Kitabı oku: «Im wilden Balkan», sayfa 5
Während meines Aufenthaltes hierselbst fiel ein schlimmes Missgeschick auf die Einwohner und beschäftigte alle Zungen und Gedanken, fast so viel wie das Protokoll im Süden1. Dies war nämlich ein Firman, welcher Kontributionen ausschrieb, um die Kriegsentschädigung an Russland zu beschaffen. Der Bezirk, zu dem Babá gehörte, war mit einer halben Million Piaster angesetzt. Da aber diese Ausschreibung ausschließlich auf islamische Grundeigentümer in wohlhabender Lage fallen sollte, so verursachte sie eine mit Worten nicht zu beschreibende Entrüstung. Der Betrag der Summe war ganz unbedeutend im Verhältnis zum Grundeigentum des Landes, aber wenigstens drei Vierteile dieses Grundeigentums waren griechisch, und von dem Rest war wirklich nur ein kleiner Teil im Besitz von Eigentümern, die man zu den Steuerpflichtigen zählen konnte. Die Koniarbewohner2 der Ebene sind allesamt kleine Eigentümer, aber ihr Eigentum war, jedes einzeln genommen, unter dem Betrag, der sie der Abgabe unterworfen hätte. Die natürliche Folge war, dass die angesehenen Leute an ihrem Geldbeutel hart angegriffen wurden und am erbittertsten darüber waren, dass sie es als eine Ungerechtigkeit in der Verteilung der Taxe ansahen. In Babá gab die Sache Anlass zu mancher heftigen Verhandlung, und die Türken schalten den Sultan einen Griechen. Die türkische Bevölkerung trägt ausschließlich die Kriegslasten, sie sind der Konskription unterworfen, die Griechen nicht. Wenn die Griechen Kriegsdienste nehmen, so geschieht es aus freier Wahl und dann, außer der Befreiung von der Kopfsteuer, die für den Kriegsdienst gerechnet wird, erhalten sie obendrein Gold, während die Türken nur besoldet werden, wenn sie in den regulären Dienst treten. Um dieselbe Zeit erschien überdies eine Ausschreibung von 1200 jungen Leuten für den Nizzam (das reguläre Militär). Das war der erste Versuch einer Konskription und erzeugte allgemeinen Unmut. Die Türken beklagten sich bitter darüber, erstens als über einen Akt des Despotismus, den sie für unerträglich hielten, und zweitens, weil die Griechen von diesem Aufruf frei blieben, wodurch er um so schwerer auf die Türken fiel. Zu allem Übermaß kam nun noch die Kontribution zur Entschädigung an Russland, die die Griechen nicht zu bezahlen brauchten, obgleich sie wie die Türken behaupteten, die Ursache des Krieges und des russischen Sieges gewesen zu sein.
1 Der Mönchspfeffer, der u. a. auch zur Senkung der sexuellen Libido verwendet wurde. Urquhart spielt nicht nur hier gerade auf diesen Gebrauch an [Red.],
1 Hinweis auf ein Derwisch-Kloster, das sich in Babá befand [Red.].
2 Antike Stadt am Eingang der thessalischen Ebene. Dort nahm der Weg nach Epiros seinen Anfang [Red.].
1 Baumgeister der altgriechischen Mythologie [Red.].
2 Altgriechische Fluss- und Gewässergeister [Red.].
1 Eine Schüssel Dick- oder Sauermilch und das klassische balkanische Reisgericht [Red.].
1 Dieses türkische Wort ist hier im Sinn von „Gastgeschenke“ zu verstehen [Red.].
1 Hier ein anderer Begriff für die Bewohner Albaniens [Red.].
2 Anspielung auf einen Roman Moriers, der die Abenteuer eines persischen Bilblas erzählt, den er Hadschi Babá nennt. Hadschi bedeutet übrigens einen Pilger, der die heiligen Orte besucht hat, wie weiter unten im zwölften Kapitel vorkommen wird [Anm. d. Übers.].
3 Die Bewohner von Babá hängen ein Stück Brot so auf, dass es eben den Strom berührt. Die kleinen Fische sammeln sich umher, um daran zu picken, und größere Fische machen dann Jagd auf die kleinen. Der Jäger sitzt im Baum, das Gewehr auf die Stelle gerichtet. Seine Kunst besteht darin, den Weg des großen Fisches hinlänglich zu kennen, um ihn in dem Augenblick zu treffen, in dem er ein Maul voll Elritzen packt.
1 Urquhart wiederholte hier seine grundsätzliche Kritik am sogenannten Londoner Protokoll vom 3. Februar 1830, in dem die bis 1922 bestehende Teilung Griechenlands vereinbart worden war [Red.].
2 Hier Bewohner der landwirtschaftlichen Güter, also der Konaks [Red.].
VIERTES KAPITEL
GEGENSÄTZE ZWISCHEN ENGLAND UND DER TÜRKEI
Die auffallende Veränderung im Verhalten der Bewohner von Babá mir gegenüber, nachdem ich eine blaue Jacke mit einem Schlafrock vertauscht hatte, einen Strohhut mit einer roten Mütze und schwarze Stiefel mit gelben Pantoffeln, führte mich zu manchen Betrachtungen über die gewichtigen Prinzipien, die in der Verteilung langer Kleider und des Kalbsleders liegen. Ich hatte lange schon den Eindruck, dass die Würde eines Europäers verloren wäre, wenn er sich über den Einfluss der gesteiften Wäsche und der Schuhwichse hinwegsetzt. Seine Kleidung ist nicht geeignet, den Elementen zu trotzen; der viereckige Zuschnitt seiner engen Kleider ist nicht dazu gemacht, sich in einen Mantel zu hüllen und sich darin bei Nacht niederzulegen. Die Bequemlichkeit und Schicklichkeit, Nacken, Arme und Beine zu entblößen, die Leichtigkeit, sie zu waschen, ohne sich dabei ausziehen zu müssen, der Halt eines engen Gürtels rund um die Taille, die Freiheit jedes anderen Körperteils von allem Zwang, das sind Vorteile, von denen das fränkische Kostüm gar nichts weiß, in denen aber gerade der Vorteil jedweder Bekleidung liegt.
Das waren hinreichende Gründe, um die Snuffers beiseitezulegen, wie der fränkische Anzug dort bezeichnend genannt wird, und der mir in Babá begegnete Vorfall brachte mich auf die Vermutung, dass mit der Veränderung noch größere Vorteile verknüpft seien als die bloße Fähigkeit, anständig ohne Amidam1 und sauber ohne Schuhwichse zu sein, und so kam ich dazu, eine Menge von Gegensätzen zwischen den Sitten des Morgen- und Abendlandes zu bemerken, die ich nicht alle mit Stillschweigen übergehen kann.
Es gibt Mitglieder der menschlichen Gesellschaft, die unter den abendländischen Völkern verknechtet, entwürdigt und erniedrigt sind, während sie im ganzen Orient einen Grad von Bequemlichkeit und Unabhängigkeit genießen, der eine Satire auf unsere sogenannten freien Institutionen ist. Inwiefern diese Glieder der Gesellschaft, deren Interesse ich verfechte, Beachtung verdienen, mag man daraus entnehmen, dass die Anzahl dieser Bedrückten dem Doppelten der anderen Mitglieder der Gesellschaft sehr nahekommt, die man Köpfe nennt: Ich meine nämlich die Füße. Es ist überflüssig, mich über die Strenge der unseren Füßen auferlegten Maßregeln auszulassen, weil jeder weiß und fühlt, wo ihn der Schuh drückt. In schwarze Formen gezwängt, sind sie der gemeinsamen Vorteile der Luft und oft des Wassers beraubt, und es wird ihnen nie gestattet, sich über den niedrigsten Grad des Daseins zu erheben. Weil wir aber mit diesem Zustand der Entwürdigung und des Leidens durch die Gewohnheit vertraut sind und keinen anderen Zustand der Dinge kennen, bilden wir uns ein, diese Entwürdigung sei notwendig, dieses Leiden unvermeidlich. Wie verschieden ist aber die Lage der Füße im Orient. Zu völlig gleichen Rechten mit ihren Bruderhänden zugelassen, nehmen sie auch einen gleichen Anteil Pflichten auf sich. Kein Sinn wird durch ihre Gegenwart verletzt, kein Widerwille durch ihren Anblick erregt; sie werden mit Achtung auf das Sofa des Großen gelegt oder gehen geschickt mit den Werkzeugen in des Arbeitenden Werkstätte um – und zwar im vollen Genuss des Lichtes, der Luft und des Wassers, Stiefel und Schuhe benutzend statt von ihnen benutzt zu werden. So bewahren sie den ursprünglichen Zweck dieser Einrichtungen, die gleich so vielen anderen von der Not erzeugt und Verwandte des Despotismus geworden sind. Hören wir davon, dass einem orientalischen Monarchen die Füße geküsst werden, welche falschen Ideen bieten sich dann nicht uns dar, nicht nur über die menschliche Natur, sondern auch über die Fußart. Wir denken uns unter dem Begrüßenden ein verworfenes Wesen, das den verworfenen und widerlichen Sklaven küsst, den wir im Stiefel schleppen und einen Fuß nennen. Aber der Fuß, wie er im Morgenland existiert, ist ein ebenso wertvolles wie nützliches Glied, wird zu einem gewissen Rang erhöht, mit Sorgfalt gepflegt und im zierlichen Wohlsein erhalten – simplex munditiis (einfach in seiner Schlichtheit).1
Dort erfreut sich der Fuß des Daseins in einem Halbstiefel, der in Gemeinschaft mit der Kopfbedeckung, und wie in den Tagen der Größe Roms, die Grundeigenschaft des Mannes bezeichnet. Wenn die festliche Henna ihre Farben den rosigen Fingern mitteilt, verschmäht sie es nicht, die Zehen mit ihrem Purpur zu schmücken, und die listige Kokette, der Allgewalt eines hübschen Fußes bewusst, erweckt Aufmerksamkeit, indem sie den Nagel der dritten Zehe ebenso färbt wie den des dritten Fingers.
Kein Wunder, dass der verkrümmte und unanständige Fuß des Abendländers den Abscheu fürchtet, den seine Gegenwart erregen würde, und sich scheut, seine abschreckenden Formen zu zeigen. Eingeschlossen, eingesperrt, eingezwängt, verkümmert seine Natur, wie sein Geschick, seines natürlichen Rechtes entäußert. Wie seines schönen Ebenmaßes beraubt, verlangt er die schützende Hülle des Kalbsleders für seine verkrüppelten Zehen, während äußere Zierlichkeit und Glanz die hilflos Eingesperrten für die Marter der Hühneraugen und die Qualen der Gicht entschädigen müssen.
Dieser Gegensatz zwischen den Gewohnheiten des Ostens und Westens im Blick auf einen solchen Grundbestandteil der Gesellschaft ist nicht der einzige Kontrast, dessen Beobachtung der Mühe wert, dessen Vergleichung höchst lehrreich ist. Ich will noch ein paar Proben hinzufügen, die als Kern dienen mögen zu einem Museum gesellschaftlicher Erscheinungen im Okzident und Orient. Wollten Reisende anfangen Proben zu sammeln, so könnten wir Daten erhalten, um einen künftigen Linné der Sitten anzuleiten, die Abarten zu klassifizieren, die Kennzeichen dieser beiden großen menschlichen Genera zu ordnen und zu bestimmen.
GEGENSÄTZE
Europäer erhalten durch das Legen des Grundsteins die Erinnerung, Türken feiern die Errichtung des Daches.
Bei den Türken ist der Bart ein Zeichen der Würde, bei uns der Vernachlässigung.
Den Kopf zu rasieren ist bei ihnen allgemein üblich, bei uns hingegen Zeichen der Strafe.
Wir ziehen vor unserem Souverän die Handschuhe aus, sie bedecken ihre Hände mit den Ärmeln.
Wir treten in ein Zimmer mit entblößtem Haupt, sie mit entblößten Füßen.
Bei ihnen tragen die Männer den Nacken und die Arme entblößt, bei uns die Frauen.
Bei uns kleiden sich die Frauen in helle Farben, die Männer in dunkle; bei ihnen ist es in beiden Fällen umgekehrt.
Bei uns liebäugeln die Männer mit den Frauen, in der Türkei die Frauen mit den Männern.
Bei uns blickt die Dame schüchtern und verschämt, in der Türkei tut es der gebildete Mann.
In Europa kann eine Dame einen Herrn nicht besuchen, wohl aber in der Türkei. Dort kann der Herr eine Dame nicht besuchen, wohl aber in Europa.
Dort tragen die Damen immer Beinkleider und die Herren zuweilen Unterröcke.
Bei uns ist die rote Mütze das Zeichen der Frechheit, bei ihnen der Hut.
In unseren Zimmern ist die Decke weiß, und die Wände sind bemalt; bei ihnen sind die Wände weiß, und die Decke ist bemalt.
In der Türkei gibt es Abstufungen des gesellschaftlichen Ranges ohne Vorrechte, in England gibt es Vorrechte ohne entsprechende gesellschaftliche Unterscheidungen.
Bei uns überwiegen gesellschaftliche Formen und Etikette die häuslichen Bande, bei ihnen überwiegt die Etikette der Verwandtschaft die der Gesellschaft.
Bei uns wendet sich der Schullehrer an das Ansehen des Vaters; bei ihnen muss der Vater sich an die höhere Autorität und Verantwortlichkeit des Schullehrers wenden.
Bei uns wird ein Schüler dadurch bestraft, dass man ihn in die Kapelle schickt; bei ihnen wird ein Schüler durch Ausschließung von der Moschee bestraft.
Ihre Kinder betragen sich wie Männer, unsere Männer hingegen wie Kinder.
Bei uns fragen die Herrschaften den Dienstboten nach; in der Türkei die Dienstboten den Herrschaften.1
Wir halten das Tanzen für ein artiges Vergnügen, sie für eine unanständige Beschäftigung.
In der Türkei beschränkt die Religion die Auferlegung bürgerlicher Abgaben, in England legt die Regierung gerade wegen der Religion Steuern auf.
In England fordert die Staatsreligion Abgaben von den Sektierern, in der Türkei schützt die Staatsreligion das Eigentum der Sektierer vor staatlichen Abgaben.
Einen Engländer wird erstaunen, dass es der Türkei an dem fehlt, was er öffentliche Kredite nennt; der Türke erschrickt vor unserer Nationalschuld.
Der Engländer wird den Türken verachten, weil er keine Einrichtung hat, den Geldwechsel zu erleichtern; der Türke wird mit Bestürzung bemerken, dass es in England Gesetze gibt, welche den freien Handel verhindern.
Der Türke wird sich wundern, wie eine Regierung trotz unterschiedlicher Meinungen geführt werden kann; der Engländer wird nicht glauben, dass ohne Opposition Unabhängigkeit bestehen könne.
In der Türkei kann Unruhe entstehen ohne Unzufriedenheit, in England besteht Unzufriedenheit ohne Unruhe.
Ein Europäer wird die Justiz in der Türkei für mangelhaft halten; ein Türke wird in Europa die Grundsätze des Gesetzes für ungerecht halten.
Ein Europäer wird in der Türkei das Eigentum für nicht sicher vor dem gewaltsamen Zugriff halten, ein Türke das Eigentum in England für nicht sicher gegenüber dem Gesetz.
Der Erstere wird sich wundern, wie das Gesetz ohne Juristen gehandhabt werden könne; der Letztere wird sich wundern, wie man mit Juristen überhaupt Gerechtigkeit erhalten könne.
Der Erstere wird erschreckt werden über den Mangel einer Kontrollinstanz gegenüber der Zentralregierung; den Letzteren wird das Fehlen einer Kontrollinstanz gegenüber der lokalen Verwaltung bestürzen.
Wir können nicht begreifen, dass eine Unabänderlichkeit allgemeiner Staatsgrundsätze dem Wohlbefinden zuträglich wäre; die Türken können nicht begreifen, dass das Gute und Rechte der Abänderung fähig sei.
Der Engländer wird den Türken für unglücklich halten, weil er keine öffentlichen Vergnügungen hat; der Türke wird den für einen unglücklichen Menschen halten, der Vergnügungen außerhalb des Hauses bedarf.
Der Engländer wird den Türken für geschmacklos erachten, weil er keine Gemälde hat; der Türke wird den Engländer für gefühllos halten, weil er die Natur nicht achtet.
Dem Türken graut vor Liederlichkeit und unehelichen Kindern, dem Engländer vor Vielweiberei.
Den Ersteren wird unsere hochmütige Behandlung Untergebener anwidern, den Letzteren wird der Sklavenhandel empören.
Sie werden sich gegenseitig religiös-fanatisch schelten – moralisch-ausschweifend – unsauber in Kleidern – unglücklich in der Entwicklung ihrer Sympathien und ihren Geschmacks – politische Freiheit verschiedentlich entbehren – jeder wird den anderen für unpassend in guter Gesellschaft halten.
Der Europäer wird den Türken für prunkhaft und heimtückisch erklären, der Türke den Europäer für albern und gemein.
Man kann sich daher denken, wie interessant, freundschaftlich und übereinstimmend der Verkehr zwischen beiden sein muss. Der Beobachter, der in neutraler Stellung diese gegenseitigen Beschuldigungen hört, wird vielleicht daraus schließen, dass, wenn Menschen herb über ihre Mitmenschen aburteilen, sie von zehn Malen neun Mal Unrecht haben.
Es liegt viel Komisches, auch wirklich nicht weniger Ernsthaftes in den erhaltenen Eindrücken und den gezogenen Schlüssen, wenn Bewohner dieser verschiedenartigen Kreise des Daseins einander besuchen. Europäische Reisende sind in Europa nur mit der Gesellschaft in Berührung gekommen, die von ihren Zinsen lebt, und nun, im Orient, werden sie von dieser Gesellschaft ausgeschlossen und als Untergeordnete von oben herab angesehen; man lässt sie sich behelfen, so gut sie können, und Vergleiche anstellen. Asiaten der niederen Stände, die Europa besuchen, sind der Regel nach betroffen und empört von der Rohheit und Unanständigkeit, dem Schmutz und dem Hang zum Trinken und Spielen, die sie unter Leuten ihres Standes finden, und werden schmerzlich betroffen von der strengen Scheidelinie zwischen ihnen und den Höheren. Asiaten höheren Ranges richten ihre Gedanken mehr auf Heeres- und Seemacht, auf ihren wissenschaftlichen Fortschritt, und kehren in der Regel als deren enthusiastische Bewunderer zurück. Der Europäer aber kommt in der Regel mit den abendländischen Gewohnheiten neuerer Zeiten, das heißt, mit Ansichten und Meinungen über Gegenstände. Ich möchte glauben, dass dies die größte Veränderung sei, die im gegenwärtigen Zustand der Welt einem Sokrates oder einem Aristipp auffallen würde, könnten sie aus dem Hades wieder auferstehen. Ein Mensch, der Meinungen über alle Gegenstände hat, ist das fürchterlichste Tier, das man auf die Gesellschaft loslassen kann, wenn seine Schlussfolgerungen materielle Folgen nach sich ziehen.
Wie kann man aber erwarten, dass zwei Engländer auch nur über einen einzigen Gegenstand dieselbe Meinung haben? Ja, wo ist ein Engländer zu finden, der die Unfehlbarkeit seiner eigenen Meinung bezweifelt, oder derjenige, der sich in politischen Angelegenheiten nicht als Orakel seiner Sekte oder seiner Partei ansieht? Die Reisenden aus Großbritannien sind die alten Engländer nicht mehr; sie sind nur Whigs, Tories und Radikale1. Die im Vorhinein festgesetzten Meinungen eines Engländers also, der den Orient besucht, werden zu Hindernissen an seiner Erforschung des besuchten Landes oder zur Ursache dafür, die Tatsachen, die er sieht, falsch aufzufassen. Und das ist so wahr, dass jeder, der in solchen Nachforschungen einige Fortschritte gemacht hat, seine Parteilichkeit mehr und mehr ablegt und fühlt, dass er seine Nachforschungen über Menschen, Sitten und Einrichtungen ganz von Neuem beginnen muss.
Wenn ein Reisender aus fernen Landen in England ankommt und Englands Meinung zu erfahren wünscht über Chemie, Astronomie, Mechanik oder Geologie, so wendet er sich an Faraday, Herschel, Babbage und Buckland2, und jeder Engländer, jeder Europäer wird ihm sagen, er könne keinen besseren Weg einschlagen. Aber nehmen wir an, er wünsche zu wissen, was unsere fortschrittlichsten Meinungen seien über die unermesslich wichtige Wissenschaft der Politik, an wen soll er sich wenden? Sagen wir: an Sir Robert Peel1 – wird ihm nicht die erste Person, mit der er in Berührung kommt, wahrscheinlich erzählen, er hätte sich gerade die dazu am allerwenigsten geeignete Person ausgesucht, und um ihm richtige Begriffe beizubringen, müsste er zu Lord Grey2 gehen? Der nächste wird ihn in gleicher Weise vor beiden warnen und ihm erzählen, Herr Roebuck3 sei die einzig wahre Fundgrube politischer Weisheit! Ist denn aber die Politik des Titels einer Wissenschaft weniger würdig als Geologie, Chemie oder Mechanik?
Glücklicherweise besitzt die Wissenschaft heutzutage Kennzeichen, die dem Forschergeist erkennbar sind, so unwissend dieser auch in dem Gegenstand sein mag, mit dem die Wissenschaft sich beschäftigt, und ohne solche Kennzeichen besteht keine Wissenschaft. Als die Werner’sche und die Hutton’sche Schule4 sich jeden Felsen und jede Schicht bestritten, fühlte man da nicht allgemein, dass die Geologie nicht auf feste Prinzipien gegründet sei? Kaum aber waren die angenommenen Gegensätze vereinigt, kaum hatte man herausgefunden, dass eine gemeinsame Theorie sich auf die bis dahin für widersprüchlich gehaltenen Tatsachen anwenden ließe, so rief jeder Student: Nun ist die Geologie eine Wissenschaft!
Es ist das Kennzeichen der Wissenschaft, dass sie durch die Klassifikation den folgenden Tatsachen die Bedeutung verleiht, wie die Grammatik den Worten; und so wie Verständlichkeit der Sprache die Beachtung der grammatikalischen Regeln bezeugt, so bezeugt das gemeinsame Verständnis der Tatsachen das Wissen derselben, das weit genug gefasst ist, um genau zu sein, und das eben ist die Wissenschaft. Dann, und nur dann, hören die Schüler auf zu zweifeln und die Lehrer sich zu streiten.
Die Politik ist noch keine Wissenschaft, weil sie dieser Kennzeichen entbehrt, entweder aus Mangel an beobachteten Tatsachen oder aus Mangel an einem einer so großen Aufgabe gewachsenen Geist bei denjenigen, die die Tatsachen beobachteten. Wie wichtig ist es demnach, ein neues Feld politischer Forschung zu finden und neue Folgen aus Tatsachen, die getrennt bleiben von früheren ideologischen Vorstellungen und somit den Geist dazu bringen, durch die Beobachtung derselben seine vorgefassten Überzeugungen zu revidieren und zu berichtigen. Die Türkei bietet ein solches Feld, und gerade ihre Schwäche und ihre Krämpfe erleichtern die Anatomie der Teile, wie die Krankheit des Patienten das Urteil über die Gesundheit erleichtert und wirklich nur möglich macht und die Mittel aufdeckt, wodurch sie wieder herzustellen ist.
Kehren wir zu dem europäischen Reisenden zurück. Angelangt mitten unter Gewohnheiten und Einrichtungen, die von denen seines Vaterlandes so völlig verschieden sind, und natürlich unmittelbar von all den Dingen betroffen, die schlechter und niedriger sind als daheim, mag nun diese Schlechtigkeit in der Wirklichkeit oder nur in seiner vorgefassten Meinung von Vortrefflichkeit beruhen, kehren seine Augen natürlich heimwärts zurück, mit einem Gefühl der Zufriedenheit und des Frohlockens, und vom Standpunkt aus, auf dem er steht, von dem sich kleinere Gegenstände verwirren oder verlieren, erhält er eine umfassendere Ansicht, als er vermutlich früher hatte, von den Elementen der Größe seines Vaterlandes. Er rechnet diese ersten Grundsätze einen nach dem andern auf, und dann beginnt er, jeden auf das Land anzuwenden, in dem er sich gerade befindet.
Vielleicht schätzt er zuerst an England die Regierungsform, die geregelte Beschaffenheit der höchsten Gewalt und die geordnete Kontrolle über ihre Ausübung. Eine durch die Achtung der Nation, nicht durch die Privilegien mächtige Aristokratie; eine Vertretung der Ansichten und der Interessen der Masse des Volkes, nicht weniger schätzbar in ihren Grundsätzen als in ihrem Wirken, die ein Feld der Auszeichnung und des Ehrgeizes denen öffnet, die sich die Achtung ihrer Mitbürger zu verschaffen wissen. Dann wird er auf die Rechtspflege blicken und Richter bemerken, die über jeden Verdacht erhaben sind, Geschworene ohne Menschenfurcht, das Gesetz über dem Reichtum und der Macht, den Bürger in seinen Rechten gegen seine Regierung geschützt. Dann wendet er sich zu den praktischen Mitteln der Stärke und des Fortschritts: ein ungeheures Einkommen zur Verfügung des Staates; ein mit den höchsten Anstrebungen nach Nationalehre erfülltes Heer, vollkommen in seiner Manneszucht und Achtung gebietend durch seine Zahl; eine Seemacht, die erste an Charakter und Macht; innere Mittel zur Kommunikation, der größten Stütze des nationalen Gedeihens, gesichert durch ein unvergleichliches System von Wegen, Kanälen und Eisenbahnen; ein Banksystem, welches das Kapital mit der größten Leichtigkeit in Umlauf setzt; überall die Presse und die Post in beständiger Tätigkeit, wodurch die Anhäufung der Kenntnis und Belehrung ebenso leicht und ebenso vollständig wird wie der Umlauf materieller Gegenstände und des Kapitals. Dies alles wird ihm als die Grundlage von Englands Größe auffallen, und da er fühlt, England müsste von seinem Rang unter den Völkern herabsteigen, würde es dieser Dinge beraubt, so muss er sie als notwendige Bedingungen des Wohlseins oder des Bestehens eines jeden anderen Staates erachten.
Er wird aber nun feststellen, dass sie in der Türkei nicht vorhanden sind. Er wird, soweit seine Mittel zum Urteilen ausreichen, die Macht des Sultans unbeschränkt finden; er wird keine dauernde Aristokratie, keine das Volk vertretende Kammer, keine Juristen, keine Geschworenen sehen; ein spärliches dem Staat zukommendes Einkommen und sehr große Missbräuche bei dessen Erhebung; kein stehendes Heer, oder doch höchstens nur ein unbedeutendes und erst jüngst ausgehobenes, mangelhaft in seiner Zucht und in seinem Geist; er wird die größte Schwierigkeit in den Mitteln des Binnentransportes bemerken; kein etabliertes Bankensystem zum Umlauf des Kapitals, keine Post, keine Presse, keine wohltätige Fürsorge für die Armen, und demgemäß wird er die Türkei zu einer Nation im Zustand des Verfalls und ihrer Auflösung entgegengehend erklären.
Sollten aber Umstände ihn zu näherer Bekanntschaft mit dem materiellen Befinden dieses Volkes führen, so wird er bemerken, dass manche, und zwar die wesentlichsten Gegenstände, auf welche unsere eigenen Einrichtungen hinzielen, auch dort in einem beachtenswerten Maß ins Leben getreten sind, und oft in viel größerer Ausdehnung als bei uns zu Hause. Er wird einen Überfluss der Notwendigkeiten und Annehmlichkeiten des Lebens im Bereich der ganzen Masse der Bevölkerung erblicken. Auffallen wird ihm das Fehlen der Armut, der Prozesssucht und des Verbrechens, und vor allem wird er das Fehlen des Parteigeistes und der politischen Feindseligkeit bemerken, und die allgemeine Gewohnheit, einer Regierung zu gehorchen, die in seinen Augen keines jener Kennzeichen besitzt, die eine Regierung achtungswürdig machen, und die obendrein nicht einmal über die Mittel verfügt, ihrem Willen Kraft zu verleihen. Er wird ungeachtet des Mangels aller Strukturen zur Erleichterung des Transportes, einer volksvertretenden Kammer, um über die Handelsinteressen zu wachen, und von Gesetzen zum Schutz der einheimischen Industrie dennoch eine Leichtigkeit in allen Handelsgeschäften bemerken, die demjenigen unbegreiflich ist, der das nationale Gedeihen an gewisse Regierungsformen knüpft, an Spezial-Departments und Ausschüsse und an tausend Bögen voll von Verordnungen. Die Schlussfolgerung ist, dass in der Türkei andere Elemente des politischen und wirtschaftlichen Erfolgs bestehen müssen als diejenigen, worauf Englands Erfolg beruht, und folglich, dass Englands oder irgendeines anderen Landes oder Systems Erfahrung nicht ausreicht, die Gesetze zu bestimmen, welche die menschliche Gesellschaft beherrschen. Da er aber nichts gesehen hat, was die Wichtigkeit der oben angedeuteten Grundlagen von Englands Größe verringern könnte, so muss er folgern, dass mit Vorteilen, welche die Türkei nicht besitzt, England an Übeln leidet, welche die Türkei nicht kennt. Er wird deshalb auf den Punkt zurückgeführt werden, von dem er hätte ausgehen sollen: dass nämlich vieles zu lernen ist; dass die Dogmen der Parteien, dass die Meinungen der Politiker noch nicht unfehlbar sind, und dass der menschliche Geist selbst für den Staatsmann ein wichtigeres Studium ist als Regierungsformen.
1 Wäschestärke [Red.].
1 Anspielung auf Horaz, Carmina I 5 – und damit auf ein bekanntes Gedicht des englischen Dramatikers und Lyrikers Ben Jonson (1572–1637) [Red.].
1 Das kommt von der türkischen Gewohnheit her, die Dienstboten durch gelegentliche Geschenke, aber nicht durch festen Lohn zu bezahlen.
1 Whigs und Tories waren vom Ende 17. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts als Land- bzw. Hofpartei die beiden wichtigsten, politisch meinungsbildenden Gruppierungen in England. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand außerdem die Partei der Radikalen, der eher die Mittelschicht angehörte und die Interessen der Handwerker und Arbeiter vertrat. Im Jahr 1859 gründeten Whigs und Radikale die Liberale Partei [Red.].
2 Der Chemiker und Physiker Michael Faraday (1791–1867), der aus Hannover stammende Astronom Friedrich Wilhelm Herschel (1738–1822), der Mathematiker, Mechaniker und Nationalökonom Charles Babbage (1791–1871), der Geologe William Buckland (1784–1856) galten als die führenden Fachvertreter ihrer Zeit [Red.].
1 Der Tory Sir Robert Peel (1788–1850) gehört zu Urquharts Lebzeiten zu den einflussreichsten Politikern bzw. politischen Reformern Englands [Red.].
2 Lord Charles Grey (1764–1845), der eher liberale Grundsätze vertrat und sich beispielsweise für die Abschaffung des Sklavenhandels einsetzte, war einer der bedeutenden politischen Gegner Peels [Red.].
3 John Arthur Roebuck (1802–1879) war ein prominenter Vertreter des dritten politischen Flügels im englischen Unterhaus, nämlich der Radikalen [Red.].
4 Der Geologe James Hutton (1726–1797) hatte ein System der Geochronologie entwickelt, das die Entstehung mineralischer Stoffe auf vulkanische Vorgänge zurückführte. Eine andere Theorie verfolgte der Mineraloge Abraham Gottlob Werner (1749–1817), der die Entstehung von Gesteinen unter dem Einfluss des Wassers erklärte. In der Folgezeit entstand ein viel beachteter Streit beider Schulen, der mit den Schlagworten des Plutonismus bzw. des Neptunismus ausgetragen wurde [Red.].