Kitabı oku: «Weihnachtlich glänzet der Wald», sayfa 2
Liebling … Schatz … Rettung …
Ich geh’ die Kexerln verteilen.
Rasch schlüpfe ich in meine Kuschelweste und in die Holzschlapfen, schnappe die Wohnungsschlüssel und drücke mir den Wäschekorb mit den Kexerltellern an die Hüfte. Schon fällt die Tür ins Schloss. Vom Gang her ist nichts zu hören. Ich mag ihn nicht leiden sehen.
Es dauert ein bisserl bis Frau Schwartz öffnet. Nun ja, die gute Frau ist immerhin 87 und nicht mehr so gut zu Fuß. Schöne Weihnachten, Frau Schwartz. Ein paar Kexerl für Sie. Ich bitt’ Sie, ist doch eine Kleinigkeit. Die Lebkuchen müssen S’ gleich probieren. Extra mit Maiwipferlsirup gemacht. Das ist gut gegen Ihren Husten. Ach leider, Frau Schwartz, keine Zeit, ich muss ja noch mehr verteilen, und mein Mann wartet ja auf mich. Morgen komm’ ich gern auf ein Tratscherl vorbei. Natürlich.
Frau Donnerbauer öffnet schneller. Hinter ihr ducken sich die beiden Kinder. Erleichterung in den Gesichtern. Es ist nicht der Vater. Frohe Weihnachten, Frau Donnerbauer, Ihnen und Ihren Kindern. Und hier ein extra Packerl mit Rumkugeln für den Gatten. Ich weiß, ich weiß. Wäre gern etwas geblieben, aber der Branntweiner sperrt heut’ früher zu. Auf die Rumkugerln schlaft er sicher bald ein. Und für Sie extra eine Salbe, die hilft bei Blutergüssen. Nochmals schöne, ruhige Weihnachten.
Herr Wittich, Sie alter Grantscherben. Wie geht’s denn heut’? Heut’ tut alles weh? Oje. Na, trotzdem schöne Weihnachten. Lassen Sie sich die Vanillekipferln schmecken. Macht gar nichts, dass Sie mich nicht reinbitten, mein Mann wartet eh auf mich.
Doktor Lander, heuer gar nicht in Thailand? Ach, wegen den Unruhen. Da werden die Kinder im Waisenhaus traurig sein, wenn’s heuer keine Geschenke bringen. Ja, richtig, dafür gibt’s ja die Post. Und skypen tun S’ mit ihnen. Schön. Zum Trost wegen des fehlenden direkten Kontakts bring’ ich ein paar Zitronensternderl. Übrigens die Punkterln im Guss sind Brennnesselsamen. Die bringen so richtig Kraft in die Lenden. Nein, nein, Sie müssen sich nicht revanchieren. Würd’ mich schon freuen, wenn Ihnen die Kexerln schmecken. Selige Weihnacht’, Herr Doktor.
Alle Kexerln losgeworden – und eventuell auch mehr. Fühl’ mich gleich gar nicht mehr so marod. Jetzt muss ich zu meinem Schatz. Was ist denn das für ein Lärm? Sanitäter?
Wo wollen S’ denn hin?
Tür Nummer 15. Ein Unfall.
Aber, aber, das ist meine Wohnung!
Mit zitternden Fingern sperre ich auf, stürze ins Wohnzimmer. Wo ist er, der zache Hund! Schafft der es glatt zum Handy und ruft selbst die Rettung. Da liegt er.
Jessasmariaundjosef!
Jetzt ist auch das Schlafzimmer mit Blut vollgeschmiert. Meine Beine knicken ein. Ein Sanitäter stützt mich, führt mich in die Küche, setzt mich hin. Der andere Sanitäter beugt sich über meinen Mann, um den Puls zu fühlen. Während mich ein hysterischer Lach-Wein-Krampf überfällt, kommt der andere Sanitäter in die Küche, schüttelt fast unmerklich den Kopf.
Geschafft! Ich bin erleichtert.
Eine Stunde später sitze ich Chefinspektor Garner gegenüber. Routinesache, muss leider sein. Eindeutig ein Unfall, ein seltsamer. Dass ein Feuerwehrler so unvorsichtig ist. Sollte wohl eine besondere Bescherung werden. Tränen laufen über meine Wangen, meine Lungen schmerzen vom unterdrückten Lachkrampf. Meine Finger sind krampfhaft ineinander verschränkt. Der Chefinspektor reicht mir ein Taschentuch. Ich krieg’ den blöden Ehering nicht vom Finger.
Wolln S’ net lieba woanders übernachtn? Wegen da Sauerei. Ist ja net grad g’schmackig. Ganz im Gegenteil zu Ihrn Kexerln. Wirkli köstlich. Wenn er den Baum a Stückerl weiter links gstellt hätt’, des Kabel ordentlich am Boden fixiert hätt’. So woa des a Stolpafall par excellence. Jojo, waun des Hirn obee rutscht. Wolln S’ net vielleicht do bei einer Nochbarin? Versteh, versteh, denen wolln S’ net de Weihnacht’ vaderbn. So guate Kexerln oba a.
Endlich alleine. Ganz hinten in der Schublade müssten sie sein. Ganz bestimmt. Ah, da!
Chefinspektor Garner wirft einen letzten Blick zurück, bevor er im Zivilstreifenwagen zum nächsten Weihnachtsunglück braust. Leichtes Schneetreiben für die perfekten Weihnachten. Schnee am Weihnachtsabend in Wien. Ein Wunder. Sieht hübsch aus. So friedlich.
Schau, a Glitzern im Fenster do obn. Wia von an Sternspucka. De oarme Frau. Hoffentli draht S’ net durch. I glaub’, i schau murgn noch iha. So guate Kexerln oba a.
Bermudadreieck: | Bereich in der Inneren Stadt mit zahlreichen Lokalen |
Branntweiner: | kleines Lokal, in dem man Schnaps, Wein etc. kaufen kann |
brocken: | pflücken |
dastess’n: | stolpern, oft mit tödlichem Ausgang |
Grantscherben: | Mensch, der ständig und grundlos schlecht gelaunt ist und alles negativ sieht |
Haberer: | Freund, Kumpel |
Holzschlapfen: | Holzpantoffeln |
Luster: | Deckenleuchte |
Maiwipferlsirup: | Sirup aus frischen, jungen Tannen- oder Fichtenspitzen, der im Mai angesetzt wird und gegen Husten hilft |
marod: | niedergeschlagen, erschöpft, krank |
Öffi: | öffentliche Verkehrsmittel |
Quiqui: | der Tod |
Schanigarten: | Gastgarten vor einem Lokal |
Sternderl: | kleiner Stern |
Sternspucka: | Sternspucker, Wunderkerze |
Tratscherl: | Plauderei |
zach: | zäh, widerstandsfähig |
3. PLATZ
Detlef Seydel
Krawall im Bösendorfersaal
… ihr später Hilfeschrei wurde als
erwartbarer Schlachtruf abgetan.
Es hatte geschneit in der Nacht. Dann waren die satten Winterwolken nach Westen abgezogen und Wien leuchtete an diesem Montagmorgen des 21. Dezember 1908 wie zwischen einem blauen und einem weißen Spiegel.
Arthur spazierte die Herrengasse hinunter, ließ seinen Stock nach Dandyart rotieren und schlug mit Schwung den Schneemännern, die am Gassenrand Spalier standen, die Karottennasen weg. Aus den Schornsteinen stiegen dünne Rauchsäulen. Der Geruch von Kaminbrand verfing sich in Arthurs Schnauzbart zwischen den Eisperlen. »Abends, 8 Uhr, wird das Rosé-Quartett im Bösendorfersaal ein Abonnentenkonzert geben«, hatte auf gelben Plakaten an den Litfaßsäulen gestanden. Von Schönberg sollte das neue Streichquartett mit Gesang zur Uraufführung kommen. Arthur war kein Abonnent; aber lächelte er dem Kassenmädchen zwischen die Grübchen, bekam er trotzdem einen Platz. Arthur war nicht einmal Musikliebhaber, schon gar kein Musikkenner. Arnold Schönberg war für ihn aus ganz anderem, als einem kunstgenießerischen Grund wichtig. Arthur spekulierte wieder auf einen Tumult. Auf einen, bei dem die adligen Damen von ihren Sitzen springen, sodass ihre Perlenketten am Dekolleté hüpfen. Und sich das Kreischen ununterscheidbar zwischen die skandalös schrägen Töne, dem Quietschen und Wimmern von Geigen, Bratsche und Cello mischt. Das Skandalkonzert im vorigen Februar hatte ihm, dank Schönbergs Erster Kammersymphonie, immerhin eine schwere Gold- und fünf Perlenketten sowie zwei Diademe eingebracht.
An der Vormittagskasse des Palais Liechtenstein saß hinter dem Glas eine Matrone ganz ohne Grübchen. Arthur log, als er über ihre Augäpfel sagte, sie würden wie Porzellan schimmern. Er bekam darauf einen Platz, sogar ziemlich vorn, unweit der roten Samtfauteuils, den Stammsitzen der Damen und Herren der kaiserlichen Familie.
Nachdem Arthur fröhlich pfeifend wieder in die Kälte hinausgetreten war, stellte die Matrone an der Hebelvorrichtung des Telephons eine Rufnummer ein, hob den Hörer von der Gabel, drückte den Rufknopf und drehte die Kurbel. Hinter vorgehaltener Hand flüsterte sie etwas wie »Ist dort Weihnachten?«, in die Muschel.
Diesmal brachte das Skandalkonzert – und es wurde noch turbulenter als das erste – Arthur nur Unglück.
Am Abend, gegen 7 Uhr, gab er seiner jungen Frau einen Kuss auf die Stirn.
»Bleib nicht so lang’«, bat sie ihn.
»Ich sammle Eindrücke und komm’ heim«, versprach er.
»Ach geh, das Central lässt du doch nicht aus, wo’s grad vis à vis vom Bösendorfer ist«, erwiderte sie mit wehmütigem Lächeln. Sie musste, um sich zu beruhigen, die List der fürsorglichen Gattin anwenden. Sie bat ihn, keinen Schlüssel mitzunehmen. Sie sei gewiss noch wach, um ihm zu öffnen.
Dann sah er ins Zimmer seiner 6-jährigen Tochter, ob sie schliefe. Sie schlief nicht. Sie fieberte seit Tagen dem Weihnachtsfest entgegen, malte sich die brennenden Kerzen am geschmückten Baum aus und verschob gedanklich auf ihrem Wunschzettel Puppen und Stuben auf und ab. Auf dem Nachtschränkchen lag aufgeschlagen das Buch vom Prinzen Amgiad.
Es hatte heftig zu schneien begonnen, als Arthur aus der Wickenburggasse Nummer 26 trat und sich auf den Weg machte. Im Licht der Gaslaternen stoben lustige Wirbel.
Schon war es mehr ein Stapfen als ein Schreiten. Der Spazierstock stach tief in das weiße Fell, das sich über die Stadt legte. An der langen Nummer 18 bis 20, der Justizanstalt Josefstadt, beschleunigte Arthur seinen Schritt. Er hasste dieses Gebäude, an dem er fast täglich vorbeimusste. Vor allem die Bestimmung dieser Anstalt, die dem Haus etwas Graues gab, das selbst der Schnee nicht aufhellte. Er schwor sich, es nie wieder zu betreten. Im letzten März hatte man ihn dort stundenlang verhört, weil man ihn für das Verschwinden der Gold- und der fünf Perlenketten sowie der beiden Diademe verantwortlich gemacht hatte. Man hatte ihn mit Lampen geblendet, ihn angeschrien und den vergifteten Augen mehrerer Zeugen ausgesetzt. Aber man musste ihn doch gehen lassen.
In der Gasse war er der einzige Passant. Einmal kam ihm ein Zweispänner, aus der Florianigasse einbiegend, entgegen. Die Pferde dampften. Sie hatten ihre Mühe mit dem glatten Pflaster. Nein, einen Fiaker brauchte er nicht. Das Gehen nahm ihm das Lampenfieber, das er immer bei Vorfreude spürte. Bald hatte er die Josephstädter Straße erreicht. Am Rathaus vorbei. Der Volksgarten lag da, wie die gemalte Lautlosigkeit. Beinahe schämte er sich, das Bild durch seine Spuren zu zerstören. In der Schauflergasse ging es reger zu. »Ja, strömt nur alle zu dieser verrückten Musik«, dachte Arthur und dabei ließ er den Blechfuß seines Stocks schräg über die Lücken im Schnee aufs Pflaster sausen, dass es funkte und ein Geräusch machte, das er für atonale Musik hielt.
Im Saal vorn hatte sich Wiens beste Gesellschaft eingefunden, hohe und höchste Herrschaften – Silber, Gold, edle Steine und Perlen. Auf den Stehplätzen drängte sich ordinäre Jugend.
Das Rosé-Quartett stimmte seine Instrumente und die Sängerin, eine recht ansehnlich zu nennende Dame von Mitte dreißig, mit streng nach hinten frisierten Haaren, tippelte etwas nervös am Fleck.
Dann fegten die ersten Tonfetzen durch den Saal. Zunächst war dem Publikum nichts anzumerken. Es blieb still. Auch jemand, der sich die Stirn aufschlägt, brüllt nicht sofort los.
Dann lachte jemand. Andere stimmten ein. Die armen Musiker fiedelten, die Sängerin krähte bald gegen einen wahren Lachsturm an. Doch erst im letzten Satz traten für Arthur die nötigen Arbeitsbedingungen ein. Man sprang, unabhängig von Stand und Ansehen, von den Sitzen, schrie außer sich: »Aufhören! Schluss! Wir lassen uns nicht narren!«
Ein Tumult brach los, Handgemenge, die man mit den wenigen Befürwortern austrug, die das alles für Kunst hielten und den Ignoranten vorwarfen, nicht einmal die Beschaffenheit der Sonatenform zu kennen. Das konnte Frau Baronin nicht auf sich sitzen lassen. Taschen flogen auf Köpfe. Es schien, als bewahre Arthur allein die Ruhe. Kein Zittern in den Fingern, gleichmäßiger Atem, ein klarer Blick. Kam ihm ein Hals mit Kette nahe, die er für wertvoll erachtete, trennte er sie so geschickt von der Besitzerin, dass diese den Verlust erst spürte, wenn Arthur schon über drei Sitzreihen gestiegen war. Und ihr später Hilfeschrei wurde als erwartbarer Schlachtruf abgetan.
Es gab genügend hochgerissene Hälse. Die Ernte war reich. Arthur wusste schon kaum noch, wohin mit all den Schmuckstücken, die er den Empörten abgenommen hatte. »Nun ist genug«, dachte er – und hörte es zugleich von einer ihm fremden Stimme ganz nahe und ganz bestimmt sagen. Auch packten ihn kräftige Hände, sodass er ohnehin den nächsten Hals ungenutzt lassen musste. Ein Stück mit selten reichen Perlen.
Man schob ihn grob zum Saal hinaus. Erst an der Garderobe war es ihm möglich, sich nach dem umzusehen, der ihn so gemein überlistet hatte. Ein um einen Kopf größerer, stämmiger Mensch mit ernsthaft glühendem Blick. Draußen wartete ein Automobil, in das man ihn drängte. Aus dem Central vis à vis taumelte eine Gesellschaft Betrunkener. Die Gassen, durch die der Wagen mit Arthur rüttelte, waren, in umgekehrter Reihenfolge, dieselben die er Stunden zuvor noch in seliger Vorfreude gegangen war.
Im Scheinwerferlicht wirbelten, unbeeindruckt von seinem Schicksal, nach wie vor die Schneeflocken. Die Fahrt endete dort, wo Arthur sich geschworen hatte, nie wieder einzukehren. Nur wenige Eingänge von seinem Hauseingang entfernt. Er wurde in ein Verhörzimmer gebracht. Diesmal richtete man keine Lampe auf sein Gesicht, diesmal hatte man ihn ja frisch erwischt. Nicht einmal nach seinem Namen fragte man ihn. Auf dem Schreibtisch vor ihm las er auf dem Namensschild »Bezirksinspektor Rudolf Weihnachten«. Nun glaubte Arthur beinahe an einen Scherz. Eine Art Krippenspiel für Räuber und Gendarm. Doch dafür glühten die Augen des Inspektors zu ernsthaft.
Es sei ein Leichtes gewesen, ihn dingfest zu machen. Die Dame an der Konzertkasse sei angewiesen worden, ihm bei seinem Auftauchen einen attraktiven Platz zu geben. In Reihen der oberen Gesellschaft. Wo zudem die großzügigere Beinfreiheit zwischen den Sitzen ein Zupacken erleichtere.
Man nahm ihm alles ab und führte ihn in eine Arrestzelle. Seiner Familie werde er, der Bezirksinspektor persönlich, noch heute von seinem Verbleib Nachricht geben.
Arthurs Frau hatte sich bereits fürs Bett fertiggemacht. Sie stand im Nachthemd, als es an der Wohnungstür forsch klopfte. Obwohl ihr der Klang ganz unbekannt war, hoffte sie, es sei doch Arthur. Er war es aber nicht. Weihnachten stand vor der Tür.
Monika Deutsch
Boanlkramers Nikolausabend
Franz sieht seinen Kollegen mit
wässerigen Alkoholaugen an und kichert.
Es ist der sechste Dezember. Kalter Wind pfeift von Nord-Osten. Er zerrt die welken Blätter von den Bäumen und jagt sie über die Wege des Wiener Rathausplatzes. Nur kurz lässt er das zerzauste Laub an den windgeschützten Stellen der Stände des Christkindlmarktes rasten, um es im nächsten Moment mit wirbelnden Böen weiter vor sich herzujagen. Die in den Ästen aufgehängte Weihnachtsbeleuchtung schwankt bedrohlich hin und her. Unentwegt werfen die Lichter zuckende Blitzkaskaden gegen die feucht-schwarzen Baumstämme und in die weniger beleuchteten Ecken des Rathausparks. So auch in der, wo Joseph und ich stehen.
Mein Frack ist nicht zugeknöpft. Der wärmende Umhang liegt hinter uns auf dem Schemel. Mein Freund und Konkurrent Joseph Lanner kann wenigstens seine Arme vor die Brust verschränken, während ich mein Notenheft festhalten muss. Wir sind weitgereiste Komponisten und Kapellmeister und traten mit großem Erfolg in vielen Städten Europas auf. Die Wiener nennen mich ehrerbietig Johann Strauss Vater. Andere verwechseln mich mit meinem Sohn. Abfälliges hören Lanner und ich auch: »Ach die zwei aus Bronze, da hinten im Park.«
Dabei ist es an sich unwichtig, wer wir sind. Wichtig sind die Taten der Menschen, die guten wie die schlechten. Sie verlängern oder verkürzen das Leben von einem Moment zum anderen.
Seit hundertzehn Jahre stehen wir hier und haben vieles gesehen. Aber so etwas wie in dieser Nacht ist uns noch nie passiert.
Große und kleine, junge und alte Besucher laufen an uns vorbei. Auf den Wegen glitzern Eiskristalle. Trotz der warmen Kleidung schauen die Nasen zwischen den tief in die Stirn gezogenen Mützen und den fest umschlungenen Schals rot vor Kälte hervor. Die Gäste zieht es von den grell-bunt beleuchteten Buden des Christkindlmarkts nach Hause ins Warme.
Von den Ständen auf dem Rathausplatz dringt unentwegt Musik zu uns herüber, Jingle Bells und White Christmas. Grauenvolles Geleiere, jedenfalls für unser hoch sensibles Gehör. Einzig die Bläser vom Rathausturm spenden uns täglich musikalischen Trost und etwas Wärme ums Herz. Unser Geruchssinn wird dagegen von Leckereien verwöhnt.
Ich deute in die Richtung, aus der die Düfte strömen. »Hast du Lust auf einen Punsch und ein Stück Lebkuchen?«
Lanner zuckt mit den Schultern. »In meinem Hosensack befinden sich nur ein paar Kreuzer. Ob die Verkäufer die annehmen?«
»Du könntest etwas vorspielen und den Hut rundgehen lassen.« Ich zeige auf die Violine in Josefs Hand.
Mein Freund lacht verschmitzt und singt im breitesten Wiener Dialekt: »Den Hut hoabn mea zwoa scho lang ogebm und die Stufn obe packt.«
Als er das Musikinstrument anhebt, um seine neu kreierte Melodie zu spielen, kreuzt ein Mann unser Sichtfeld. Er torkelt den Weg entlang und stolpert. Die Hände greifen ins Leere. Verzweifelt schnappt er nach Luft. Pfeifend entweicht der eingesaugte Atem. Gelblichweiß treten die Augäpfel hervor. Er schleppt sich zu uns hin und umklammert den Sockel auf dem wir stehen. Die andere Hand ist fest auf seinen Bauch gedrückt. Er ist nicht der Erste, den wir so erleben. Mein Urteil ist deshalb schnell gefällt. »Dem Mann ist schlecht. Er hat an den Ständen zu viel Glühwein getrunken.«
»Das glaube ich nicht.« Lanner schüttelt den Kopf. »Er trägt keinen Mantel. Die Anzugjacke aus gutem Tuch steht offen. Bestimmt ist er aus einem der Lokale in der Nähe gekommen.«
»Vielleicht aus dem Rathauskeller?«
»Oder aus dem Restaurant am Burgtheater. Aber die sind ein bisserl zu weit weg. Hier in der Nähe gibt es ein Kaffeehaus.«
»Es gibt sogar mehrere Cafés.« Mein Finger zeigt in Richtung Parlament und dem dahinterliegenden Justizpalast. »Die sollen sogar abends geöffnet haben.«
Joseph pfeift anerkennend durch die Zähne und weist auf den Torkelnden. »Arm ist er nicht, schau dir die Schuhe an. Sie sind aus feinstem Leder und für einen längeren Bummel im nasskalten Dezember ungeeignet.«
Während wir rätseln, welches Lokal noch in Frage kommen könnte, kippt der Oberkörper des Fremden direkt zwischen meine Füße und – Verzeihung, ich kann es nicht treffender ausdrücken – er kotzt mir wie ein Reiher die Hosenbeine voll. Im ersten Moment bin ich starr vor Schreck, dann vor Ärger. Schwerfällig versuche ich, mich zu ihm hinunter zu beugen. Meine steifen Knochen hindern mich daran. Lanner konnte sein Bein rechtzeitig nach hinten ziehen und schaut sich hilfesuchend um. Aber der Unbekannte zu unseren Füßen ist ohne Begleitung. Keine zweite Person nähert sich uns. Der Mann greift sich an den Hals, röchelt ein, zwei Mal und rutscht langsam am Sockel entlang auf den gefrorenen Boden.
»Junge!«, rufe ich in leichter Panik, »hier kannst du nicht liegenbleiben. Der Himmel ist sternenklar und die Nacht wird bitterkalt werden.«
Lanner zuckt mit den Schultern. »Wir können nichts für ihn tun und müssen warten, bis ein Weihnachtmarktbesucher vorbeikommt und ihm hilft. Oder der kriagt an koidn Oasch.«
Mahnend schaue ich meinen Freund an. Er hatte schon zu Lebzeiten ein loses und ungehöriges Mundwerk.
Aber außer einem, dem man besser aus dem Weg geht, beachtet keiner den Fremden. Heimlich muss sich Gevatter Tod herangeschlichen haben. Ich habe ihn nicht kommen hören. Doch er ist da. Ich weiß es, fühle es, spüre den Todeshauch hinter mir und rieche den Verwesungsgeruch, der ihn umgibt. Cholera, Pocken, Typhus und Tuberkulose sind seine Verbündeten. Habe ihm drei meiner Kinder kurz nach ihrer Geburt geben müssen. Zum Schluss mich selbst an Scharlach. Fünf Jahre vor mir raffte der Typhus den Joseph neben mir hin. Gut, dass wir zwei uns hier wiedergefunden haben.
Noch bevor ich meinen Freund warnen kann, springt der Tod, den wir Wiener respektlos den Boanlkramer nennen, aus dem Gebüsch hinter uns hervor, klapperdürr und mit Fetzen umhüllt. Bleich spannt sich die Haut wie dünnes Pergament über den haarlosen Schädel.
»Jessasmarantjosef!« Lanner rückt erschrocken näher an meine Seite, als suche er Schutz. Über den Sensenmann dumme Sprüche zu klopfen ist eine Sache, denke ich grimmig. Ihm ins Auge zu sehen, eine andere. Beschämt stelle ich fest, es freut mich insgeheim, dass der Joseph Angst bekommen hat. Dabei weiß ich: Die Furcht wird nicht lange anhalten. Uns Wienern wird, was den Knochenaufsammler angeht, ein zwiespältiger Humor nachgesagt, mal scherzhaft bis derb und schnodderig, aber auch liebevoll und wehmütig. Schließlich sollen mehr Gebeine unter unseren Füßen liegen als auf der Wiener Erde laufen.
Der Tod grinst uns mit seiner hohlwangigen Fratze an, und die Knochenhand tippt grüßend an die Stirn. Er nickt uns zu, als seien wir zwei alte Bekannte. Ich sehe ihn das Leichentuch hervorziehen. Umsichtig legt er es auf die Beine des liegenden Opfers. Der Boanlkramer ist ein geduldiger Gast. Er schläft nie und hat Warten gelernt.
Ein Vater mit seinem Sohn an der Hand kommen auf uns zu. In der anderen Faust hält der Junge das Band einer buntbedruckten Papiertasche, aus der Naschwerk herausschaut. Die Hand mit der Tüte schwenkt in unsere Richtung.
»Guck mal, Papa, da liegt einer!«
»Sei still, Junge. Schau nicht hin.« Eilig zerrt der Vater das neugierige Kind von uns fort.
Der Sensenmann, der sich in der Zwischenzeit geschickt hinter uns versteckte, tritt wieder lauernd hervor. Ich kenne ihn lange genug. Er lässt sich ungern bei seinem Geschäft beobachten.
Außer dem Jungen interessiert sich kein Weihnachtsmarktbesucher für uns. Ich habe aufgehört, die Vorbeigehenden zu zählen. Es sind zu viele. Die einen laufen achtlos vorbei, die anderen drehen angewidert und demonstrativ den Kopf zur Seite. Nur ein paar bleiben kurz stehen, recken ihre Hälse und eilen dann achselzuckend weiter.
Zwei Burschen schlendern mit Bierdosen in den Händen zu uns herüber. Auf ihren Köpfen sitzen spitz zulaufende rote Mützen mit weißen Rändern und blinkenden Lichtbommeln. Die jungen Männer stoßen sich gegenseitig die Ellenbogen in die Rippen und albern herum.
Gott sei Dank, denke ich, jetzt kommt Unterstützung. Die zwei werden bestimmt dem Ohnmächtigen helfen und einen Arzt rufen.
Der Kleinere von beiden tritt mit dem klobigen Stiefel kräftig gegen die Schulter des Daliegenden. Bewusstlos rollt der Mann zur Seite. Meine Hoffnung, dass die Jungen Hilfe holen, schwindet mit jeder Sekunde.
Der Zweite beugt sich über den Unglücklichen. Seine Hand klopft in Brusthöhe auf die Anzugjacke des Ohnmächtigen. »Na Alter, wenn du nix verträgst, musst du früher aufhören mit dem Saufen.« Seine Hand schiebt sich in das Innere der Jacke, holt die Brieftasche hervor und betrachtet das Passbild auf dem Ausweis. »Du siehst wirklich besser aus, wenn in der Visage nicht so viel Kotze hängt.« Er zupft die Geldscheine aus dem Fach und wirft die Ledermappe achtlos hinter sich in das Gebüsch. Der Kleinere fingert ein Portemonnaie aus der Gesäßtasche des Mannes. »Scheiße, nur Kleingeld!« Trotzdem steckt er die Geldbörse ein und grapscht seinem Kumpel einen Schein aus der Hand. Der holt mit der flachen Hand aus und schlägt ihm ins Gesicht. Schwer fällt der Getroffene auf den Bewusstlosen. Die rote Mütze rutscht ihm vom Kopf und fällt unbeachtet auf die Erde. »Mach das nicht noch einmal! Sonst hau ich dir die Fresse klein, dass du nur mit ’nem Strohhalm saufen kannst.«
Sprachlos und empört verfolge ich das ungehörige Benehmen der jungen Kerle. Blicke kurz zu Lanner hinüber und weiß sofort, er denkt genau das Gleiche wie ich. Geistesgegenwärtig hat er seine Violine unter den verschränkten Armen versteckt. Wer Geld stiehlt, raubt auch alles andere.
Gevatter Tod hat sich mit dem Leichentuch im Schatten einer Hecke zurückgezogen. Wie ich ihn kenne, studiert er die Kandidaten mit unverhohlener Freude. Weitere Kundschaft, wird er denken und sich vergnügt die Hände reiben. Wenn nicht jetzt, dann in ein, zwei Jahren. Irgendwann schlagen sie sich im Suff oder Streit die Köpfe ein.
Mit den Geldscheinen in der Hand laufen die zwei Jugendlichen in Richtung Christkindlmarkt. Lautstark streiten sie sich über die Frage, wo es um diese Uhrzeit noch günstig Bier und Schnaps zu kaufen gibt.
Lanner stößt mir leicht den Ellenbogen in die Seite und zeigt auf die liegengebliebene Mütze mit dem blinkenden Bommel. »Heute ist der Abend des heiligen Nikolaus. Ich hatte es ganz vergessen.«
Nach und nach lehrt sich der Platz vor dem Rathaus und dem Park. Die Musik wird leiser, bis sie endlich verstummt. Es ist still geworden. Einzig der Wind kennt keine Pause. Das Klappern der Holzläden verrät uns, die letzten Budenbesitzer verschließen ihre Stände. Die bunten Lichterketten erlöschen. Es geht auf Mitternacht zu. Ohne eine Notiz von dem Hilflosen zu Josephs und meinen Füßen hasten die letzten Fußgänger an uns vorbei.
Ich vernehme ein kurzes Gurgeln und ein verzweifeltes Schnappen nach Luft. Erleichtert blicke ich hinunter und schicke ein Stoßgebet gen Himmel. Gottlob, unser armer Freund ist zu sich gekommen. Er lebt. Der Sensenmann wird sich ein anderes Opfer suchen müssen.
Vom Parlamentsgebäude her hören mein Freund Joseph und ich zwei Personen über die Fahrbahn gehen. Sie unterhalten sich laut und lachen. Nur vereinzelnd fahren ein paar der knatternden und stinkenden Automobile auf der Straße, die den Park umgibt. Trotz der Windgeräusche und der knarzenden Bäume vernehmen wir die Wortfetzen deutlich und klar. Die Männer schlagen den Weg zu uns ein. Alle paar Meter bleiben sie leicht schwankend stehen und schauen sich suchend um.
»Die können nicht vom Christkindlmarkt kommen. Der befindet sich auf der anderen Seite«, flüstert Joseph mir zu.
Ich nicke. »Aus dem Parlament um diese Zeit auch nicht.«
»Im Dezember feiern die Firmen und Geschäfte ihren Jahresabschluss und laden die Mitarbeiter zu einem Weihnachtsumtrunk ein. Vielleicht gehören sie zu denen?«
Ich betrachte den im Schatten des Sockels unglücklich Liegenden. »Er könnte einer von ihnen sein. Die zwei sind genau so gut gekleidet wie er, wenn auch mit wärmenden Mänteln. Sie haben das gleiche mittlere Alter.«
»Hierher! Euer Freund liegt hier!«, rufen Joseph und ich wie aus einem Mund.
Der hochgewachsene Mann in der Dreiviertel-Steppjacke dreht sich um die eigene Achse. Hat er uns gehört? Nein, anscheinend nicht. Er wendet sich wieder seinem Freund zu.
»Möchte gerne wissen, wo der Georg abgeblieben ist«, höre ich ihn sagen. Er nuschelt beim Sprechen, was dem reichlichen Genuss von Alkohol geschuldet sein mag. Sein Kollege, klein und dick von Statur, kämpft mit dem Schal. Nach etlichen glücklosen Versuchen schafft er es, den Kragen des Wollmantels hochzuschlagen und das Strickteil drumherum zu schlingen. Er schnauft von der Anstrengung. »Der wird irgendwo in der Ecke liegen und seinen Rausch ausschlafen.«
»Zwei weitere Kandidaten, die sich an uns festhalten und besudeln werden«, bemerke ich verärgert. Mein Freund neben mir betrachtet die Männer eher amüsiert und lacht. »Erinnere dich an unsere Zeit, als wir ledig jeder Verpflichtung waren und gemeinsam im Orchester spielten.«
Gereizt raunze ich Joseph zurück. »Du hast leicht reden, auf deine Hose und Schuhe hat auch keiner den Magen geleert!« Da ich nun einmal dabei bin, meine schlechte Laune an ihm auszulassen, poltere ich weiter, werde aber durch die besorgte Stimme des Steppjackenträgers abgelenkt.
»Wir müssen ihn finden, Franz. Er erfriert sonst.«
»Du hättest ihn nicht so abfüllen sollen. Außerdem ist er ein Mistkerl, jawohl ein Scheißkerl!« Wie zur Bestätigung der gelallten Worte reckt der Dicke die Faust in die Höhe.
»Warum?« Der Große schreit gegen den Sturm an. »Nur, weil er dieses Jahr mehr Verträge abschließen konnte als du, und er deshalb den höheren Bonus erhält? Aus dem Grund ist er noch lange kein Drecksack!« Ein lauter Rülpser beendet den Satz.
»Er ist und bleibt ein Dreckskerl. Hat in meinem Verkaufsbezirk gewildert – und in deinem auch.« Der Dicke, der von seinem Kompagnon Franz gerufen wird, schwankt direkt auf uns zu. Im Herankommen schlägt er seinen Mantel auf und fingert am Hosenreißverschluss herum.
»Nicht schon wieder! Herrgott, hilf!«, flehe ich in den Sternenhimmel. »Das heißt, hilf lieber ihm. Außerdem lass ihn seinen Freund auf dem Boden finden.«
Der Mann verharrt vor uns. Der Verschluss geht nicht auf, egal wie kräftig er flucht und daran zerrt. Mein erster Teil des Stoßgebets wurde anscheinend erhört, und ich richte ein stummes »Danke« nach oben.
»Was ist denn das?« Der Dicke starrt auf etwas zu seinen Füßen.
Begreift er nicht, dass hier sein Kollege liegt? Wütend will ich ihn anschreien. Da fängt er an zu kichern und bückt sich. In der Hand hält er die rote Mütze mit dem blinkenden Bommel. Ich hatte ganz vergessen, dass die unten am Sockel lag, trotz des kleinen flackernden Lichtes. Umständlich stülpt er sich die Mütze über den Kopf.
Gerade, als ich alle Hoffnung auf Rettung aufgeben will, weicht ein Krächzen aus seiner Kehle. »Ferdi, komm her, ich hab’ ihn gefunden!« Mit der Schuhspitze tritt er in das Gesäß des Liegenden. »He Georg, du alter Sauhund!«
Ich höre ein Röcheln und stoße einen Seufzer der Erleichterung aus. »Er hat ihn gefunden, Gott sei Dank! Und der Kranke auf der kalten Erde ist nicht an seinem Erbrochenen erstickt.«
Franz dreht sich um und fällt dem heranstolpernden Kollegen in die Arme. Er zeigt auf die Gestalt. »Da, da liegt er!«
Sein Freund beugt sich herab und rüttelt an der Schulter des Ohnmächtigen. »Georg, komm! Steh auf! Wir bringen dich nach Hause!« Er versucht, ihn hochzuziehen. Doch wie ein nasser Sack kippt der Bewusstlose zurück. »Hilf mir, Franz!«
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.