Kitabı oku: «Einführung in die philosophische Ethik», sayfa 3

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Auf dem konventionellen Niveau befindet sich ein Großteil der Jugendlichen und Erwachsenen. Die ichbezogene Haltung der vorangehenden Ebene wird hier durch eine gemeinschaftsbasierte Moralität abgelöst, die auf einer ernsthaften Identifikation und aufrichtigen Loyalität mit den Vorstellungen und Strukturen des persönlichen Umfelds bzw. der Gesellschaft insgesamt beruht. Die 3. Stufe ist durch das Bewusstsein fremder Erwartungen und das Bestreben nach entsprechender Anerkennung geprägt (Mentalität des good boy/nice girl). Moralische Stellungnahmen rekurrieren nicht länger auf die materiellen Konsequenzen, die Handlungen in Form von Strafe oder Belohnung nach sich ziehen, sondern auf den sozialen Respekt, den man für das eigene Verhalten in seiner Umgebung findet. Die Rollenvorgaben des Beziehungsumfelds werden dabei unhinterfragt akzeptiert, Zustimmung oder Ablehnung anderer sind direkter Maßstab des Handelns und unmittelbare Quelle von Selbstwert- bzw. Schuldgefühlen. Auf der 4. Stufe dominiert die Auffassung, dass bestimmte Regelungen für das gemeinschaftliche Zusammenleben unentbehrlich und deshalb einzuhalten sind (Bedeutung von law and order). Im Vordergrund steht nicht mehr der Wunsch nach Billigung durch nahestehende Bezugspersonen, sondern das Bekenntnis zur Relevanz sozialer Normen. Moralische Bewertungen stützen sich wesentlich darauf, dass die Einhaltung von ›Gesetz und Ordnung‹ notwendig ist, um den Erhalt der bestehenden Gesellschaft zu sichern, deren Gefüge ohne kritische Distanz bejaht wird.

Das postkonventionelle Niveau erreicht nach Kohlberg nur eine Minderheit von Erwachsenen. Hier emanzipiert sich Moralität von vorgegebenen Erwartungen und Ordnungen, um stattdessen auf unabhängige Standards mit übergeordneter Gültigkeit zu rekurrieren. Auf der 5. Stufe ist die Einhaltung freier Übereinkommen zum Vorteil der beteiligten Individuen der relevante Maßstab (von ca. 25% aller Erwachsenen erreicht). Es wird nicht länger jede Norm anerkannt, auf der die bestehende gesellschaftliche Struktur beruht, sondern es werden nur solche Normen gebilligt, die auf soziale Übereinkunft zurückgehen und dem allgemeinen Nutzen dienen. Zentraler Referenzpunkt moralischer Stellungnahmen ist das durch solche Vereinbarungen zu realisierende ›größte Glück der größten Zahl‹. Die 6. Stufe stellt universelle Prinzipien sehr abstrakter Natur in den Vordergrund (von unter 5% aller Erwachsenen erreicht). Moral wird nun nicht mehr als freie Verabredung zum größtmöglichen Vorteil verstanden, sondern als verbindliches Set von allgemeingültigen Grundsätzen, denen gesellschaftliche Übereinkünfte auch ungeachtet ihres etwaigen Nutzens zu entsprechen haben. Ihr Inhalt sind dabei fundamentale ethische Prinzipien wie die Anerkennung gleicher Menschenrechte oder die Achtung der unverletzlichen Menschenwürde.


Präkonventionelles Niveau1. Stufe: Strafvermeidung durch Gehorsam2. Stufe: Bedürfnisbefriedigung durch Austausch
Konventionelles Niveau3. Stufe: Erwartung und Anerkennung4. Stufe: Gesetz und Ordnung
Postkonventionelles Niveau5. Stufe: freie Übereinkunft zum allgemeinen Nutzen6. Stufe: universelle Prinzipien abstrakter Natur

Bei der Einordnung, auf welcher dieser sechs Moralstufen sich eine bestimmte Person befindet, ist nicht so sehr entscheidend, für welche Handlungsalternative sie sich in einem gegebenen Fallbeispiel entscheidet, sondern vielmehr, welche Form der Begründung sie hierfür angibt. Dies lässt sich an dem oben zitierten ›Heinz-Dilemma‹ leicht verdeutlichen: Lehnt jemand den Diebstahl ab, weil der Ehemann sonst eine Haftstrafe riskiert, so befindet er sich auf der 1. Stufe. Lehnt er ihn hingegen ab, weil er das Eigentum anderer Personen für grundsätzlich unantastbar hält, so bewegt er sich auf Stufe 6. Man kann auf dieser 6. Stufe den Diebstahl freilich auch befürworten, indem man erklärt, dass das Lebensrecht der Frau die Besitzansprüche des Apothekers prinzipiell überwiegt. Ebenso gut kann man ihn indessen auf Stufe 1 befürworten, indem man anführt, dass der Ehemann andernfalls Sanktionen seitens seiner Frau zu befürchten hat.

(3) Auf den ersten Blick scheint Kohlbergs Stufenmodell ›normativ neutral‹ zu sein: Keine der möglichen Antworten auf seine Fallbeispiele wird von ihm als moralisch richtig oder falsch vorausgesetzt. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass sein vermeintlich ›rein deskriptives‹ Schema sehr wohl mit normativen Wertungen einhergeht: Ganz offensichtlich zeigen die verschiedenen Begründungsformen auf den einzelnen Stufen einen zunehmenden Fortschritt in der moralischen Entwicklung an, ein Verharren auf niederen Stufen hat als Symptom eines moralischen Defizits zu gelten. Kohlberg mag sich daher zwar enthalten, bestimmte Lösungen seiner Fallbeispiele als korrekt oder verfehlt auszuweisen. Aber ohne Zweifel schätzt er bestimmte Argumentationsmuster als höherstufig oder niederrangig ein.

Man könnte hierauf entgegnen, dass Kohlberg nichts weiter als eine faktische Abfolge wiedergebe, auf die er in den moralischen Argumentationen seiner Probanden gestoßen sei. Solch ein Resultat zu präsentieren und durch entsprechende Klassifikationen aufzuarbeiten, sei ein rein deskriptives Vorgehen ohne jegliche normative Einlassungen. Tatsächlich aber spricht Kohlberg eben nicht nur von einem Nacheinander, das in den Moralurteilen von Menschen zu beobachten ist (d.h. von einem bloßen ›Früher‹ oder ›Später‹); dann wäre auch denkbar, dass man die späteren Stadien als niederrangig gegenüber den früheren erachtete, also die vorgefundene zeitliche Entwicklung, zumindest ab einer bestimmten Phase, als einen moralischen Verfall interpretierte (wie man etwa den Lebenszyklus eines Organismus ab einem gewissen Zeitpunkt als eine Abwärtsbewegung ansehen mag). Vielmehr spricht Kohlberg von Stufen, die Menschen in ihrer Moralität erreichen können (also von einem objektiven ›Niedriger‹ oder ›Höher‹); er behauptet einen eindeutigen Fortschritt in jener Entwicklung, hin zu ständig überlegenen Formen von Moralität (mit abschließendem Höhepunkt auf der 6. Stufe).

Ersichtlich ergänzt Kohlberg seine empirischen Befunde also um eine moralische Bewertung. Ähnlich wie Smith vollzieht damit auch er einen Übergang von deskriptiver Ethik zu normativer Ethik. Und tatsächlich lässt sich sein Ansatz innerhalb der normativen Ethik recht eindeutig lokalisieren: In den beiden höchsten Stufen erkennt man unschwer Moralauffassungen, die primär durch den Utilitarismus (Stufe 5) bzw. durch den Kantianismus (Stufe 6) vertreten werden. Indem Kohlberg Stufe 6 als überlegen gegenüber Stufe 5 darstellt, bekennt er sich unmissverständlich zu einer Deontologie kantianischen Typs (vgl. Kapitel 5). Eine Teleologie utilitaristischen Zuschnitts erscheint bei ihm demgegenüber als defizitär, als Festhalten an einer unterentwickelten Moral (vgl. Kapitel 6).

2.3 Luhmann: Moral und funktionale Differenzierung

Die Moralität von Kollektiven ist Thema einer großen Anzahl soziologischer Untersuchungen. Hierbei kann es sowohl um die Entstehung und Gestalt spezifischer Moralen in bestimmten Epochen oder Regionen gehen als auch um die grundsätzliche Bedeutung von moralischen Überzeugungen in menschlichen Gemeinschaften. Als einer der ersten Moralsoziologen gilt Émile Durkheim (1858–1917), der vor allem die Bindungskraft der Moral für die Gesellschaft hervorhob. Niklas Luhmann (1927–1998) äußert sich in dieser Hinsicht skeptischer, indem er moralischen Einstellungen kaum soziale Integrationskraft und eher ein erhebliches Konfliktpotential attestiert.

(1) Grundlage für Luhmanns Betrachtung von Moralität ist ein systemtheoretischer Ansatz, in dem die Interaktionen innerhalb einer menschlichen Gesamtgesellschaft sowie die Wirkungsweisen ihrer sozialen Unterbereiche als Tätigkeiten und Wechselbeeinflussungen von Systemen begriffen werden. Dieser Zugang zeichnet sich nicht so sehr durch empirische Untersuchungen im Sinne konkreter Feldforschung aus, sondern eher durch begriffliche Arbeit auf recht abstraktem Niveau. Deren Ziel ist jedoch eine umfassende Beschreibung faktischer Gesellschaftsstrukturen, u.a. mit Blick auf die Rolle der Moral in der Gesellschaft. In diesem Sinne betreibt auch Luhmann deskriptive Ethik, wobei sein Ausgangspunkt die folgende Definition von Moral ist:

»Die Gesamtheit der faktisch praktizierten Bedingungen wechselseitiger Achtung oder Mißachtung macht die Moral einer Gesellschaft aus. [...] Moral ist also ein Codierprozeß mit der spezifischen Funktion, über Achtungsbedingungen Achtungskommunikation [...] zu steuern.« [LUHMANN 1978, 51]

Moral wird hier eindeutig als ein soziales Phänomen gefasst, als ›Moral einer Gesellschaft‹. Genauer wird sie über ihre soziale Funktion definiert, als Bedingungsgefüge für die Zuweisung von ›Achtung oder Missachtung‹. Angesichts dieser Funktion ist Moral grundsätzlich universell anwendbar: Achtung oder Missachtung ist eine sehr elementare Einstufung, die in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen greifen kann, innerhalb von privaten Beziehungen wie Freundschaft oder Liebe ebenso wie gegenüber öffentlichen Systemen wie Wirtschaft oder Politik. Allerdings gerät diese universelle moralische Einstufung nach Luhmann unweigerlich in Schwierigkeiten, sobald die verschiedenen sozialen Bereiche auseinander driften und selbständig werden. Eben dies ist nach Luhmann in modernen Gesellschaften zunehmend der Fall: Private Beziehungen und öffentliche Systeme entkoppeln sich voneinander, die öffentlichen Systeme ihrerseits differenzieren sich gegeneinander aus. Luhmanns Grundthese ist, dass Moral vor diesem Hintergrund nicht mehr, wie es ihr früher noch gelungen sein mag, sämtliches Verhalten in einen einheitlichen Horizont integrieren kann. Insbesondere vermag sie nicht, die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme zu koordinieren und deren spezifische Operationen in einem bestimmten, moralischen Sinne zu bündeln. Dies wird zwar regelmäßig von ihr erwartet, aber es übersteigt notwendig ihre Möglichkeiten [LUHMANN 1987, 317–325].

(2) Moderne Gesellschaften sind nach Luhmann in verschiedene Teilsysteme ausdifferenziert. Wichtige Beispiele sind Wirtschaft, Politik, Wissenschaft oder Recht. Hierbei handelt es sich nicht um kleinere Untereinheiten aus separaten Personengruppen (so wie Gesellschaften früher in streng abgegrenzte Clans oder Adelshäuser, Schichten oder Stände eingeteilt waren). Vielmehr handelt es sich um hochspezialisierte Funktionssysteme mit besonderen Aufgaben (wobei ein und dieselbe Person durchaus verschiedenen Systemen gleichzeitig angehören kann und einige Systeme sogar ausnahmslos sämtliche Gesellschaftsmitglieder erfassen). Die Wirtschaft regelt den Güterverkehr und vermindert dadurch Knappheit. Die Politik ermöglicht kollektiv bindende Entscheidungen und sichert dadurch die Handlungsfähigkeit der Gesamtgesellschaft. Die Wissenschaft generiert Theorien und erzeugt dadurch Wissen. Das Recht klärt wechselseitige Erwartungen und verschafft dadurch Sicherheit bezüglich fremden Verhaltens [vgl. LUHMANN 1998, 595–618].

Diese Funktionssysteme sind nicht aufeinander reduzierbar, d.h. sie können sich in ihrer Aufgabenerfüllung nicht wechselseitig ersetzen. Insbesondere üben sie je eigene Kommunikationsformen aus, indem sie mit jeweils besonderen ›Codes‹ operieren. Codes sind binäre, d.h. zweiwertige Unterscheidungsschemata, welche die Wahrnehmung eines gegebenen Systems orientieren und damit die Komplexität seiner Kommunikation erheblich verringern. Genauer handelt es sich um Präferenzcodes, bei denen innerhalb des gegebenen Systems der eine Wert des Codes bevorzugt, der andere gemieden wird. Die Zuweisung des Codes erfolgt über das jeweilige ›Programm‹ des Systems. Dieses Programm legt fest, wie in dem gegebenen System die beiden Werte des Codes zugesprochen werden. Die Wirtschaft etwa operiert mit dem Code ›haben/nichthaben‹ und folgt dabei dem Programm des Marktes (jedenfalls in einer Marktwirtschaft). Die Politik verwendet den Code ›machtüberlegen/machtunterlegen‹ und weist ihn durch das Programm der Wahl zu (jedenfalls in einer Demokratie). Der Code der Wissenschaft lautet ›wahr/falsch‹, attestiert gemäß den vorherrschenden Theorien. Der Code des Rechts heißt ›recht/unrecht‹, zugesprochen nach den geltenden Gesetzen [vgl. LUHMANN 1998, 359–393].

Diese funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften hat viele Vorteile: Sie stellt eine Form von Arbeitsteilung dar, in der unterschiedlichste Aufgaben von hochspezialisierten Teilsystemen bewältigt werden können. Sie hat aber auch zur Folge, dass es nur sehr begrenzte Möglichkeiten für eine gezielte Beeinflussung gesellschaftlicher Prozesse gibt: Es existiert keine zentrale Regelungsinstanz für die Gesamtgesellschaft, und es kommt zu keiner wechselseitigen Koordination der Teilsysteme. Dies liegt insbesondere daran, dass sich Funktionssysteme durch ihre ›operative Schließung‹ auszeichnen: Eigene Operationen folgen stets vorhergehenden Operationen des gleichen Typs, nicht den Vorgaben anderer Systeme.

Zwar kann jedes System auf seine Umwelt Bezug nehmen, zu der auch die jeweils anderen Systeme gehören. Es kann also zweifellos über die anderen Systeme kommunizieren. Aber es tut dies allein in seiner speziellen Kommunikationsform, mit seinem Code und gemäß seinem Programm. Es kann daher nicht mit den anderen Systemen kommunizieren, nicht deren Bewertungen beeinflussen oder diese in die eigenen Bewertungen aufnehmen. Gewiss existieren ›strukturelle Kopplungen‹ zwischen Systemen und ihrer Umwelt, durch die ein System in einem anderen System bestimmte Reaktionen oder Resonanzen hervorrufen kann. Doch es gibt keine geteilte Kommunikationsform, die eine gemeinsame, kontrollierte Ausrichtung der Teilsysteme oder gar der Gesamtgesellschaft ermöglichen würde.


Funktionssysteme und Kommunikationsformen nach Luhmann
SystemFunktionCodeProgramm
WirtschaftMinderung von ökonomischer Knappheithaben/nichthabenMarkt
PolitikKapazität zu bindenden Entscheidungenmachtüberlegen/machtunterlegenWahl
WissenschaftErzeugung von Wissenwahr/falschTheorien
RechtKlärung von Erwartungenrecht/unrechtGesetze

Diese Liste ist nicht vollständig: Es gibt noch weitere Teilsysteme, etwa Religion oder Erziehung, mit ihren eigenen Funktionen, Codes und Programmen. Die Moral gehört allerdings nicht dazu: Moral hat zwar eine Funktion, nämlich die Zuweisung von Achtung und Missachtung. Eben diese Funktion ist aber zu allgemein und zu fundamental, als dass sich Moral damit zu einem klar definierten Teilsystem ausdifferenzieren könnte. Ihre Allgemeinheit und Fundamentalität bedeutet damit nach Luhmann keineswegs einen Vorteil. Im Gegenteil, fehlende Ausdifferenzierung macht die Moral zu einer weit weniger beständigen und wirksamen Erscheinung als die skizzierten Funktionssysteme. Vor allem aber kann auch die Moral nicht steuernd in jene Systeme eingreifen.

Auch Moral hat einen Code, nämlich gut/schlecht. Mit diesem binären Präferenzcode vollzieht sie ihre spezifische Zuweisung von Achtung oder Missachtung. Er unterliegt seinerseits bestimmten Programmen, nämlich den jeweils herrschenden Moralvorstellungen in einer Gesellschaft. Jene Moralvorstellungen können sich durchaus auf Geschehnisse in anderen Funktionssystemen beziehen und ihnen entsprechend die Werte gut/schlecht zuweisen. Aber sie können nicht die Codes dieser anderen Funktionssysteme programmieren. Vielmehr folgen deren Codes eigenen Programmen, worin gerade der Sinn funktionaler Ausdifferenzierung besteht [vgl. LUHMANN 1978, 57–59, 88–91].

In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist es daher nach Luhmann eine verfehlte Erwartung, dass Moral kontrolliert auf die einzelnen Teilsysteme einwirken und diese zu moralischen Funktionsvollzügen bewegen könnte. Moral kann nicht bestimmen, wie die Wertzuweisungen in den anderen Systemen erfolgen, da diese Systeme weitgehend autonom agieren, gemäß ihren je eigenen Aufgaben. Insbesondere ist es nach Luhmann ein irriger Gedanke, dass zunächst Moral die Politik bestimmen könnte, etwa über demokratische Wahlen oder geeignete Beratung, und anschließend die Politik die anderen Funktionssysteme kontrollieren sollte, etwa die Wirtschaft über das Recht. Erstens ist die Politik nicht moralisch zu programmieren, da sie alles externe Geschehen, mit dem sie konfrontiert wird, und insbesondere alle moralischen Forderungen, die an sie herangetragen werden, in ihre spezifische Sprache von Macht oder Ohnmacht, von Regierung oder Opposition übersetzt. Diese Übersetzung ist stets verlustbehaftet, so dass sich moralische Forderungen niemals in ihrer unverfälschten Gestalt in die Politik transferieren lassen. Zweitens ist die Politik ihrerseits nur ein Teilsystem, keineswegs die Spitze oder das Zentrum der Gesellschaft, und kann daher mit ihren Beschlüssen zwar sicherlich Effekte in anderen Systemen erzeugen, aber kaum gezielte Absichten verwirklichen oder konkrete Vorgaben umsetzen. Versuche etwa, mit rechtlichen Regelungen wie Steuergesetzen politische Ziele in der Wirtschaft durchzusetzen, misslingen regelmäßig, weil die Wirtschaft alle politischen bzw. rechtlichen Vorgaben in ihren Code, d.h. in die Frage von Haben oder Nichthaben, von Zahlen oder Nichtzahlen, überträgt und diese Übertragung immer unvollkommen bleibt. Der ganze Ansatz einer Moralisierung der Politik und einer Politisierung anderer Systeme ist damit nach Luhmann hinfällig [LUHMANN 2002, 7–14, 111–118].

Moral kann keinen kontrollierenden Einfluss auf die verschiedenen Teilsysteme nehmen und deren jeweilige Funktionen auf kein sinnvolles Ziel hinordnen. Eher schon erzeugt sie schädliche Irritationen in den anderen Systemen. Entsprechend hat sie auch keine Integrationskraft für die Gesamtgesellschaft. Stattdessen weist sie ein hohes Streitpotential auf, führt zu Abstoßung und Verfeindung, erschwert mögliche Lösungen und befeuert bestehende Konflikte. Sie mag eine allgemeine Alarmierfunktion ausüben, wenn es zu gesamtgesellschaftlichen Fehlentwicklungen kommt (etwa in Form von sozialen Ungleichheiten oder ökologischen Krisen). Auch hier bleibt ihre Wirkung aber beliebig und inflationär, weil sie keine eindeutigen Kriterien anzubieten hat und lediglich bestehende Empörung aufheizt. Sie mag gegebene Warnsignale verstärken, wenn bestimmte Funktionssysteme durch systemfremde Einflüsse unterlaufen werden (etwa in Gestalt von Korruption in Wirtschaft oder Politik). Selbst hier aber, wo sie ohnehin keine eigenständige Perspektive eröffnet und nur eine abhängige Bedeutung hat, bleibt ihr Vorgehen utopisch und aufgeladen, indem sie die Illusion einfacher Entscheidungen weckt und Entrüstung über medienwirksame Skandale schürt [LUHMANN 1987, 121f., 318, 325; LUHMANN 1998, 248, 403–405].

(3) Mit dieser Deutung von Moral wirkt Luhmanns Modell alles andere als normativ intendiert oder auch nur anschlussfähig: Moral erscheint als hilflos, sogar als abträglich für moderne Gesellschaften. Normative Überlegungen zur angemessenen Gestalt moralischer Überzeugungen wirken vor diesem Hintergrund naiv und verfehlt. Dennoch lässt sich fragen, ob dieser skeptischen Auffassung von Moral nicht womöglich eine verborgene normative Perspektive zugrunde liegt: Immerhin ist jene Ablehnung von Moral selbst ein Urteil. Die Frage ist, ob dieses Urteil nicht in letzter Konsequenz moralischer Art ist.

So scheint Luhmann zunächst die funktionale Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften, an der Moral angeblich scheitert, tendenziell positiv zu bewerten: Möglicherweise erkennt er in ihr einen Selbstzweck, dahingehend dass sie einen höheren historischen Entwicklungsstand anzeigt, möglicherweise betrachtet er sie als Mittel, um bestimmte wünschenswerte Effekte zu erzielen. In beiden Fällen lägen bestimmte moralische Stellungnahmen zugrunde, nämlich dass jene geschichtliche Entfaltung an sich selbst gut ist bzw. dass die erreichten Vorteile tatsächlich erstrebenswert sind. Auch sein Vorwurf, Moral heize gesellschaftliche Konflikte an, bringt einen normativen Maßstab ins Spiel: Dass derartige Konflikte zu vermeiden sind, mag eine verbreitete und nachvollziehbare Auffassung sein. Das ändert aber nichts daran, dass es sich um eine Bewertung moralischer Art handelt.

Gelegentlich erklärt Luhmann auch, dass gerade das unkoordinierte Operieren der einzelnen Teilsysteme den Erfolg und sogar das Überleben der Gesamtgesellschaft gefährden könne: Die funktionale Ausdifferenzierung lasse zuweilen fehlerhafte Kommunikation, irrationale Effekte, zu wenig oder zu viel Resonanz zwischen den Systemen sowie unzureichende oder falsche Reaktionen auf die Umwelt entstehen. Auch in diesen Einschätzungen sind nicht allein deskriptive Darstellungen, sondern normative Wertungen am Werk, nämlich dass bestimmte Arten von Zusammenwirken und zumindest das Fortbestehen der Gesamtgesellschaft wünschenswert sind. Und möglicherweise könnte, anders als Luhmann meint, Moral doch hilfreich sein, um diesen Gefahren zu begegnen: Womöglich müsste es eine Moral sein, die durch die Ergebnisse von Luhmanns deskriptiver Ethik geeignet aufgeklärt über ihren begrenzten Einfluss und ihre potentielle Schädlichkeit ist. Dies ließe aber Raum für eine positive Rolle von Moral, deren Grundsätze und Kriterien eine geeignete normative Ethik im Anschluss an Luhmanns implizite Wertungen ausarbeiten könnte.

2.4 Zum Zusammenhang von deskriptiver und normativer Ethik

Die drei vorangehenden Abschnitte haben keine vollständige Darstellung der deskriptiven Ethik gegeben, sondern nur einige prominente Beispiele in ihren wesentlichen Komponenten skizziert. Es gibt abweichende Ansätze in Moralphilosophie, Moralpsychologie und Moralsoziologie. Nicht zuletzt sind die spezifischen Befunde von Smith, Kohlberg und Luhmann gelegentlicher Kritik von anderer Seite ausgesetzt.

Bei Smith etwa wird nachgefragt, ob das menschliche Einfühlungsvermögen in der Tat bevorzugt auf fremde Freude mit eigener Freude, auf fremdes Leid mit eigenem Leid antwortet, statt dass vielleicht eher umgekehrt Neid bzw. Schadenfreude typische Gefühlreaktionen auf derartige Primärempfindungen sind. Mit Blick auf Kohlbergs Arbeiten wird sowohl die grundsätzliche Relevanz von Stufenmodellen als auch die behauptete Unabhängigkeit seines Entwurfs von Kultur und Geschlecht kontrovers diskutiert. Luhmanns Konzeption gibt Anlass zu Zweifeln, ob ein vergleichsweise starres Schema von weitgehend strukturgleichen Systemtypen die ganze Vielfalt der sozialen Wirklichkeit einzufangen vermag und ob die Einstufung der Moral als einerseits allumfassend, andererseits wirkungslos ihrer Rolle in der Gesellschaft vollständig gerecht wird.

Die jeweiligen Anklänge normativer Ethik, die in den drei Beispielen auftauchten, sind selbstverständlich ebenso wenig unumstritten: Der Utilitarismus, auf den Smiths Ansatz hinausläuft, wird nicht von jedem geteilt. Der Kantianismus, den Kohlbergs Modell favorisiert, ist nicht allgemein akzeptiert. Der Skeptizismus, der sich in Luhmanns Theorie ausdrückt, findet Befürworter wie Gegner. Entsprechend werden die Vorzüge und Nachteile dieser Positionen in späteren Kapiteln noch genauer erörtert. Wichtig zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist lediglich, dass die jeweiligen Übergänge von deskriptiver zu normativer Ethik in den drei Beispielen auf grundsätzlich korrekte Weise stattfinden – nämlich indem die normative Bewertung der deskriptiven Beschreibung hinzugefügt wird, als unabhängige Ergänzung eigenständiger Art.

Formal problematisch wäre demgegenüber, wenn das normative Urteil unmittelbar aus dem deskriptiven Befund folgen sollte: Smith mag feststellen, dass reale Menschen zumeist ›aufmerksame Zuschauer‹ sind, und er mag hervorheben, dass die ideale Position eines ›unparteiischen Zuschauers‹ demgegenüber moralisch überlegen wäre; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem schließen. Kohlberg mag bemerken, dass Individuen in ihrer Entwicklung eine bestimmte Abfolge des moralischen Urteils durchlaufen, und er mag behaupten, dass diese zeitliche Abfolge einen moralischen Fortschritt darstellt; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem ableiten. Luhmann mag aufzeigen, dass moralische Einstellungen in modernen Gesellschaften eher konfliktverschärfend als integrierend wirken, und er mag anmerken, dass diese Konstellation ein Problem ist; aber er kann Letzteres nicht aus Ersterem folgern. Der Grund ist, dass normative Aussagen nicht ohne Weiteres aus faktischen Aussagen deduzierbar sind – auch nicht aus faktischen Aussagen über bestehende Moralvorstellungen. Dieser Zusammenhang wird in Abschnitt 3.1 genauer erläutert, unter der Überschrift des Sein-Sollen-Fehlschlusses bzw. des naturalistischen Fehlschlusses.

Fragen und Aufgaben

1.Bei einem Schiffsunglück sieht ein Beteiligter sein eigenes Leben, das seiner Angehörigen und das fremder Menschen bedroht. Versuchen Sie, an diesem Beispiel die unterschiedlichen Perspektiven des ›aufmerksamen Zuschauers‹ und des ›unparteiischen Zuschauers‹ nach Adam Smith zu verdeutlichen.

2.Ordnen Sie die folgenden Urteile den sechs Stufen der Moralentwicklung nach Lawrence Kohlberg zu. Es kann sein, dass manche Stufen mehrfach belegt werden und andere Stufen gar nicht vorkommen: (a) »Man sollte mehr in die Sozialhilfe investieren, weil ärmere Menschen auch zur Gesellschaft gehören und die Belastungen für die reicheren Menschen nicht sonderlich groß wären.« (b) »Es ist richtig, seinen Dienstpflichten nachzukommen, weil ohne den Einsatz von allen ein Betrieb nicht funktionieren kann.« (c) »Es ist falsch, seine Freunde anzulügen, weil sie es einem früher oder später heimzahlen.« (d) »Man sollte mehr in die Sozialhilfe investieren, weil jeder Mensch einen Anspruch auf Mindestversorgung hat.« (e) »Es ist richtig, seinen Dienstpflichten nachzukommen, weil man nur so die eigene Karriere voranbringen kann.« (f) »Es ist falsch, seine Freunde anzulügen, weil man sich damit irgendwann vor ihnen lächerlich macht.«

3.Wie würde Niklas Luhmann den folgenden Vorgang innerhalb seiner Systemtheorie rekonstruieren: Eine Wählergruppierung setzt sich aus moralischen Gründen dafür ein, dass ein Gesetz für höhere Benzinsteuern verabschiedet wird.

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
532 s. 5 illüstrasyon
ISBN:
9783846356616
Yayıncı:
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