Kitabı oku: «Blindflug Abu Dhabi», sayfa 3

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«No», entgegnet mein Gegenüber und schüttelt den Kopf, «you’re not dreaming. It’s reality man.»

Soll noch jemand behaupten, Filme seien Fiktion.

Abbruch – Aufbruch – Umbruch

Die Familie wohnt noch immer in der Schweiz. Über das Wochenende ist in Stadel die ultimative Räumung angesagt. Abbruch der Zelte. Die «Mission Abu Dhabi» geht in die nächste Phase. Der Container mit dem Grossteil unserer Möbel ist bereits unterwegs in die Emirate. Heute sollen Restmobiliar und Winterkleider vom Zürcher Unter- ins Berner Oberland verfrachtet werden.

Aus diesem Grund bin ich einmal mehr unterwegs in die Heimat. Die gut besetzten Flugzeuge lassen eine Reise auf dem direktesten Weg nicht zu. So fliege ich mit Etihad nach München und verschiebe mich anschliessend mit der Deutschen Bahn nach Winterthur.

Was unsere Aufgabe erschwert ist die Tatsache, dass unsere neu erstandene Sommerresidenz im Berner Oberland aufgrund juristischer Ungereimtheiten und verzögerter Umbauarbeiten nicht wie geplant bezugsbereit ist. Wir hängen förmlich in der Luft – in Abu Dhabi wie hier in der Schweiz. Der zur Verfügung stehende Platz reicht bei Weitem nicht für jene Hausrat-Utensilien, die wir in der Heimat zurücklassen wollen. Letztlich sehen wir uns gezwungen, Kisten, Kartonschachteln und Kleinmöbel auf mehrere Wohneinheiten zu verteilen. Keller und Garagen von hilfsbereiten Freunden und Verwandten ersparen uns eine kostspielige Lagermiete. Die Organisation ist delikat und birgt gewaltiges Konfusionspotenzial: Das Pyjama in der einen Wohnung, die Unterwäsche in der anderen. Wenig praktisch. Ärgerlich auch, wenn man erst am späten Abend realisiert, dass die Bettlektüre im anderen Etablissement abgelegt worden ist. Ein Leben aus Koffern mit hohem Anspruch ans Organisatorische. Ich bewundere dabei die beinahe schon provokative Gelassenheit von Franziska und erschrecke ob meiner manchmal beängs­tigenden Dünnhäutigkeit. Es muss an den Östrogenen oder am Testosteron liegen. Vielleicht auch am Alter. Denn sogar der, in juvenilem Sturm und Drang, oftmals ungeduldige und launische Nachwuchs, macht bei diesem Umzugskarussell freudig mit. Er zeigt sich gar motiviert und greift bei anstehenden Umbauarbeiten bisweilen zu Hammer oder Pinsel.

Nach einem hektischen Umzugswochenende stehen wir irgendwann im leer geräumten Haus in Stadel. Unvermittelt kommt Wehmut hoch. Kahle Riegelwände, Bohrlöcher, isolierte Kabel, die von der Decke hängen. Neunzehn Jahre haben wir hier gelebt. Die drei Kinder halfen mit, die anfänglich marginal besetzten Zimmer zu füllen. An diesem Wochenende nun wurden sämtliche Zeugen einer für uns wichtigen Lebensphase aus dem über dreihundert Jahre alten Gemäuer getragen: jedes Spielzeugauto, jede Puppe, jedes Bild und jedes Möbelstück.

Franziska und ich tauschen vielsagende Blicke, in denen sich die Erinnerungen an glückliche und intensive Momente, an vielfältige und bereichernde Begegnungen spiegeln. Nun gibt es kein Entrinnen mehr. Mit diesem endgültigen Schritt lassen wir die Swiss, unsere Freunde und Verwandten, definitiv für unbestimmte Zeit zurück.

In meinen ersten drei Abu Dhabi-Monaten realisiere ich bald einmal, dass sich die an der heimatlichen Tischrunde geschmiedeten Pläne und Vorstellungen bei Weitem nicht immer mit den Realitäten des neuen Lebensumfelds decken. Wunschträume verschmelzen mit Fantasien und Hoffnungen. Erst das unmittelbare Erleben des Alltags bringt uns der Wirklichkeit ein Stück näher. Die Suche nach einem Haus verlief abenteuerlich bis harzig, die Zugeständnisse des Arbeitgebers mussten regelrecht erkämpft werden. Vielleicht war ich auch einfach zu naiv, habe mir den Einstieg im boomenden Emirat einfacher vorgestellt.

Die Realität scheint sich hier immer wieder neu zu definieren und löst bei mir unterschiedliche Empfindungen aus.

Während vor unseren Augen Wohnsiedlungen und Wolkenkratzer aus dem Boden schiessen, müssen wir erkennen, dass das Leben hinter den Kulissen weitgehend von orientalischer Trägheit und Gelassenheit bestimmt wird. Slow going scheint das Lebensprinzip, Ungeduld führt zu nichts, höchstens zu Unverständnis und peinlichem Gesichtsverlust.

So wird denn der Aufbruch gleichzeitig zum Umbruch. Das Dasein als Tauschgeschäft. «Wer nichts wagt, gewinnt nichts» spricht der Volksmund. Solche und ähnliche Gedanken wälze ich in meinen ersten Tagen im neuen Haus in Abu Dhabi. Zusammen mit 86 weiteren Einheiten gehört die Liegenschaft zu einem Compound, der in seiner verwinkelten Architektur und seinem Baustil an eine mediterrane Ferienanlage erinnert. Ein kleines Dorf am Rande der Wüstenstadt, hinter dessen dicken Mauern für die Bewohner ein komfortables Freizeitparadies mit Pool, Tennisplatz und Fitnessstudio eingerichtet wurde. Der Laden mit dem vielversprechenden Namen «Swiss Mart» führt Artikel für den täglichen Gebrauch im Sortiment. Manchmal auch ein bisschen mehr.

Banalitäten und Tränen

Am 22. August hole ich Franziska und die Kinder am Flughafen ab. Jetzt ist die ganze Familie in den Emiraten angekommen. Endlich! Wie habe ich diesen Tag herbeigesehnt! Zur Begrüssung lege ich für Franziska und jedes der Kinder eine Karte, eine Rose und ein kleines Überraschungsgeschenk auf ihre Schlafstatt.

Das Haus füllt sich mit Leben. In den Schlafzimmern stehen zwar neue Betten, im Wohnzimmer hingegen herrscht gähnende Leere, und darin geführte Telefongespräche erinnern an Durchsagen aus Lautsprechern in Bahnhofs- oder Abflughallen. Noch immer schippert der Container mit unseren Möbeln über die Meere. Die Ankunft ist unbestimmt. Nina fasst ihre Eindrücke in einem Blogeintrag zusammen:

Wir haben weder einen Tisch noch ein Sofa noch einen Fernseher und essen meistens auf dem Fussboden. Wie die Beduinen. Heute haben wir unser Nachtessen bei einem iranischen Restaurant bestellt. Morgen ist der erste Tag, an dem wir alleine, ohne Papa, zurechtkommen müssen, weil er nach Manchester fliegt. Hoffentlich gibt es kein Durcheinander.

Doch wo nichts ist, kann kein Durcheinander entstehen. Immerhin wurden in der Küche mittlerweile ein Kühlschrank und der Kochherd installiert. Die Espressomaschine hatte ich bereits kurz nach meinem Einzug aus Dubai liefern lassen. Dabei fehlte mir zu jener Zeit noch die Tasse, aus der ich den «Türkentrank» hätte schlürfen können.

Die folgenden Tage fliegen dahin. Sonnenauf- und -untergang fliessen übergangslos ineinander. Wir verfügen weder über Internet-, Telefon- noch TV-Anschluss. Mobiltelefone als heimatliche Nabelschnur erhalten den Kontakt mit den Zurückgebliebenen aufrecht.

Das neue Leben fordert Anpassungen. Meine Frau kämpft mit den Macken indischer Haushaltmaschinen ebenso wie mit den ekelhaften Windattacken unserer Klimaanlage. Im Schlafzimmer ist es uns zwar gelungen, dank raffinierter Stellung der einzelnen Blenden, zu verhindern, dass wir beinahe aus dem Nachtlager geblasen werden. Allerdings hat diese Massnahme zur Folge, dass – Bernoulli lässt grüssen – die Anlage entsprechend an Dezibel zugelegt hat und sich in einem Wettbewerb zur Imitation heranbrausender Schnellzüge mit Leichtigkeit in die Medaillenränge hieven würde.

Die Summe solcher Banalitäten zeigt Folgen. Ich bin gereizt. Nach drei rastlosen Monaten im Hotelzimmer suche ich den schnellen Weg zurück in einen normalen, familiären Alltagsrhythmus. Ich treibe Franziska von einem Möbelgeschäft zum andern, will unbedingt die leeren Räume füllen. Doch sie braucht Zeit. Wieder dränge ich auf rasche Käufe, aber sie lässt sich nicht hetzen. Meine Frau ist zweifelsohne ausgelaugt nach der strengen Zeit der Haushaltauflösung in der Schweiz. Der Ärger geht weiter, als unser Container im Zollfreilager in Jebel Ali eintrifft. Einmal mehr spielt die Bürokratie den Advocatus diaboli. Da Franziska die Dokumente in Stadel signiert hat, kann allein sie die Auslieferung der transportierten Ware in die Wege leiten. Es wird alles ein bisschen viel. Meine Antreiberei bekommt ihr nicht gut. Wir streiten oft, manchmal fliessen Tränen.

Für Aussprachen bleibt wenig Zeit. Zwischen meinen Flügen wird hauptsächlich telefoniert, organisiert, arrangiert. Und wenn ich dann irgendwo ankomme, in London, Dhaka oder New York beispielsweise, beschleicht mich das schlechte Gewissen. Ich empfinde Reue, Franziska gegenüber nicht nachsichtiger und toleranter zu sein. Mitunter hege ich Zweifel, ob es in der Tat klug war von Franziska und mir, eine fünfköpfige Familie, fernab der Heimat, neu verpflanzen zu wollen.

Am 4. September beginnt für Tim, Linda und Nina die Schule. Die drei gehen die Angelegenheit erstaunlich locker und mit positiver Einstellung an. Zumindest gegen aussen. Ohne Hektik und Aufregung.

Nach dem Frühstück kämpft sich die ganze Familie im eigenen Wagen durch den Morgenverkehr von Abu Dhabi. Die Fahrt zur Deutschen Schule dauert um diese Tageszeit rund zwanzig Minuten. Vor dem Eingang herrscht Fahrzeugstau. Es gibt viel zu wenige Parkplätze. Um acht Uhr ist die Begrüssungsrede des Schulleiters angesagt.

Unsere Kinder sind gespannt auf ihre Lehrer, ihre Mitschüler und auf die Zusammensetzung ihrer Klassen. Ähnlich dürfte es wohl auch den zahlreichen anderen Kindern und Jugendlichen ergehen, von denen viele ebenfalls neu an dieser Schule beginnen. Auslandschulen weisen hohe Fluktuationsraten auf. Jedes Schuljahr bringt spürbare Veränderungen für Schüler und Lehrer.

Nach der Ansprache des Schulleiters werden die Klassen einzeln nach vorne gerufen, um danach gemeinsam die Turnhalle Richtung Schulzimmer zu verlassen.

Tims Klasse umfasst lediglich vier Schüler: Zwei Mädchen und zwei Jungs. Deutsche Gymnasiasten, die ebenfalls erst vor wenigen Wochen nach Abu Dhabi gezogen sind.

Linda ist das einzige Mädchen in einer Gruppe von acht Knaben. Eine zweifellos einseitige hormonelle Verteilung. Umringt von adoleszenten Jünglingen schickt sie sich, nach einem vielsagenden und (viel)fragenden Blick zu den Eltern an, die Sporthalle zu verlassen. Wir zweifeln nicht daran, dass Linda ein spannendes und lehrreiches Jahr bevorsteht.

Bei Nina scheint der Mix zu stimmen. Ihre Klasse zählt sechzehn Kinder und die Geschlechter halten sich die Waage. Neu für sie als Primarschülerin ist der Unterricht mit Fachlehrern. Auf ihrem Stundenplan finden sich Fächer wie Ethik, Informatik und – wie auch bei Tim und Linda – Arabisch.

Das Eis ist gebrochen. Mit dem Eintritt in die Schule hat für unsere Kinder das Alltagsleben in den Emiraten begonnen. Eine weitere Hürde ist gemeistert. Langsam beginnen wir, in unserer neuen Welt Fuss zu fassen!

Zwischenhalt, September 2006

Ich sitze im Wartesaal des Bahnhofs Spiez im Berner Oberland Der Himmel ist wolkenverhangen, die Stimmung trübe. Nach einem angenehmen Nachtflug mit einigen Stunden Schlaf in der Pearl Business-Class eines Etihad A330 bin ich kurz nach sieben in Genf gelandet. Schon wieder in der Schweiz. Wenn auch nur für zwei Tage.

Die Familie ist in Abu Dhabi geblieben. Die unzähligen kleinen Zahnräder des Alltagslebens beginnen ineinander zu greifen. Unseren Kindern gefällt es ausgezeichnet. Das wiederum beruhigt die geplagte Elternseele.

Der Al Qurm Compound füllt sich mit Leben. Das bringt den Sprösslingen entsprechende Abwechslung. An den Abenden trifft sich regelmässig eine internationale Mischung aus Amerikanern, Kanadiern, Brasilianern und Einheimischen (sogenannte locals) auf den Strassen vor den Häusern zum Fussballspiel oder am Pool zum Baden. Daneben bevölkern Schweden, Pakis­tani, Iraner, Ägypter, Jemeniten und Holländer unsere Wohnsiedlung. Hunde hat es übrigens auch. Aber die spielen nicht Fussball. Die hecheln primär und schaffen es bei dieser Hitze gerade einmal, den Häuserblock zu umrunden.

Tim hat sich als neuer Spieler bei den Abu Dhabi Falcons registrieren lassen und bereits sein erstes Training auf Wüsteneis absolviert. Dies am gleichen Tag, an dem Linda im Rahmen einer Geburtstagsfeier zum Skifahren nach Dubai eingeladen ist. Verkehrte Welt: Wir Schweizer sitzen bei 40 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von annähernd 90 Prozent in der Wüste des Arabischen Golfs, zwei unserer Kinder treiben Wintersport, während in Spiez bereits die ersten Herbstboten Einzug halten.

Zurück ins Bahnhofbuffet. Bald kommt mein Zug und bringt mich weiter ins Diemtigtal. Ich werde mich um diversen Kleinkram kümmern. Es gibt Angelegenheiten, die sich einfacher vor Ort regeln lassen, Besuche bei Ämtern beispielsweise. Ausserdem müssen noch einige Kleinigkeiten aus dem Haus geräumt werden.

Immer wieder wandert mein Blick zum Bahnhofkiosk mit seinem einladenden Schokoladeregal. In zwei Wochen muss ich in Abu Dhabi beim Fliegerarzt antreten. Neu verlangt die Luftaufsichtsbehörde der Emirate eine Kontrolle des Body Mass Index. Dies ist kein Scherz. Wird das erste Limit überschritten, bleiben sechs Monate Zeit zum Abspecken. Liegt der Wert über der oberen Toleranzschwelle, folgt ein pilotisches Grounding. Da bleibt mir die heiss geliebte Schokolade förmlich im Hals stecken.

Ramadan Kareem

Vielleicht sollte ich einige Tage fasten. Die Gelegenheit wäre günstig. Am 23. September beginnt der Ramadan, landesweit angekündigt in Radio und Printpresse, als a time of giving ­patience and tolerance for Muslims.

Der Fastenmonat Ramadan ist der neunte Monat des Islamischen Mondkalenders, der – nach der Skala des für uns geltenden Gregorianischen Kalenders – jedes Jahr elf Tage früher beginnt. Ramadan wird ausgerufen, wenn die Mondsichel nach Neumond, genannt «Hilal», erstmals wieder mit blossem Auge sichtbar ist. Zwischen Sonnenauf- und untergang ist fasten obligatorisch für alle Muslime, die der Pubertät entwachsen, gesund, nicht schwanger und nicht auf langen Reisen sind. Wer nicht fastet, holt dies in einem anderen Monat nach oder kümmert sich um die Armen und Bedürftigen. Das Fasten wurde im Jahr 624 nach Christus zur Pflicht für Muslime. Nebst dem Verzicht auf Essen und Trinken muss auch dem Rauchen sowie jeglicher sexueller Aktivität entsagt werden. Auch dies gilt, solange die Sonne über dem Horizont steht.

Ein typischer Fastentag beginnt mit einem frühen Erwachen vor der Morgendämmerung. Es folgt die Einnahme einer letzten Mahlzeit, genannt «Suhoor», die vor dem Aufgang der Sonne beendet sein muss.

Auf unserem Flug nach Lahore vor wenigen Tagen – der Start in Abu Dhabi erfolgte kurz nach Mitternacht – kommt die Kabinenchefin, selbst eine Muslimin, immer wieder ins Cockpit, um sich nach dem Sonnenaufgang zu erkundigen. Dies herauszufinden ist bei konstant wechselnden Zeitzonen keine einfache Aufgabe, aber mithilfe einer phantasievollen Cockpitcrew durchaus machbar. Wir verwenden eine Berechnungstabelle und vergleichen die Zeiten mit der Kalkulation eines auf dem Laptop gespeicherten Software-Programms. Von unserer zwölfköpfigen Besatzung sind fünf Mitglieder am Fasten. Ideal ist das keineswegs, die Firma rät während des Flugdienstes davon ab. Doch nicht alle halten sich an diese Empfehlung.

Auch der muslimische Installateur, der in unserem Haus Vorhänge montiert, unterbricht sein Tun in völliger Selbstverständlichkeit, um in einer stillen Ecke sein Gebet zu verrichten. Die fünf Gebetszeiten werden während des Fastenmonats um ein zusätzliches Abendgebet, genannt «Taraweeh» ergänzt. Das tägliche Fasten endet mit dem Ruf zum Abendgebet – dem ­Maghrib – und der anschliessenden Mahlzeit Iftar. Jeden Abend erfreuen sich zahlreiche Nicht-Muslime zusammen mit den Gläubigen an einem der in vielen Hotels und Restaurants angebotenen üppigen Iftar-Buffets. Auch wir können und wollen diesen Verlockungen nicht widerstehen: Hoummus, Tabouleh, Oliven, Tomaten, Gegrilltes vom Huhn, Lamm und Rind, diverse Fischspezialitäten, Couscous, Reis und Kartoffeln. Das schlechte Gewissen (mein Body Mass Index) befällt mich spätestens dann, wenn ich vor der Dessert-Auslage stehe. Die bei den Arabern so beliebten klebrig-süssen Naschereien oder das traditionelle Umm Ali (Alis Mutter), ein mit Rosinen, Pistazien, Haselnüssen und Mandeln, Zucker und Milch zubereiteter Brei, lassen mich mehrfach nachfassen. Ohne dass ich mir dabei solches Unmass durch Fasten verdient hätte.

Während des Ramadans vermeiden Franziska und ich unnötige Autofahrten kurz vor Iftar. Die Zeitungen warnen vor erhöhtem Risiko. Statistiken belegen eine Zunahme der Unfälle, weil unterzuckerte und ausgehungerte Autofahrer im Eiltempo nach Hause rasen, wo ihre Familien bereits den Tisch für das Fastenbrechen gerichtet haben.

Beim Einkauf im Carrefour erlebt Franziska ein wahres Ramadan-Einkaufs-Tohuwabohu und benötigt anstelle der üblichen zwei Stunden mindestens das Doppelte. So paradox es klingt, während der Fastenzeit wird hierzulande deutlich mehr an Lebensmitteln gekauft und zubereitet als gegessen werden kann. Die Folge ist ein doppelt so hohes Müllaufkommen.

Dass die Installation des lang ersehnten Internetanschlusses in den Fastenmonat fällt, ist reiner Zufall.

Während die einen am Tag aufs Essen verzichten, beginnt bei der Familie Eppler eine neue Zeitrechnung: Das ADSL-Modem katapultiert uns in zeitgemässe Kommunikations-­Dimensionen. Erfreut verfolge ich, wie sich auf dem Bildschirm meines Laptops in rasend rascher Folge die einzelnen Text- und Bildelemente einer Zürcher Tageszeitung zu einem harmonisch blau-weissen Ganzen aufbauen.

Sogar Franziska, ansonsten in Sachen Computer eher von zurückhaltender Natur, stürzt sich sogleich ins World Wide Web. Die letzte Hürde wird die kabellose Erschliessung sämtlicher Hausecken und -winkel sein. Dafür haben wir extra einen indischen Experten ins Domizil bestellt. Er wird am Samstag erwartet. Was aber nichts heisst. Könnte gut sein, dass er nicht auftaucht. Auch am Sonntag nicht.

Schliesslich trifft der Fachmann am Montag ein – eine Woche später, versteht sich! Aber das vermag uns nicht (mehr) zu erschüttern. Höchstens ein bisschen. Wir werden nicht laut und bleiben anständig. Schliesslich ist Ramadan. Und da gelten eben andere Gesetze.

Herbst

Ich sitze im Büro hinter meinem Laptop. Gedankenverloren schweift mein Blick aus dem Fenster. Aus der Ferne ertönt der Ruf des Muezzins zum Nachmittagsgebet. «Allah u akhbar …», ein Sprechgesang, der ganz allmählich und auf seltsame Art und Weise beginnt, so etwas wie ein heimisches Gefühl in mir zu wecken. Der Himmel ist stahlblau. Wolkenlos.

Letzte Woche habe ich mich bei einem München-Trip durch den Nebel gekämpft. Nach einem Nachtflug landen wir im Morgengrauen in der Bayernmetropole. Die Sicht beträgt gerade mal 300 Meter und das Thermometer klebt knapp über der Nullmarke. Nach der automatischen Landung weist uns eine grüne Lichterkette den Weg zum Standplatz. Die gespenstisch wirkende Szenerie auf der Busfahrt ins nahe gelegene Landshut nehme ich im Dämmerzustand wahr.

Für den syrischen Copiloten waren automatische Landungen bisher reine Theorie. Dafür betet er im Cockpit. Nicht aber, ohne mich vorher um Erlaubnis zu bitten. Nachdem er sich genau vergewissert hat, in welcher Richtung Mekka liegt, flüstert er auf 41’000 Fuss leise sein Gebet: «Bismillah al rahman al rahim …» Dazwischen verneigt er sich immer wieder und legt seinen Kopf auf die Kante des kleinen Arbeitstisches vor seinem Sitz. Bisweilen verharrt er minutenlang reglos in dieser Stellung. Zwischendurch bin ich mir nicht sicher, ob er betet oder schläft. Gleiches habe ich zuvor in einem Swiss(air)-Cockpit noch nie erlebt. «Und was», schiesst es mir durch den Kopf, «wenn gleichzeitig zwei Muslime im Führerstand sitzen?»

Die Antwort ist sonnenklar; dann werden sie ihr Gebet wohl koordinieren, genauso wie Piloten auch darauf bedacht sind, nicht zur gleichen Zeit ihre Mahlzeiten einzunehmen.

Nach der Ankunft im Hotel fühle ich mich hellwach. Die Müdigkeit ist verflogen, mir ist nicht mehr ums Schlafen. Ich ziehe mich um, gehe in den Frühstücksraum und geniesse ein urchiges deutsches Buffet mit Eiern, Speck und frischen Semmeln. Tiefe, lang gezogene Nebel schleichen über die Isar. Das Laub an den Bäumen hat bereits seine Farbe gewechselt. Ich klappe den Deckel meines neuen Buches auf und beginne zu lesen. Nach einigen Sätzen wandert mein Blick wieder aus dem Fenster. Henning Mankells «Der Mann, der lächelte» und der milchig graue Himmel über Landshut verschmelzen an diesem Morgen in ungetrübter Harmonie.

Es ist Herbst – und ich habe es bis zu diesem Moment nicht einmal bemerkt. Mit einem Schlag wird mir klar, wie wenig ich in Abu Dhabi vom Jahreszeitenwechsel mitbekomme. Wohl sind die Temperaturen kontinuierlich am Sinken und die Tageshöchstwerte liegen «nur» noch bei rund 36 Grad. Die Abende und Nächte sind angenehmer, die Luftfeuchtigkeit geringer geworden. Doch die Palmenblätter wechseln ihre Farben nicht. Es gibt auch keine Passanten, die in Stiefeln und Wollmützen durch die Strassen eilen. Die Luft, die ich hier in Deutschland atme, verströmt einen starken und intensiven Herbstgeruch. Die Luft in Abu Dhabi schmeckt fade, flau und irgendwie sandig.

Die äusseren Zeichen haben sich geändert. Während ich bis vor Kurzem auf meinen Flügen jeweils die Kälte und den Nebel hinter mir gelassen habe, um mich am freundlichen Klima anderer Kontinente zu erfreuen, geniesse ich jetzt umso mehr die dunkle und melancholische Stimmung des Herbstes in Europa. Genau wissend, dass ich mich in meiner neuen Heimat schon bald wieder wärmen kann. Dieses Erleben macht mir deutlich, wie relativ doch unsere Wahrnehmung ist. Was einem im Überfluss zur Verfügung steht, wird zur Selbstverständlichkeit, was in weiter Ferne liegt oder kaum vorhanden ist, danach sehnt man sich.

Das Bimmeln des Laptops reisst mich aus meinen Träumen. Elektronische Post aus der Schweiz. Bereits melden sich die ersten Feriengäste. Auf der Flucht vor den Herbstnebeln des Mittellands.

Was für Zeiten, was für Sitten!

Doch Nebel gibts auch in den Emiraten, besonders in den Herbst- und Wintermonaten.

Wir verbringen in Abu Dhabi wesentlich mehr Zeit im Auto als in früheren Zeiten in der Schweiz. Allein schon deswegen, weil wir unsere Kinder täglich zur Schule und wieder zurück fahren. Dummerweise kennt die Deutsche Schule kein Blockzeitensystem. Wäre auch zu schön. Der Unterricht beginnt zwar für alle drei um acht Uhr, beim Schulschluss allerdings klaffen die Zeiten auseinander. Insbesondere dann, wenn die Kinder zusätzlich Freifächer wie Volleyball, Fussball oder Mediengestaltung belegen. Die zentraleuropäische Leserschaft kann sich vielleicht vorstellen, wie komplex der elterliche Shuttle-Service aufgebaut werden muss, um all dieser schulischen Aktivitäten gerecht zu werden.

So fahre ich kürzlich mit einer – aufgrund der frühen Morgenstunde – wenig redseligen Kinderschar um halb acht Uhr los. Es herrscht dichter Nebel wie in einer Dampfkammer.

Was für Zeiten, was für Sitten!

Wer die Gepflogenheiten auf den Strassen dieses Landes kennt, weiss um den extravaganten Fahrstil, den man hier zu gewärtigen hat. Es gibt kaum einen Tag, an dem wir nicht an einem Verkehrsunfall vorbeifahren. Glücklicherweise handelt es sich in der Regel nur um Blechschaden. Das ist insofern erstaunlich, als dass die Fahrsitten schlicht radebrecherisch sind. Besonders die Söhne der Scheichs drücken mit schwerer Sohle aufs Gaspedal. Dafür stehen die Inder etwas länger auf der Bremse. Überholen darf man sowohl links als auch rechts. Und wer die Wahl hat, hat bekanntlich die Qual. Die zumeist drei- und vierspurigen Ausfallstrassen bieten ein ideales Tummelfeld für waghalsige und spontane Überholmanöver im Stil der ­Formel 1. Es wird wild ausgeschert und bis auf wenige Zentimeter zum vorderen Fahrzeug aufgeschlossen.

Expect the unexpected, heisst die Devise auch beim Kreisverkehr. Bereits beim Einspuren ins meist dreispurige Rund scheiden sich die Nationen und Geister. Oftmals wird vor der Einfahrt unnötig angehalten, was immer wieder zu lästigen Stausituationen führt. Eingefädelt wird just dann, wenn ein Wagen im «Roundabout» mit viel Schuss die nächste Ausfahrt ansteuert. Aber das ist schwerlich zu erkennen, weil nicht geblinkt wird. Vortritt haben die Lenker auf der innersten Spur. Was den Automobilisten im Zentrum des Kreisels ungeahnten, quasi juristisch abgesicherten Freiraum beim spontanen Verlassen des Roundabouts bietet.

Überhaupt wird der Blinker grundsätzlich nur in Ausnahmefällen verwendet. Ich bin mir gar nicht sicher, ob dessen Bedienung allen Automobilisten geläufig ist. Ganz im Gegensatz zur Hupe, die sich grosser Beliebtheit erfreut und die rüden Absichten der Lenker und Lenkerinnen lautstark unterstreicht.

Was für Zeiten, was für Sitten!

Auch dem guten Cicero selig hätte es wohl die Sprache verschlagen ob dieses Fahrverhaltens. «Wie lange soll dein wahnsinniges Treiben uns noch verspotten? Bis zu welcher Grenze wird sich deine zügellose Frechheit brüsten?», attackierte er in seiner legendären Rede im Senat den Putschisten Catilina.

Nun, wahnsinnig ist das Treiben auch auf den Strassen von Abu Dhabi, und ebenso zügellos das Verhalten mancher Verkehrsteilnehmer. Tempolimits werden notorisch ignoriert. Zwar wachen in regelmässigen Abständen gut sichtbare Radarfallen am Strassenrand, geblitzt wird jedoch nur, wer mit mehr als ­20 km/h über dem zulässigen Limit herangebraust kommt. Bei Nebellagen wie an besagtem Tag wird, ungeachtet der verminderten Sicht, äusserst aggressiv gefahren. Ein Grossteil der FahrerInnen aktiviert die Warnleuchte und beraubt sich damit der Möglichkeit, den anderen Fahrzeugen einen Spurwechsel oder ein Abbiegen anzuzeigen. Im besten Fall sind gar die Scheinwerfer aufgeblendet. Schliesslich will man ja gesehen werden! Im Radio ermahnen die Moderatoren derweil, nicht die Warnleuchte, sondern das Nebellicht am Heck des Wagens einzuschalten. Umsonst. Die «Gulf News» vermeldet in ihrer nächsten Ausgabe allein im Raum Dubai über zweihundert Unfälle im morgendlichen Geschäftsverkehr. Eine traurige Bilanz.

Apropos Radio. Wir haben die Wahl zwischen mindestens vier Stationen. Von «Radio One» über «Radio Two» und «Channel Four» bis hin zu «Radio Sawa».

Beginnen wir bei Radio One – the Nation Station. Oder wie die Jingles auch vermelden: The best in Dance n’ R&B! Klingt vielversprechend, oder nicht? Die Kinder jedenfalls lieben dieses endlose Bassgehämmere, während dem Vater melodiösere Weisen lieber wären.

Da passt Radio Two schon wesentlich besser ins akustische Verständnis der Erzieherschaft. Dieser Sender wirbt mit dem Slogan …the better mix … Und da liegt er gar nicht so falsch, spielen die Moderatoren doch Hits der 70er, 80er und 90er- Jahre. Daneben gibts viel Sound aus den aktuellen Charts – oder jeden Morgen bei der Fahrt zur Schule das Powerbreakfast with Almarai. Ein passender Werbeauftritt, denn Almarai entspricht quasi unserer Schweizer Emmi Gruppe und produziert Milchprodukte verschiedenster Art.

Channel Four scheint etwas weniger populär, trotz vielseitigem Musikangebot. Und schliesslich bleibt noch Radio Sawa, ein vom US-Kongress finanzierter Radiosender, der seit dem Jahr 2002 ein Programm in arabischer Sprache für die Region Naher Osten sendet. Deshalb fällt es mir schwer, an dieser Stelle kompetent über die Moderatorenleistung oder über die vermittelten Inhalte Auskunft zu geben. Zwar höre ich nach Möglichkeit die Nachrichten des Tages, Akhbar alyoum, doch mit dem Verstehen hapert es ganz gewaltig. So untermalen wir denn, je nach Laune und Tageszeit, die zahlreichen Autofahrten mit munterer Musik der Kanäle Eins, Zwei, Vier oder Sawa.

Und wenn uns das aktuelle Angebot nicht passt, schieben wir kurzerhand eine CD ein. Und dann, ja dann bietet sich uns die Wahl zwischen Florian Ast, Baschi oder Züri West.

Was für Zeiten, was für Sitten …

Exzess – für einmal ohne Happy End

Die Besatzung eines Langstreckenflugzeuges umfasst bis zu neunzehn Mitglieder. Ich fühle mich bei jedem Auslandaufenthalt erleichtert, wenn vor der Heimreise sämtliche Schützlinge pünktlich und wohlbehalten mit ihrem Gepäck in der Hotellobby eintrudeln.

Heute ist dies allerdings nicht der Fall. Als wir in den Bus einsteigen wollen, meldet mir der Cabin Manager, dass ein Flight Attendant fehlt. Im gleichen Atemzug informiert er mich, dass der junge Kollege gestern nach unserer Ankunft in New York nach Denver zu seinen Verwandten geflogen sei. Mit der Absicht, heute früh um sechs Uhr Lokalzeit wieder in JFK zu landen. Eine riskante Planung und äusserst knapp. Da bimmeln bei mir gleich mehrere Glocken. Eine Abklärung bei der Rezeption ergibt, dass der Steward noch nicht zurück ist. In seinem Zimmer finden wir die Uniform und einen Teil seines Gepäcks. Ob er den Rückflug verpasst hat, oder sich gar absetzen will? Wir wissen es nicht, können es hier und jetzt auch nicht herausfinden. In erster Linie ist das sein Problem, denke ich. Uns bleibt keine Zeit zum Warten. Wir setzen uns in die Busse und fahren los.

Später, wir sind noch nicht am Flughafen angekommen, informiert uns der Fahrer, dass der Steward soeben im Hotel eingetroffen sei. Eine halbe Stunde vor Abflug taucht er hinter mir im Cockpit auf und meldet sich, leicht ausser Atem, zum Dienst bereit. Ich bitte ihn, während des Fluges für ein klärendes Gespräch vorbeizuschauen. Dasselbige findet einige Stunden später auf 38’000 Fuss statt. Er hätte Verwandte besucht, erklärt mir der junge Mann mit amerikanisch-libanesischen Wurzeln. Wohl wissend um die unrealistische Zeitvorgabe. Ich erläutere ihm meine Betrachtungsweise und nehme dabei Bezug auf einige Paragraphen unserer Handbücher. Er zeigt sich einsichtig und ringt sich zu einer Entschuldigung durch. Damit ist die Angelegenheit für mich erledigt. Zumindest für den Moment. Doch der Fall hat Steigerungspotential, wie sich später noch herausstellen wird.

Eine Stunde vor der Landung in Abu Dhabi flattert eine schriftliche Aufforderung des Etihad Medical Centers ins Cockpit; die gesamte Besatzung soll sich nach der Landung bei der Flughafenklinik zum Alkoholtest melden.

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