Kitabı oku: «Rubine im Zwielicht», sayfa 3

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7.

Wagners Bauch drückte gegen den Rand des Waschbeckens. Vor dem Spiegel darüber betastete Wagner die dicke Lippe. Die rechte Mundhälfte war ziemlich stark geschwollen. Er fasste vorsichtig die Schneidezähne dahinter und prüfte, ob sie wackelten. Zum Glück nicht. Das linke Auge machte ihm Sorgen. Er nahm den Waschlappen vom Wandhaken, befeuchtete ihn mit kaltem Wasser und betupfte die Schwellung. Probehalber schloss er das andere Auge und stellte fest, dass er mit dem verletzten Auge momentan nicht viel erkennen konnte. Verschwommen nahm er im Spiegel sein lädiertes Gesicht wahr. Erneut drückte er den Waschlappen auf das Auge, ungeduldig und etwas fester, als würde das etwas nutzen. Da klingelte es an der Wohnungstür.

Wagner, noch immer in seinem vom Joggen verschwitzten T-Shirt, war froh, dass ihn jemand besuchen kam. Er hatte allerdings keine Vorstellung, wer das sein könnte. Gleichwie, in solchen Stunden ist man nicht gern allein, dachte er, ging zur Wohnungstür und öffnete.

Draußen standen zwei Männer. Der ältere der beiden stand direkt vor ihm, und die Art, wie er auf Wagner herab genau auf dessen geschwollenes Auge schaute, erinnerte ihn fatal an den Blick des Raufboldes im Park. Wagner glaubte im ersten Moment, nun wäre die nächste Portion Prügel fällig.

»Bärhalter. Mordkommission«, schrie der Mann durchs Treppenhaus und fingerte eine entsprechende Marke aus der Tasche seiner beigen Cordhose. Der Mann hinter ihm, ein hagerer Jüngling mit Hakennase, nickte amüsiert. »Und das ist mein Kollege Winterberger.« Bärhalter stierte immer noch wie ein Adler auf Wagners Auge. Der Schmerz wurde wieder stärker. Wagner wich wortlos von der Tür und gab den beiden den Weg in die Wohnung frei.

Er wies in die Küche, Bärhalter ließ sich breit auf einen der Stühle fallen. Winterberger klackte mit hochhackigen, schwarzen Stiefeln über das Schiffsparkett und schaute sich das Poster über dem Kühlschrank an, das eigentlich ein Schallplattencover war. Eine Schwarz-Weiss-Fotografie aus den Fünziger Jahren, die zeigte, wie zwei Putzfrauen Jesus mitsamt Kreuz auf die Stufen eines Domes gelegt hatten und ihn mit einem Wasserschlauch abspritzten. Winterbergers Nase stieß beinahe an die Domstufen. Dann wechselte er abrupt nach rechts hinüber zum Wandkalender der Städtischen Müllabfuhr, und die Nase schien die einzelnen Tage des Monats durchgehen zu wollen.

»Sie wundern sich sicher, dass wir Sie so unvermittelt aufsuchen. Oder nicht?« Bärhalters buschige Augenbrauen hoben sich.

»Eh, sicher.«

»Sicher was, ja oder nein?«

Winterberger löste sich vom Kalender. Das Klacken seiner Stiefel entfernte sich hinüber zum Wohnzimmer.

Wagner lehnte sich gegen das Küchenfenster und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Er versuchte sich zu erinnern, wo er die Herrentasche versteckt hatte, und ob überhaupt.

»Hören Sie mir überhaupt zu? Ich habe Sie etwas gefragt!«

Immer noch im Rucksack, also im Auto, und die Edelsteine im Handschuhfach, dachte Wagner erleichtert. »Sie werden es mir sicher erklären, nicht?« Etwas Forschheit war wohl nicht das Verkehrteste. »Es wird Sie interessieren, dass ich Journalist bin, Wupper-Kurier, Fachgebiet organisierte Kriminalität.«

»Na, hervorragend!« Warum schrie dieser Mann nur so? »Dann können wir ja zusammenarbeiten. Was halten Sie davon?«

Wagner glaubte im Wohnzimmer das Öffnen einer Schublade zu hören. »Was macht Ihr Kollege da?«

»Er recherchiert. Genau wie Sie. Sie scheinen ja auch ein recht eifriger Mensch zu sein. Immer gleich am Tatort, nicht wahr? Möglichst, bevor geschossen wird. Wie machen Sie so etwas?«

»Woher wissen Sie …«, Wagner wäre jetzt gern zu seinem Wagen gegangen, um die Herrentasche und die Steine in einen Gulli zu schmeissen. Immerhin war er froh, dass er die Tasche, als er von Nok gekommen war, nicht mit in die Wohnung genommen, sondern das Diktiergerät herausgenommen und sie achtlos auf dem Beifahrersitz liegengelassen hatte.

»Wir haben einen Tipp bekommen. Reicht das?« Bärhalter sprang auf und steuerte auf Wagner zu »Und jetzt hören wir auf mit den Spielchen! Wo genau haben Sie gesessen, als das passierte?«

Wagner fühlte sich zwischen Bärhalter und dem Fensterbrett eingezwängt. Der Mann hatte einfach Dominanz, vor allem, wenn er so dicht vor einem stand. Man hörte Winterberger ins Schlafzimmer wechseln. Unpassenderweise fing er dort an, irgendein fröhliches Lied zu pfeifen. Wagner musste aus der Defensive heraus: »Ist es neuerdings verboten, Zeuge eines Mordes zu sein?«

»Nein, aber dann bleibt man am Tatort oder meldet sich wenigstens, um auszusagen, was man gesehen hat. Also: Wo in der Schwebebahn haben Sie gesessen?«

»Ganz hinten. Ich habe von dem ganzen Trubel überhaupt nichts mitbekommen. Ich hatte auch überhaupt keine Zeit, weil ich sowieso gerade mit einer anderen Geschichte beschäftigt war.«

»Ach ja? Organisierte Kriminalität, was? Scheint ja ganz schön was los zu sein im Tal.«

Bärhalter wandte sich von Wagner ab und schaute sich in der Küche um. »Wie kommt es eigentlich, dass ich noch nie von Ihnen gehört habe. Wir haben sonst immer mit Herrn Buchholz zu tun, wenn der Kurier etwas wissen will. Sind Sie neu?«

»Nö.«

»Sie wirken so.«

Bärhalter war offensichtlich darauf aus, ihn zu verunsichern. Das hieß bei einem Kommissar in den meisten Fällen, dass er nicht viel in der Hand hatte. In Fernsehkrimis war das jedenfalls so. Wagner schöpfte wieder Mut.

»Also ich finde das unverschämt, dass Ihr Kollege hier einfach durch meine Wohnung spaziert und in den Schränken herumschnüffelt, ohne dass etwas gegen mich vorliegt! Pfeifen Sie ihn zurück!« Man hörte Winterberger drüben unbekümmert weiter pfeifen.

»Oder hatten Sie einen Grund, so schnell abzuhauen? War Ihnen plötzlich schlecht geworden? Oder hatten Sie etwas an sich genommen?«

Jetzt irgendwas sagen, irgend etwas, dachte Wagner hektisch. »Ziehen Sie wenigstens Ihre Stiefel aus, verdammt nochmal!« schrie er hinüber. »Meinen Sie, ich habe Lust auf Fußpilz?« Wagner hörte, wie Winterberger die Tür des Schlafzimmerschrankes zuschlug und über das Schiffsparkett zurückkam.

»Es steht eine konkrete Frage im Raum.« Bärhalter baute sich wieder vor Wagner auf. Der Mann roch nach Pfeifentabak. »Man hat Sie gesehen, wie Sie etwas vom Tatort mitgenommen haben.«

Wagner war froh, dass sein Gesicht ohnehin deformiert war. Da fiel Verlegenheit und eine zusätzliche Rötung nicht so leicht auf. »Und was sollte das gewesen sein?«

»Warum nicht Edelsteine? Der Mann hat damit gehandelt. Aber das wussten Sie ja vermutlich schon vor uns und bevor er tot war. Habe ich Recht?« Wagner tippte auf irgendeinen billigen schottischen Verschnitt, das Aroma weckte Assoziationen an Schafe, verrauchte Pubs und schalen Whiskey. Er war froh, dass wenigstens seine Nase noch in Ordnung war.

»Und wie passt das da hinein?« Bärhalter stach mit dem Zeigefinger auf Wagners lädiertes Auge zu. »Sind wir vielleicht irgendwem in die Quere gekommen, hm? Möchte der Herr etwa eine Anzeige erstatten?«

»Ach was. Irgendein wild gewordener Hundebesitzer, weil ich beim Joggen seinen Pudel angeschrien habe, als der mich attackiert hat.« Wagner musste aus dieser Situation heraus, irgendwie. Er schlängelte sich an Bärhalter vorbei und wies mit langem Arm ins Wohnzimmer. »Ich lasse mir das nicht länger gefallen. Ich schlage vor, ich hole jetzt mein Diktiergerät, und dann können Sie fortfahren mit Ihren Unverschämtheiten.«

»Es liegt drüben auf der Schlafzimmerkommode.« Winterberger wies mit dem Daumen lässig über die Schulter. Er war zurückgekommen und begann nun, sich für den Besenschrank zu interessieren. Er öffnete ihn und musterte den Inhalt.

»Also gut.« Bärhalter stieß sich von der Anrichte ab. »Ich gebe zu, für einen Durchsuchungsbefehl reicht es nicht. Aber sollten wir noch einen kleinen Anhaltspunkt finden, dass Sie irgendwie in diesen Fall verstrickt sind, ich schwöre Ihnen, dann krempelt mein Kollege Ihnen tatsächlich die Wohnung um. Dafür zieht er sogar die Stiefel aus.«

Winterberger warf breit lächelnd den Kopf zurück wie ein wieherndes Pferd und schob hinter Bärhalter ab zur Wohnungstür. »Und vergessen Sie nicht«, schrie Bärhalter durchs Treppenhaus. »Wir behalten Sie im Auge.«

8

Derintop stand am Jägerzaun und sah die offene Terrassentür. Er lächelte. Da er nicht wusste, ob sich Anna Lochner womöglich im Wohnzimmer aufhielt, ging er diesmal nicht schnurgerade auf das Haus zu, sondern entlang des Zauns an einer Reihe von Rhododendren vorbei.

Er trug Jeans und ein blütenweißes Rüschenhemd, das sich eher dazu eignete, bei der Hausbank Eindruck zu machen. Derintop drückte sich gegen die Rückwand, schob seine Sonnenbrille auf die Stirn und lugte durch das große Fenster in das Wohnzimmer. Niemand da. Vermutlich war Anna Lochner oben.

Derintop zögerte nicht und glitt durch die Terrassentür ins Wohnzimmer. Er zog die Schuhe aus und stellte sie sorgfältig unter der Heizung auf dem Laminatboden ab. Es waren schwarze Halbschuhe mit einer runden Verzierung auf dem Rist und angedeuteten Schnürsenkeln. Er schlich auf weißen Socken zur Tür gegenüber und lauschte. Er glaubte, oben Schritte zu hören und überlegte einen Moment, wie er verfahren sollte: erst im Wohnzimmer suchen oder gleich nach oben.

Er schaute sich um. Das war kein gewöhnliches Wohnzimmer, fand er. Er vermisste den obligatorischen Schrank, der eine ganze Wand einnahm. Stattdessen Regale mit Büchern und allerlei Schnickschnack aus fremden Ländern. Vor dem großen Fenster eine Sitzgruppe, ein niedriger Tisch, eine offene Vitrine, jedoch nichts, wo man ein Versteck vermuten würde. Alles irgendwie offen. Derintop drückte die Klinke. Er sah vor sich den Treppenaufbau, drüben die Haustür und zog sich geduckt am Geländer die Stufen hoch. Noch vor dem oberen Treppenabsatz sah er am Ende des Flurs eine offene Tür und hörte, wie ein Ordner in ein Regal zurückgestellt wurde.

Derintop grinste wieder. Er richtete sich auf und spazierte ohne Umstände in das Zimmer: »Merhaba! Frau Lochner. Ich nehme an, Sie erinnern sich nicht mehr.« Anna Lochner war am Schreibtisch zusammengezuckt. Sie trug ein biederes, rosafarbenes Hemd und einen langen, grauen Rock und saß in einem rollbaren Bürostuhl. Sie hatte den Rücken gekrümmt, hielt beide Hände vor den Mund, als müsse sie ihren Schrei auffangen, und sah Derintop aus roten Augen entsetzt an. Der war sofort bei ihr, rollte den Stuhl mit Wucht gegen die Zimmerwand und stützte sich schwer auf die Armlehnen. Er roch nach Rosenwasser.

»Mein Gott, was wollen Sie? Wer sind Sie?«

»Wir haben uns schon mal gesehen. Jedenfalls ich Sie, Frau Lochner. Ich sage nur: Wettbüro. Viele viele Türken.« Derintop beschrieb mit dem rechten Arm einen Bogen. »Und dazwischen Ihr Mann. Beim Glücksspiel.« Derintop setzte den Zeigefinger unter sein rechtes Auge und zog die Haut etwas herab.

Anna Lochner schaute zwischen die Beine Derintops auf den Laminatboden. Sie hatte keine Chance aus der Ecke herauszukommen.

»Jaha, Glücksspiel. Und Frau Lochner war verdammt unglücklich darüber.«

»Bitte, tun Sie mir nichts, ich …«

»… und hat ihm eine Szene gemacht und ihn mitgenommen wie einen Schuljungen. Leider aber …«, Derintop griff mit der linken Hand in das splissige Haar und ruckte ihren Kopf hoch. »Leider hat der gute Mann aber später weitergespielt. Konnte es einfach nicht lassen. Tage später. Im Hotel. Wissen Sie das?« Derintop schrie sie plötzlich an und stieß ihren Kopf gegen die Wand. Anna Lochner weinte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Derintop atmete dicht über ihr. »Sie wissen das, ja? Und Sie wissen auch, dass er meinen Bruder auf dem Gewissen hat.« Er schlug mit der flachen Hand zu. »Und dass er das Geld genommen hat.« Wieder ein Schlag. »Und Sie wissen auch, wo er es versteckt hat!« Noch ein Schlag.

Anna Lochner hielt die Hände schützend vor das Gesicht.

»Na los, wo ist es? Sagen Sie es, und ich lasse Sie in Ruhe.«

»Ich weiß es doch nicht. Wirklich nicht!«

Derintop packte Anna Lochner mit beiden Händen am Hemdkragen, ruckte sie hoch, sah ihre roten Augen, das Haar, das ihr in Strähnen ins Gesicht fiel, und ließ sie zu Boden fallen. Ihre Unschuld wirkt ehrlich, stellte er sachlich fest.

»Aber Sie wissen, wo ich hier Schnüre finde, was? Paketschnüre!« Er sah das schwarze Telefonkabel über den Boden schlängeln, riss es aus der Steckdose und kniete sich über Anna Lochner. Die starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Sie waren das. Sie haben meinen Mann erschossen!«

»Vielleicht. Vielleicht ist mir auch jemand zuvorgekommen. Aber es macht keinen Unterschied.« Derintop arbeitete ruckartig, drehte ihre Arme auf den Rücken und zog die Schnur um ihr Handgelenk fest. »Ich suche jetzt nicht nach Klebeband. Wir können uns das ersparen, wenn Sie den Mund halten. Ich schaue mich ein wenig um, und dann sehen wir weiter. Okay? Teekkür ederim. Danke schön.«

Anna Lochner blieb regungslos liegen. Derintop erhob sich und ging aus dem Zimmer die Treppe hinunter.

Derintop suchte. Er suchte im Wohnzimmer, im Arbeitszimmer, in der Küche, zog Schubladen auf und wurde immer wütender. Auf dem Schreibtisch funkelten ein paar Edelsteine. Derintop fegte sie mit einer Handbewegung herunter. Derintop ging in den Keller. Man hörte lautes Rumpeln. Einmachgläser zersplitterten am Boden, ein Metallregal wurde umgestoßen. Zurück im Erdgeschoss griff er zum Schlüsselbund, der neben der Haustür an einem kleinen Holzbrett hing und trat an die metallene Seitentür. Er probierte einige Schlüssel, dann öffnete er und betrat die Garage. Er blieb etwa zehn Minuten fort, dann kam er wieder nach oben.

Anna Lochner hörte, wie er nebenan im Schlafzimmer das Bett, den Schrank, die Kommode durchwühlte.

Als er zurück ins Büro kam, zeigte sein Gesicht eine Mischung aus Wut und Enttäuschung. Er sah auf Anna Lochner herab, die auf der Seite lag und gegen die Wand starrte. Er sah, wie ihr Rock verrutscht war, er sah die weißen Seidenstrümpfe unter dem Rock. Er trat an sie heran und setzte einen Fuß auf ihren Oberschenkel. Unter seinem Socken spürte er ihr warmes Fleisch.

»Nein, bitte nicht. Bitte nicht das.«

»Doch.« Derintops Fuß rutschte höher.

»Ich kann doch gar nicht wissen, wo dieses Geld ist. Hören Sie, mein Mann und ich haben doch in der letzten Zeit eigentlich gar nicht mehr zusammen gelebt. Er war doch kaum hier.«

»Das ist aber schade. Da hat Ihnen sicher was gefehlt.« Derintops Fuß rutschte noch höher. Er sah nun ihren Slip.

Anna Lochner drehte sich auf den Rücken und versuchte, sich auf dem Laminatboden ein wenig zur Wand zu schieben, um so den Rock wieder etwas herunterzuziehen. Derintops Fuß folgte.

»Mein Mann hatte eine Geliebte. Schon seit längerem. Eine Asiatin. Er hat sich in der letzten Zeit meistens bei ihr aufgehalten. Glauben Sie mir bitte.«

»Und das soll mich davon abhalten, dass wir beide jetzt rüber ins Schlafzimmer gehen?« Derintop zog sie brutal an den Achseln hoch. »Wo finde ich diese Asiatin, heh?«

»Grünsiegelpassagen. Gleich neben dem China-Restaurant. Sie hat dort ein kleines Büro. Import Export.«

Derintop ließ sie fallen: »Import Export, das haben wir auch immer, so etwas. Passen Sie auf: Ich glaube Ihnen das. So, wie Sie hier herumwimmern, haben Sie wirklich von nichts eine Ahnung. Es kann natürlich auch sein, dass Ihr Mann das Geld doch hier irgendwo gebunkert hat, und Sie wissen das gar nicht. Wenn ich bei dieser Asiatin nicht weiterkomme, tauche ich wieder auf. Dann grabe ich Ihnen den Garten um, wenn es sein muss. Vielleicht mache ich dann auch noch was anderes.« Er stand breitbeinig über ihr und ruckte den Zeigefinger ein paar Mal gegen sie. Dann drehte er sich um, lief die Stufen hinab, öffnete die Haustür und wäre beinahe auf Socken auf die Straße getreten. Er ging zurück ins Wohnzimmer, zog die Schuhe an und verließ das Haus. Er schien sich überhaupt keine Gedanken darüber zu machen, dass er von Nachbarn gesehen werden könnte. Er trat zu seinem BMW, den er direkt vor dem Haus geparkt hatte, zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und zog die Sonnenbrille wieder von der Stirn herab. Er schaute noch einmal auf das Haus, den Vorgarten mit einigen flauschigen Büschen und auf die obere Etage, er betrachtete das alles wie ein Kaufobjekt. Dann setzte er sich in den Wagen, schaltete türkische Musik ein, eine tiefe, melancholische Frauenstimme, und fuhr los.

9.

Müßig zu spekulieren, inwieweit Lochner an Hakan Derintops Tod Schuld war. Man mochte der Ansicht sein, dass jeder schließlich für sich selbst verantwortlich ist. Findige Kriminalisten würden in einem solchen Fall eine Art Beihilfe zur fahrlässigen Selbsttötung konstatieren, ein Vorwurf, der vor Gericht erfahrungsgemäß nicht viel hergab. Hakans Bruder Kemal aber kam von seinem vorgefertigten Urteil nicht herunter, dass Lochner Hakan vorsätzlich umgebracht hatte. Die Polizei stocherte im Nebel, Bärhalter hatte inzwischen immerhin Lochners Konten durchstöbert, aber nichts Auffälliges feststellen können. Der Mann war hoch verschuldet.

Bärhalter hatte zwar davon gehört, dass es eine Szene gab, in der man sich in teuren Hotels traf und um hohe Einsätze spielte, aber das brachte ihn auch nicht weiter. Er beschloss daher, sich wieder auf den Mord an der Schwebebahn zu konzentrieren. Was drei Tage zuvor im 11. Stock des Mercuria-Hotels passiert war, interessierte also im Grunde niemanden so recht, auch nicht Derintop, der hatte ohnehin sein festes Bild. Er wusste, dass sein Bruder und Lochner sich in dieser Nacht über einem Tavla-Spiel gegenübersaßen und um hohe Einsätze spielten. Er hatte Hakan ja selbst zum Hotel gefahren und wusste, dass Lochner bereits oben auf ihn wartete.

Lochner gab sich betont gelangweilt und schaute, während Hakan Derintop die Steine zu einem neuen Spiel auf das Feld setzte, aus dem großen Fenster, das beinahe die gesamte Wand einnahm. Unten blinkten die Reklametafeln des neuen Einkaufscenters, einige wenige Autos fuhren über die breite Allee, der angrenzende Busbahnhof war bereits leer.

»Was hältst du davon, erst mal ne Nase nachzulegen«, nuschelte Lochner und fuhr sich mit der Hand durch die kurzen, schwarzen, Gel-getränkten Haare. Die beiden spielten schon seit Stunden. »Man will ja auf Zack bleiben, was, Alter?« Lochner lächelte Hakan wie ein Messer an; dünne Lippen, seine Augen waren kalt. Dabei waren die Pupillen auffallend groß, Lochner wippte ständig mit einem Bein, Übermotorik, unausgelastet.

»Warum nicht, es läuft ja sowieso gerade bestens für mich«, lachte Hakan, der in dem großen, schwarzen Ledersessel verloren wirkte. Im Gegensatz zu seinem Bruder war er ein schmächtiger junger Mann, kränklich aussehend, mit Rändern unter den Augen. Seine Pupillen waren ebenfalls geweitet, was einen maskenhaften Kontrast ergab. Hakan war der erklärte Schützling seines Bruders. Der hatte ihn mit den Worten verabschiedet: »Pass auf dich auf. Lochner ist eine Ratte. Und wenn er komisch wird, du weißt, wo dein Handy ist, ja?« Hakan war wie ein Dandy gekleidet. Er trug ein violettes Seidenhemd, eine weiße Leinenhose mit Bügelfalte. Der schwere Gürtel mit dem bronzefarbenen Büffelkopf als Verschluss wirkte, als sei er von seinem Bruder geliehen. Die Jacke hatte er an einen Kleiderhaken nahe der Tür gehängt. Ein Umschlag schaute aus der Innentasche hervor.

Lochner ging rüber zu dem breiten Tisch, der vor dem Fenster stand. Unten jagte ein Polizeiauto mit Blaulicht über die Bundesstraße, das Martinshorn war hier oben kaum zu hören. Lochner warf einen 200-Euro-Schein auf den Tisch und zog ein kleines, weißes Papier heran, das geöffnet vor ihm lag. Er griff zu einer Rasierklinge und begann mit feingliedrigen Fingern, das Kokain auf dem Papier zu tackern. In kurzen Abständen zog er – beinahe verächtlich – Luft durch die Nase, was wie eine unfeine Marotte wirkte, tatsächlich aber das Erkennungsmal eines ›altgedienten‹ Koksers war, dem man nichts mehr vormachen konnte. Vielleicht gab es da ja in irgendeinem Schleimhautwinkel noch einen winzigen Krümel, der sich, zwischen Härchen verhakt, bislang geweigert hatte, in die Blutbahn abzudriften.

»Und du glaubst also, du hättest schon gewonnen?« nuschelte er über die Schulter hinweg. »Du weißt ja, wenn wir hier nicht alles weggeputzt haben, einschließlich des Wodkas, ist überhaupt nichts entschieden. Außerdem taue ich erst immer in den frühen Morgenstunden auf. Das weißt du doch. Beim letzten Mal hattest du anfangs auch Oberwasser, und dann: niente.« Lochner schabte das Pulver erneut zu einem Haufen, zog ihn wieder mit der Klinge zu einer Leine auseinander und tackerte weiter.

»Ja, aber da ging es nur um Peanuts. Ich gehe hier mit deinen Hunderttausend raus, das kannst du mir glauben. Letztens habe ich diesen Orhan, diesen Lakai von Sa, bis aufs Hemd ausgezogen. Kannst du mir glauben. Bis aufs Hemd. Sa fand das gar nicht witzig, obwohl es ja nicht seine Kohle war.« Manchmal versuchte Hakan Lochners lässige Ausdrucksweise nachzuahmen, weil er ihn und seine zur Schau gestellte Unverschämtheit insgeheim bewunderte. Allerding wirkte das bei Hakan aufgesetzt, ja lächerlich. »Was ist nun?« Hakan warf betont ungeduldig die Würfel über das Spielbrett.

»Kannst es nicht erwarten? Was? Kitzelt‘s in der Nase? Mach dich doch nützlich. Schenke Wodka nach, Orangensaft dazu, randvoll alles, wie man es bei euch in der Türkei gewohnt ist. Wegen mir klingle unten an, wie das mit ein paar frischen Orangenscheiben aussieht. Das Zimmer geht sowieso auf deinen Namen, ich hab das so angeleiert. Sag einfach Derintop, dann wissen die Bescheid.«

»Das Restaurant hat doch längst geschlossen.«

Lochner kicherte vornübergebeugt. Es war eher ein Kichern durch die Nase, und ein paar Kokain-Krümel rutschten über die Tischplatte. »Hakan, wie wir ihn kennen. Immer bescheiden. Ich sag dir, so kommst du zu nichts. Du musst aus den Leuten rausholen, was nur geht, sonst kriegst du am Ende gar nichts. Soll dieser Nachtheini an der Rezeption doch zusehen, wo er die Orangen herkriegt.« Hakan hatte inzwischen die beiden sechseckigen Gläser, die neben dem Spielbrett auf dem Tisch standen, gefüllt – fast bis zum Rand. Er hörte jetzt, wie Lochner mit einem kurzen, heftigen Zug Kokain durch den Geldschein einsog. Hakan sprang auf und stellte sich neben Lochner.

»Ich hab dir auch gleich eine Line langgezogen. Wenn du sowas machst, sieht das immer aus wie ein Schlachtfeld. Wahrscheinlich zu gierig.« Hakan griff nach dem Geldschein, der zusammengerollt auf dem Tisch lag, aber Lochner kam ihm zuvor: »Ja, wer wird denn gleich! Immer auch an die Hygiene denken. Als hätte er nicht selbst genügend Scheine.« Hakan ging schnell hinüber zum Spieltisch und zog einen Schein von seinem Geldstapel. Lochner folgte ihm, griff nach dem Glas, trank einen kleinen Schluck und lümmelte sich in den Ledersessel. Er hörte, wie Hakan zurückging und hinter ihm mit einem tiefen Zug das Kokain einsog, die Luft möglichst lange anhielt, als würde er es inhalieren, und dann wieder ausatmete.

»So, komm, keine Zeit verlieren. Jetzt kommt die Wende.« Lochner baute die dunklen Steine in seinem Homeboard auf. Die beiden spielten weitere Stunden, setzten mit raschen Bewegungen ihre Steine auf dem Brett, Lochner tat das mit gesteigerter Arroganz, dem es nichts auszumachen schien, dass Hakans Geldstapel wuchs. Die Flasche Wodka wurde leer. Hakan zeigte einen irren Glanz in den Augen. Die Abstände, in denen die beiden Kokain schnupften, wurden geringer.

»So kommen wir nicht weiter.« Lochner warf sich in seinem Sessel zurück. Aus seiner schwarzen Herrentasche, die neben ihm auf dem Beistelltisch lag, zog er eine Einwegspritze hervor, eine gelbe Plastikflasche Zitronensaft, ein weiteres Briefchen, in dem vermutlich weiteres Pulver steckte. »Hast du schonmal was von nem Cocktail gehört?« Hakan schüttelte den Kopf und starrte beinahe ehrfürchtig auf das Papier. »Nein? Koks und Heroin, die geilste Mischung, die dir jemals untergekommen ist. Sag ich dir.«

»Ja, aber spritzen?«

»Anders bringt‘s das nicht. Das Zeug muss direkt ab ins Blut. Das eine wie das andere. Und zwar gleichzeitig. Wenn du das erst über die Nase nacheinander einnimmst, oh Mann, it takes ages. Nein, das muss gleichzeitig ankommen. Hier.« Lochner hielt die Spritze hoch und schnipste mit dem Zeigefinger dagegen, als sei sie schon gefüllt. »Mach dir keine Sorgen, ich richte alles an. Du kannst ja in der Zeit den Nachtwächter beschäftigen. Frag ihn, wo der Wodka bleibt.«

Lochner ging wieder zum großen Tisch am Fenster. Es war kaum Verkehr auf der breiten Straße unter ihm.

»Mensch, Lochner, es ist halb fünf. Da gibt es nichts mehr.«

Hakan blieb auf seinem Stuhl sitzen und beobachtete, wie Lochner das Kokain auf einen Esslöffel gab, Wasser darüber träufelte und Zitronensaft. Dann hielt er die Flamme des Feuerzeugs unter den Esslöffel und kochte das Kokain auf. Die Unterseite des Löffels wurde schwarz. Er zog die Flüssigkeit mit der Spritze auf, legte sie beiseite und trocknete den Löffel mit einem Ende des Vorhanges. Seine Bewegungen waren flink und sicher. Er nahm ein zweites Briefchen, faltete es auseinander und tackerte das Heroin mit der Rasierklinge klein. Dann schabte er es mit der Klinge auf den Löffel. Dieselbe Prozedur wie mit dem Kokain. Lochner zog auch diese Flüssigkeit in die Spritze, hielt sie vor das Gesicht und schnippte mit dem Zeigefinger dagegen, um Luftbläschen aufsteigen zu lassen.

»Was ist? Ärmel hoch.«

»Beide?«

Lochner kicherte. »Quatsch. Kriegst wohl nie genug, was? Hat überhaupt keine Ahnung, der Mann. Wie viele Spritzen siehst du hier in meiner Hand. Zwei?« Lochner dirigierte Hakan hinüber zum breiten Bett, auf dem eine schwere, weiße Tagesdecke ausgebreitet lag. »Mach es dir gemütlich. Ich zeige dir jetzt, wie das geht. Zuerst mal brauchen wir deinen Gürtel.

»Muss das sein?«

»Sicher muss das sein. Meinst du, ich will zusehen, wie du dir stundenlang in den Venen rumstocherst?«

»Wieso ich? Ich hab das noch nie selbst gemacht.« Hakans Gesicht zeigte eine Mischung aus Angst und Neugierde. Zögernd zog er den Gürtel ab. Der Büffelkopf schlug gegen die Bettkante.

»Mein Gott, ein schwereres Exemplar konntste dir wohl nicht aussuchen, was? Na, gib schon her.«

Hakan blieb am Rand des Bettes steif im Hohlkreuz sitzen. Über ihm hing an der Wand ein Ölgemälde mit Landschaftsmotiv: Irgendwelche Bauern stocherten mit Mistgabeln im Stroh herum. Lochner band Hakan den rechten Oberarm ab. Der Büffelkopf hing schwer herunter.

»So, und jetzt kommt dein Einsatz. Mach ein paar Mal kurz hintereinander eine Faust, und dann suchst du dir in aller Ruhe eine schöne Vene hier in deiner Armbeuge.« Hakan befolgte Lochners Answeisungen. »Sieht ja gar nicht so schlecht aus. Kann man ja fast reinwerfen die Spritze. So, und jetzt stichst du einfach rein und ziehst die Spritze vorsichtig ein wenig zurück. Wenn Blut kommt, hast du gewonnen, dann kannst du das Zeug reinpumpen. Hast du kapiert?«

Hakan nickte. Er nahm die Spritze aus Lochners Hand. »Und? Was ist mit dir? Willst du denn nicht?«

»Türken haben den Vortritt.«

Lochner sah, wie Hakan zögernd die Spritze ansetzte. Es funktionierte. Der Typ schien gar nicht so blöd zu sein. Blut lief in die Kanüle, Lochner löste den Gürtel, und Hakan stach langsam zu, bis zum Anschlag.

»So, und jetzt ziehst du noch einmal kurz zurück und stichst wieder zu, und das isses dann.«

Hakan nickte. Als er fertig war, zog er die Spritze aus dem Arm und reichte sie Lochner.

»Und jetzt leg dich ein bisschen hin, ein paar Sekunden.« Hakan sank auf die Tagesdecke. Er atmete schwer. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Lochner wischte ihm mit einem Papiertaschentuch das Blut aus der Armbeuge. »Na, was sagen wir dazu?«

Hakan sagte gar nichts mehr. Mit einem Ruck bäumte sich sein Oberkörper auf und fiel wieder zurück. Er schnappte hektisch nach Luft, bäumte sich wieder auf, fiel zurück.

»Heh, mach kein Scheiß!«

Nach einer Minute machte Hakan gar nichts mehr. Er lag reglos auf der Tagesdecke, den rechten Ärmel des violetten Hemdes hochgekrempelt, der schwere Büffelkopf hing über die Bettkante herunter.

Lochner stand auf und starrte einen Moment entgeistert auf den leblosen Körper. Dann drehte er sich abrupt um und begann, in aller Eile seine Utensilien einzusammeln, die Spritze, die Briefchen, sein Geld, die Herrentasche. Das Tavla-Spiel konnte liegen bleiben, es gehörte Hakan. Die Gläser, den Tisch und was nicht alles abzuwischen, machte keinen Sinn, er würde jetzt nicht stundenlang hier herumputzen. Lochner ging zur Tür. Er blieb noch einen Moment stehen, hielt die Klinke in der Hand, und schaute ungläubig auf das Bett. Hakan hielt die Augen weit geöffnet und starrte leer gegen die Zimmerdecke. Lochner riss die Tür auf, Hakans Jacke wurde durch den Luftzug leicht am Kleiderhaken bewegt.

Als Lochner aus dem Fahrstuhl trat, hatte er sich wieder gefasst. Ein schläfriger Portier mit Glatze und grauem Haarkranz saß an der Rezeption und nickte ihm hinterher, wie er das jede Nacht hundert Mal tat.

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