiterentwicklungen. Bisweilen ist aber auch festzustellen, dass restriktive Tendenzen die Oberhand gewannen, dass weniger argumentiert als vielmehr geurteilt wird, und dass manche der paulinischen Aufbrüche domestiziert oder in vergleichsweise enge Schemata gepresst wurden.
2.1.2.1
Die Briefe nach Kolossä und Ephesus
Als eine erste Gruppe deuteropaulinischer Briefe seien die Briefe nach Kolossä (Kol) und Ephesus (Eph) genannt. Beide setzen sich mit der Theologie des Paulus auseinander und schreiben sie fort. Dabei gilt der Kolosserbrief als der wahrscheinlich älteste deuteropaulinische Brief. Er ist einigermassen zeitnah zu Paulus, vielleicht in den 70er Jahren des ersten Jahrhunderts entstanden. Bisweilen wurde vermutet, dass er von einem direkten Paulusschüler verfasst worden sei.
In Stil und Inhalt eng verwandt mit dem Kolosserbrief ist der Epheserbrief. Er setzt den Kolosserbrief voraus, ist also einige Jahre nach diesem, wohl in den 80er oder Anfang der 90er Jahre des ersten Jahrhunderts entstanden und entwickelt den Kolosserbrief in einigen Aspekten weiter. In beiden Fällen scheinen auch die Adressatenangaben fiktiv.54
2.1.2.2
Der zweite Brief nach Thessaloniki
Direkt auf den ersten Thessalonicherbrief, der von Paulus selbst verfasst wurde, bezieht sich der zweite Thessalonicherbrief (2 Thess), indem er ihn in Aufbau und Inhalt an zahlreichen Stellen nachahmt, dabei aber in einigen Aspekten korrigiert. Daher wird er als eine «Selbstauslegung»55 oder auch |48| «fiktive Selbstkorrektur»56 des ersten Thessalonicherbriefs bezeichnet, wobei allerdings unterschiedlich beurteilt wird, ob es sich dabei um eine notwendig gewordene Aktualisierung aufgrund einer sich verändernden Zeit, um eine sachgerechte Kommentierung des ersten Briefs oder um einen Ersatz des ersten durch den zweiten Thessalonicherbrief handeln soll.57 Als Abfassungszeit kommt am ehesten das letzte Drittel des ersten Jahrhunderts in Frage.
2.1.2.3
Die Pastoralbriefe
Als «Pastoralbriefe» bezeichnet man die beiden Briefe an Timotheus sowie den Brief an Titus. Sie wurden bewusst als ein eigenes kleines Briefkorpus – möglicherweise als Abschluss der paulinischen Briefsammlung – komponiert.
Dabei sind der erste Timotheus- und der Titusbrief ihrer Form nach Anweisungen des fiktiven Autors «Paulus» an die fiktiven Gemeindeleiter «Timotheus» bzw. «Titus», wie sie ihre Gemeinden führen und leiten sollen. Der zweite Timotheusbrief ist eine Art fiktives Testament des «Paulus», geschrieben aus der Perspektive der letzten Gefangenschaft des Paulus in Rom.
Diese drei Briefe schreiben weniger die Theologie des Paulus fort, als dass sie um die Bewahrung und Verteidigung der «gesunden Lehre» gegenüber Andersdenkenden bemüht sind. Auch was die Gemeindestrukturen betrifft, sind die Pastoralbriefe stark an einem Ordnungsdenken orientiert, das wenig Raum für charismatische Begabungen lässt. Dazu gehört auch, dass Leitungsämter analog zum antiken Haus nach dem Modell des mit weitgehenden Machtbefugnissen ausgestatteten pater familias konzipiert werden, was zur Folge hat, dass Frauen – im deutlichen Gegensatz zu den ersten Paulusgemeinden – von Leitungsämtern vollständig ausgeschlossen und auf ihre traditionellen Funktionen innerhalb des Hauses festgelegt werden.
Als Entstehungszeit dieser Schriften lässt sich die Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert annehmen. Aufgrund dieses nicht nur zeitlichen Abstands, sondern auch inhaltlichen |49| Unterschieds zu den authentischen Paulusbriefen werden die Pastoralbriefe bisweilen als «Tritopaulinen» bezeichnet.58
2.1.2.4
Bilanz
Diese Briefe, die zwar unter dem Namen des Paulus überliefert wurden, aber – nach dem derzeitigen Erkenntnisstand wissenschaftlicher Exegese – nicht von Paulus selbst stammen, sind ohne Zweifel wertvolle Zeugnisse für frühe Rezeptionen paulinischer Theologie und Gemeindekonzepte. Sie geben Einblicke, wie Paulus gegen Ende des ersten und am Anfang des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts verstanden, ausgelegt und weitergeschrieben wurde. Insofern sind sie höchst interessante Dokumente einerseits für die Wertschätzung des Völkerapostels in vielen Gemeinden und anderseits für seine Weiterschreibung im Sinne einer «fiktiven Selbstauslegung»59. Doch dürfen sie nicht oder nur bedingt als Quellen für das Leben und die Theologie des Paulus selbst herangezogen werden.
2.1.3
Die Apostelgeschichte
Auch die Apostelgeschichte erzählt ungefähr zur Hälfte ihres Umfangs vom Wirken des Paulus. Damit liegt in der Apostelgeschichte also eine einzigartige und zusammenhängende Erzählung über einige Jahre des Lebens und Arbeitens des Paulus vor. Doch ist der historische Quellenwert der Apostelgeschichte im Blick auf Paulus in der wissenschaftlichen Diskussion nicht unumstritten:
2.1.3.1
Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte
Auf der einen Seite stattet der Verfasser des lukanischen Doppelwerks seine Schriften mit einem hohen historiografischen Anspruch aus, indem er sie etwa mit entsprechenden Vorreden versieht (Lk 1,1–4; Apg 1,1 f.), auf sein sorgfältiges Quellenstudium verweist (Lk 1,3), die erzählten Ereignisse mit der Chronologie der Herrschenden synchronisiert (Lk 1,5; 2,1 f.; 3,1 f.) |50| und nicht zuletzt das Ziel der «Zuverlässigkeit» seiner Darstellung postuliert (Lk 1,4).60 Zudem könnten es die in der Apostelgeschichte eingestreuten «Wir»-Berichte61 nahelegen, dass es sich bei dem Werk zumindest zum Teil um einen Augenzeugenbericht handelt, der eine entsprechende historische Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen kann.
Auf der anderen Seite sind nicht wenige Unterschiede gegenüber den authentischen Paulusbriefen zu verzeichnen, sowohl was die Darstellung von Ereignissen und die Zeichnung der Paulusfigur angeht, als auch was theologische Akzentsetzungen betrifft. Zudem wurde die Apostelgeschichte wahrscheinlich um 90 n. Chr., also erst erhebliche Zeit nach dem Tod des Paulus verfasst. So stellt sich schon aufgrund dieser zeitlichen Distanz die Frage, ob eine Augenzeugenschaft des Verfassers überhaupt möglich ist. Auch die inhaltlichen Unterschiede lassen Zweifel daran aufkommen, ob der Verfasser Paulus tatsächlich gekannt haben kann.
Die Frage der historischen Zuverlässigkeit muss aber auch unabhängig von einer Augenzeugenschaft des Paulus diskutiert werden. Schliesslich kann der Verfasser auch aufgrund eines sorgfältigen Quellenstudiums zu einem «zuverlässigen» Werk gekommen sein. Zur Debatte steht also auch, welcher Art und welchen Alters die in der Apostelgeschichte verarbeiteten Quellen sind, welche Freiheiten sich der Verfasser bei der Gestaltung seines Textes gegenüber seinen Quellen nahm und wie er seinen hohen historiografischen Anspruch selbst verstand und realisierte.
2.1.3.2
Die «Wir»-Berichte der Apostelgeschichte: Lukas als Augenzeuge?
Beginnen wir unsere Sondierungen mit der Frage der Augenzeugenschaft des Verfassers. Welcher Stellenwert kommt dabei den «Wir»-Berichten, «Wir»-Stücken oder auch «Wir»-Passagen im Verlauf der Apostelgeschichte zu, und inwiefern qualifizieren sie den Verfasser als einen tatsächlichen Begleiter des Paulus und damit als einen Augenzeugen der Geschehnisse?
|51| Die Überzeugung, dass der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes der in den paulinischen Schriften erwähnte Begleiter des Paulus namens Lukas sei, ist seit Irenäus von Lyon (um 180 n. Chr.) belegt:
«Und Lukas, der Begleiter des Paulus, legte in seinem Buch das von diesem gepredigte Evangelium nieder.»62
Dieser Lukas wird in den Schlussgrüssen des (authentischen) Philemonbriefes als «Mitarbeiter» erwähnt, der sich gerade bei Paulus aufhalte (Phlm 24). Der deuteropaulinische Kolosserbrief bezeichnet den Paulusbegleiter Lukas als Arzt (Kol 4,14), und nach dem ebenfalls nicht von Paulus stammenden zweiten Timotheusbrief war Lukas der letzte Begleiter des Paulus in der römischen Gefangenschaft (2 Tim 4,11). Diese Angaben werden im Kanon Muratori, einem Verzeichnis von Schriften in kirchlichem Gebrauch (um 200 n. Chr.), mit dem Verfasser des Evangeliums in Verbindung gebracht, der wiederum – zu Recht – als identisch mit dem Verfasser der Apostelgeschichte angesehen wurde.
Zu der Annahme, dass der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes ein Begleiter des Paulus gewesen sein müsse, trugen in nicht geringem Masse auch die oben erwähnten «Wir»-Berichte der Apostelgeschichte bei, in denen man die Stimme dieses Begleiters zu vernehmen glaubte. Dabei handelt es sich um Erzählpassagen, die im Verlauf der Apostelgeschichte den Erzählfaden unterbrechen, der über die Reisen des Paulus und seiner Begleiter in der dritten Person spricht, und in die erste Person («wir») im Stil eines Augenzeugenberichts wechseln. Diese «Wir»-Stücke setzen während der zweiten Missionsreise mit dem Übergang von Troas nach Makedonien (Apg 16,10–17) ein, begegnen sodann wieder auf der Reise von Philippi über Troas, Milet, Tyrus und Cäsarea Maritima nach Jerusalem (Apg 20,5–8.13–15; 21,1–18) und enden mit der Romreise des Paulus, die er nach seiner Appellation an den Kaiser als Gefangener antritt (Apg 27; 28,1–16).
Da diese Stücke sprachlich und stilistisch mit den übrigen Teilen der Apostelgeschichte übereinstimmen und auch keine |52| inhaltlichen Spannungen zu diesen aufweisen, können sie nicht einfach dadurch erklärt werden, dass der Verfasser mit den «Wir»-Passagen einen Augenzeugenbericht als Quelle verarbeitet hat. Entgegen eines weitgehenden wissenschaftlichen Konsenses der letzten Jahrzehnte, der eine Augenzeugenschaft des Lukas wegen der inhaltlichen Differenzen und der zeitlichen Distanz nicht für wahrscheinlich hielt, ist deshalb in jüngerer Zeit die Diskussion um eine mögliche Augenzeugenschaft des Lukas wieder neu entflammt.63
2.1.3.3
Unterschiede zwischen der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen
Doch sprechen auch gewichtige Gründe dagegen, dass der Verfasser der Apostelgeschichte ein Paulusbegleiter und Augenzeuge eines Teils der Paulusreisen war. So werden wichtige Ereignisse aus dem Wirken des Paulus in der Apostelgeschichte anders dargestellt als bei Paulus selbst. Zum Beispiel betont die Apostelgeschichte die Akzeptanz des Aposteldekrets samt den Jakobusklauseln durch Paulus und seine Übereinstimmung mit Petrus und Jakobus (Apg 15,28 f.). Demgegenüber hält Paulus ausdrücklich fest, ihm sei über die Kollekte für Jerusalem hinaus «nichts auferlegt worden» (Gal 2,6). Zugleich betont er seine Unabhängigkeit von Jerusalem und vom Zwölferkreis, während die Apostelgeschichte die Verbundenheit unterstreicht. Die Apostelgeschichte erzählt auch nichts über die Kollekte – zumindest nicht in einer Weise, dass es mit der Interpretation der Kollekte durch Paulus selbst in Deckung zu bringen wäre.64 Für Paulus selbst war die Kollekte nach allem, was seine Briefe zu erkennen geben, von enormer Bedeutung, und er verstand sie als das entscheidende Zeichen seiner Verbundenheit mit der Jerusalemer Gemeinde (Röm 15,25–28; 1 Kor 16,1–4; 2 Kor 8–9; Gal 2,10).
Generell wird Paulus in der Apostelgeschichte in einigen Aspekten anders gezeichnet als es die paulinischen Briefe selbst zum Ausdruck bringen. So wird Paulus in der Apostelgeschichte nur an einer einzigen Stelle (Apg 14,4 f.14) als |53| Apostel bezeichnet, wohingegen der Aposteltitel ansonsten auf den Zwölferkreis begrenzt wird.65 Für das Selbstverständnis des Paulus ist – nach dem Zeugnis seiner Briefe – der Aposteltitel jedoch von grösster Bedeutung. Paulus führt sein Apostelsein auf seine Christusvision und die damit verbundene Beauftragung durch den Auferstandenen selbst zurück und stützt den Aposteltitel auch durch seine gemeindegründende Arbeit (1 Kor 9,1 f.).
Nach der Apostelgeschichte besitzt Paulus sowohl das römische Bürgerrecht (Apg 16,37 f.; 22,25 ff.; 23,27) wie auch das Bürgerrecht der kleinasiatischen Stadt Tarsus (Apg 21,39). Beides wird in den Briefen des Paulus nicht erwähnt. Überhaupt wird der Paulus der Apostelgeschichte als eine herausragende und in vielerlei Hinsicht idealisierte Gestalt und Angehöriger einer gesellschaftlichen Elite gezeichnet. Von der harten Arbeit und den Strapazen, von denen die paulinischen Briefe durchaus sprechen, ist dabei ebenso wenig die Rede wie von Hunger und Durst, mangelhafter Kleidung oder der Krankheit des Paulus (1 Thess 2,9; 2 Kor 1,8; 11,23–29; 12,7–10).
Auch in theologischer Hinsicht sind Unterschiede zwischen der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen zu verzeichnen. So gibt die Apostelgeschichte nicht zu erkennen, dass sie um die Briefe des Paulus weiss, und zentrale paulinische Themen wie die Kreuzestheologie oder die Rechtfertigungslehre spielen in der Apostelgeschichte kaum eine Rolle.