Kitabı oku: «Der Zaun», sayfa 2
Hauptquartier der bulgarischen Grenzpolizei, Sofia
Wir treffen den Vizedirektor der Grenzpolizei, Milen Penev, in der Generaldirektion im Zentrum Sofias. Penev, ein schmaler, blasser Mann mit durchdringendem Blick, wird von einer Übersetzerin aus seiner Behörde begleitet. In dem einstündigen Gespräch wird er nicht ein einziges Mal lächeln. Wenn er redet, sucht er selten Blickkontakt, wenn er zuhört, bleiben seine Augen starr nach unten gerichtet. Er spricht vom Zaun und dem neuen Überwachungssystem im Grenzgebiet zur Türkei und referiert Fakten über Fakten.
Bulgarien hat seine Grenzen in den vergangenen Jahren gesichert. Das Land ist zwar seit 2007 Mitglied der EU, nicht aber Teil des Schengen-Raums. Das soll sich künftig ändern. Seit Ende 2010 kontrollieren die Grenzschützer verstärkt innerhalb der 24-Meilen-Zone am Schwarzen Meer, sagt Penev. Mit einem neuen Überwachungssystem soll es den Behörden gelingen, selbst Jetskis oder kleine Boote zu entdecken. Bulgariens Grenzschutz besitzt jetzt außerdem vier Helikopter, die an der bulgarisch-türkischen Grenze und am Schwarzen Meer eingesetzt werden sollen. Bereits im Juli 2012 wurden 85 Kilometer an der Grenze mit neuer Technologie und Wärmebildsystemen ausgestattet. Dazu gehören Kameras, die auf die Bewegung von Lebewesen reagieren.
All das konnte die Flüchtlinge und Migranten nicht stoppen. Im Jahr 2013 stieg die Zahl der Asylanträge von rund 1400 auf mehr als 7100. Bulgarien setzte zusätzlich rund 1500 Polizisten an den Grenzen ein, unterstützt von 170 Experten der europäischen Grenzschutzagentur „Frontex“14, und beschloss, einen Zaun zu bauen. „Wir haben festgestellt, dass rund 85 Prozent aller Migranten über ein ganz bestimmtes Gebiet nach Bulgarien kamen“, sagt Penev. Er hat eine Rechtfertigung für den Bau des Zaunes, die wir im Verlauf dieser Reise noch häufiger hören werden. „Die Migranten brachten sich in diesem Gebiet selbst in größte Gefahr. Immer wieder mussten wir Personal und Helikopter für Rettungseinsätze zur Verfügung stellen. Deshalb ist dort der Zaun entstanden.“
Es ist davon auszugehen, dass der Bau des Zaunes nicht unbedingt aus humanitären Gründen erfolgte. Das Land behandelt Flüchtlinge seit Jahren wenig wohlwollend. Die Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ hat Bulgarien immer wieder schwere Verstöße an den Grenzen vorgeworfen. Flüchtlinge wurden demnach zum Teil misshandelt und kollektiv zurückgewiesen, ohne dass ihr Asylantrag geprüft wurde. 2014 wurden 44 sogenannte Push-Back-Fälle dokumentiert,15 das Projekt „Bordermonitoring Bulgaria“ registrierte im selben Jahr zusätzlich 14 Vorkommnisse,16 auch „Amnesty International“ listete mehrere Fälle auf.17
Milen Penev weist die Anschuldigungen zurück: „Wir haben eine große Diskrepanz festgestellt, zwischen dem, was in den Berichten steht, und dem, wie sich die Situation tatsächlich an der Grenze darstellt.“ Was er damit sagen will: Flüchtlinge hätten in ihren Aussagen gegen bulgarische Grenzschützer falsche Uniformen beschrieben. „Sie haben auch Waffen erwähnt, die bei uns gar nicht im Einsatz sind, sie haben von Dokumenten gesprochen, die an der Grenze nicht verwendet werden.“
Penev ist ausgesprochen verärgert über die Vorwürfe. Er kritisiert das Foto auf dem Titelblatt des „Amnesty“-Berichtes. Es ist eigentlich nur ein Symbolbild, das einen Mann in Camouflage-Uniform im Grenzgebiet zeigt. Es zeigt einen Soldaten, vermutlich aus der Phase des Baubeginns, und keinen seiner Grenzpolizisten, die eigentlich für die Bewachung zuständig sind. Es ist für Penev ein Beweis, dass auch vieles andere an dem Bericht nicht stimme. Als es um einen konkreten Vorfall geht, wird er wütend, ohne laut zu werden. Ein Grenzschützer soll an einer illegalen Rückführung beteiligt gewesen sein. Penev sagt, dass dieser Polizist in einer Schicht zuvor noch eine hochschwangere Frau über die Grenze getragen habe. So konnte sie ihr Kind in Sicherheit zur Welt bringen. Die Mutter soll aus Dankbarkeit das Kind nach dem Helfer genannt haben. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Polizist bei seiner nächsten Schicht Menschen an der Grenze zurückweist.“ Der Dolmetscherin gehen Penevs Aussagen jetzt sichtlich nahe. Immer wieder macht sie lange Pausen zwischen den Ausführungen. Einmal stockt sie, als ihr beinahe die Tränen kommen. Penev redet sich jetzt in Rage: Bulgarien würde in den Berichten wie irgendein afrikanisches Land dargestellt. Am Ende diktiert er: „Ich möchte, dass Sie das notieren: Grenzpolizisten, denen Push-Backs vorgeworfen werden, das sind die, die den Babys der Migranten Essen gegeben und Windeln gekauft haben. Und dies mit dem eigenen Geld bezahlt haben.“
Es steht Aussage gegen Aussage, aber es wird nicht lange dauern, bis Bulgarien wieder von sich reden machen wird. Im Frühjahr 2015, Penev ist inzwischen zum Chef der Grenzpolizei aufgestiegen, sterben zwei Iraker, die der vom „IS“ verfolgten Minderheit der Jesiden angehörten, im Grenzgebiet. Ihre Gruppe berichtete später davon, dass sie von bulgarischen Grenzpolizisten abgewiesen und brutal zusammengeschlagen worden sein sollen, die Opfer starben an Unterkühlung.18 Penev muss wenig später gehen, es ist bis heute nicht klar, ob dies der Grund war. Es ist aber nicht der letzte Vorfall: Wieder vergehen nur wenige Monate, dann fallen an der Grenze Schüsse, ein Mann aus Afghanistan stirbt.19 Die Organisation „Oxfam“ veröffentlicht Ende 2015 mehrere Fälle von mutmaßlicher Polizeigewalt.20 Die Zahl der Einreisen steigt in Bulgarien trotzdem, wenn auch deutlich langsamer als im Nachbarland Griechenland. 2014 werden in Bulgarien 11.081 Asylanträge gezählt, im Jahr 2015 sind es 20.391.21
Hotel Ritz, Sofia
Wenn Menschen vor einem Krieg fliehen, haben sie dann in einem Land wie Bulgarien, in dem kein Konflikt droht, nicht ihr Ziel erreicht? Wir fragen uns, weshalb die Menschen nicht hierbleiben wollen. Sie haben uns vom „Hotel Ritz“ in Sofia berichtet. Das „Ritz“ ist kein Hotel. Es ist ein nie fertiggestellter Rohbau im Südwesten der Hauptstadt. Flüchtlinge und Migranten haben dem Gebäude diesen Namen gegeben, manche nennen es auch das „Five Star“, das Fünfsternehotel.
Man kann es von Weitem sehen. Drei Etagen nackter Beton, Gras und Gestrüpp haben den Eingang fast zuwachsen lassen. Trajan, ein freundlich lächelnder Obdachloser mit einem Bauch wie ein Medizinball, sitzt im Parterre vor seinem kokelnden Teekessel, an seiner Seite zwei kläffende Hunde. Er ist so etwas wie ein Hausmeister, der sich um das Gebäude kümmert und auch ein wenig um die, die dort untergebracht sind. Er ist der einzige Bulgare, der im „Five Star“ lebt, ein guter Mensch, sagen jene, die die zweite Etage über ihm bezogen haben.
Wer die Treppe hochsteigt, der findet sie am frühen Morgen unter dicke Decken gekauert. Der Wind zieht durch die Fensteröffnungen. Auf dem Boden liegen Unterwäsche und Plastikflaschen, in den Ecken erstarrte Exkremente. Die Wände erzählen von den Träumen der Bewohner. Eine nackte Frau. Bibelsprüche. In einem nach außen offenen Raum hat jemand eine riesige Sonne gemalt. „Hello Sunshine!“ Und in einem anderen Raum: „I will never stop my journey half way until I reach my home.“
„Das ist das Five Star“, sagt Djibi aus Mali. „Man wird krank hier. Wenn nicht heute, dann irgendwann Jahre später.“ Er reißt die Wolldecke zur Seite, die die Tür zu seiner Schlafstelle ersetzt. Es sind ein paar Quadratmeter Beton, auf denen er seit drei Monaten lebt. Sie sind sieben, acht Bewohner derzeit, alle stammen sie aus Afrika.
Eigentlich sind es nur wenige hundert Meter zum Flüchtlingsheim Ovcha Kupel. Das ist eine offizielle Unterkunft, die in keinem schlechten Zustand ist. Aber Djibi sagt, dass dort kein Platz für ihn sei. Er selbst habe einen Antrag gestellt, um aufgenommen zu werden. Zuletzt soll ihm sogar ein Anwalt ein Papier geschrieben haben, dass er keinen Ort zum Schlafen habe und nicht wisse, wovon er leben solle. „Wahrscheinlich haben sie mein Schreiben irgendwo hingelegt und vergessen.“ Einmal hat er versucht, heimlich in das Flüchtlingsheim zu gelangen. Djibi versteckte sich unter einem Bett, aber er wurde entdeckt. „Sie haben mir gesagt, dass sie mich das nächste Mal ins Gefängnis stecken werden.“ Drüben im Flüchtlingsheim streiten sie das ab.
Djibi möchte am liebsten weiter in den Norden. Aber auf legalem Weg darf er das Land nicht verlassen. Der Dublin-Vertrag legt fest, dass Schutzsuchende, die nach Europa kommen, ihren Asylantrag in dem Land der EU stellen müssen, das sie als erstes betreten. Die EU-Länder wollten mit der Unterzeichnung im Jahr 1990 verhindern, dass Asylbewerber in mehreren Ländern Anträge stellen und sich schließlich für das Land mit den attraktivsten Bedingungen entscheiden. Zudem sollte vermieden werden, dass Flüchtlinge von Land zu Land geschoben werden.22 Die Folge ist: Wer nicht das Glück und das Geld hat, mit einem gefälschten Reisepass oder einem Touristenvisum im Flieger nach Europa einzureisen, muss den Land- oder Seeweg nehmen – und diese Wege führen meist durch die EU-Länder Griechenland, Italien oder eben Bulgarien.
Werden Menschen wie Djibi in Bulgarien registriert, müssten sie dort also auch bleiben. Keine Behörde interessiert es, ob Freunde in Frankreich oder England auf sie warten. Und niemand fragt, welche Sprachen sie beherrschen. Die Freizügigkeit, also die freie Wahl des EU-Landes, in dem man leben möchte, gilt für anerkannte Flüchtlinge frühestens nach fünf Jahren.
Die Dublin-Verordnung scheint wie gemacht für die Staaten Mitteleuropas. Sie ist wie ein zweiter Verteidigungsring und sie ist eine Katastrophe für Länder wie Bulgarien. Das „Armenhaus der EU“ kann Asylbewerber kaum adäquat versorgen. Seit Jahren kommt es immer wieder zu sozialen Unruhen. Auf dem regulären Arbeitsmarkt haben Flüchtlinge kaum Chancen. Bulgarien muss Flüchtlinge aufnehmen, die es nicht haben will – und die in vielen Fällen gar nicht von ihm aufgenommen werden wollen. Das Dublin-Abkommen funktioniert 2014 eigentlich schon lange nicht mehr. Reagiert wird darauf aber nicht. 2015 müssen Österreichs Kanzler Werner Faymann und seine deutsche Amtskollegin Angela Merkel die Dublin-Regeln auch offiziell vorübergehend aufheben, um eine humanitäre Katastrophe in Ungarn zu verhindern.23
Ein Dublin-Abkommen, das nicht funktioniert, weil es vielleicht auch gar nicht funktionieren kann, ist eine schlechte Voraussetzung für eine erfolgreiche Integration. Bulgariens Integrationsprogramm lief Ende 2013 aus. Anerkannte Flüchtlinge leben seither ohne jede Integrationsperspektive. Es gibt kaum Sprachkurse, klagen Flüchtlingsorganisationen, eine Unterstützung bei der Arbeitssuche sei nicht ausreichend gewährleistet, eine Unterkunft zu finden, beinahe aussichtslos, sie erhielten kaum soziale Hilfe oder eine Krankenversicherung.24 Zwar dürfen anerkannte Flüchtlinge noch einige Monate in den Unterkünften bleiben, doch danach sind sie auf sich allein gestellt. Zuletzt wurde Asylbewerbern in den Unterkünften die monatliche Unterstützung von umgerechnet 33 Euro gestrichen – mit der Begründung, dass es dort täglich Mahlzeiten gäbe.25
Djibi ist 25 Jahre alt, er will lernen, studieren, er möchte Anwalt werden. „Das ist mein Traum“, sagt er. „Aber jetzt sitze ich hier, mache nichts außer warten.“ Er sagt, dass er den Tag verflucht, an dem er in dieses Land einreiste. „Ich bin so wütend auf mich. Hätte ich gewusst, dass sie uns hier wie Tiere behandeln, ich wäre zu Hause geblieben.“ Manchmal finden Djibi und seine Freunde aus dem „Hotel Ritz“ in der Stadt kleine Gelegenheitsjobs, verdienen 10 Lew, wovon sie manchmal drei Tage lang leben. An manchen Abenden treffen sie sich an der Banja-Baschi-Moschee im Zentrum der Stadt. Viele Migranten kommen dorthin, gerade jetzt im Ramadan, weil sie in der Moschee kostenlos essen können. Andere sind dort, um sich auszutauschen und den weiteren Weg ihrer Flucht zu planen, manche, weil sie einfach nur Zeit totschlagen müssen, bis ihr Schlepper sie weiter in das nächste Land bringt.
Banja-Baschi-Moschee, Sofia – Freitagsgebet
Er hat alles notiert, jeden Tag dokumentiert. Ehzanullah sitzt im Gebetsraum der Banja-Baschi-Moschee und erzählt von seiner Flucht. Er spricht mit einer melancholischen, monotonen Stimme, immer wieder gesellen sich Besucher hinzu, folgen den Worten Ehzanullahs, mal nickt oder murmelt einer zustimmend, als hätte er das Gleiche erlebt und geht wieder weiter.
Ehzanullah ist 28 Jahre alt. Er trägt ein blaues T-Shirt mit einem Jack-Daniels-Aufdruck. Er sagt, dass er zuletzt als Übersetzer in einer Klinik in Afghanistan mit den US-Amerikanern zusammengearbeitet habe. Sein Englisch ist sehr gut, und manchmal verwendet er medizinische Fachbegriffe, die es nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen, dass seine Geschichte stimmt. Ehzanullah zeigt Bilder, die er in seinem Handy gespeichert hat. Auf einem sieht man einen Treck Hunderter Menschen, die im dichten Nebel über einen Bergkamm steigen, auf einem anderen eine verdreckte Unterkunft in Bulgarien. Er sagt, er habe auch Videos aufgenommen, Polizisten, die ihn schlecht behandelten, Mitarbeiter der Flüchtlingslager, von denen er, wenn er um Hilfe bat, nur Gleichgültigkeit erntete. Er will das alles vorweisen können, wenn er es später vielleicht nach Deutschland oder in ein anderes mitteleuropäisches Land schafft und seinen Asylantrag stellt. Er möchte dann nicht wegen der Dublin-Regeln zurückgeschickt werden.
Es ist spät am Abend. Das Freitagsgebet in der Banja-Baschi-Moschee ist zu Ende gegangen. Das Gebäude mit dem schlichten Minarett ist eine der ältesten Moscheen in Europa. Erbaut um das Jahr 1576 von Mimar Sinan, einem der Stararchitekten des Osmanischen Reichs, Überbleibsel eines halben Jahrtausend osmanischer Herrschaft über Bulgarien. An Freitagen ist sie oft so voll, dass die Gläubigen draußen vor dem Eingang ihre Gebetsteppiche auslegen müssen. Und wenn nach dem Gebet, wie jetzt im Ramadan, aus großen Töpfen Linsensuppe geschöpft und dazu Basmatireis und Milch verteilt werden, reicht die Schlange bis auf die Straße hinaus.
Ehzanullah ist seit 47 Tagen in Bulgarien. Er hat auch das genau notiert. Die Sorge, in diesem Land bleiben zu müssen, bestimmt seither sein Leben. Seit drei Tagen wohnt er in Sofia in einer Wohnung mit anderen Migranten. Ein Schlepper hat sie zur Verfügung gestellt. Dort wartet Ehzanullah, bis die Menschenhändler einen Wagen für den letzten Abschnitt seiner Flucht organisiert haben.
Auch Ehzanullah gerät im Jahr 2014 ins Visier der Taliban. Über Facebook versuchen sie ihn für einen Anschlag anzuwerben. „Du arbeitest doch bei den Amerikanern“, schreiben sie. „Töte die Ungläubigen und das Paradies steht dir offen.“ Ehzanullah ignoriert die Nachrichten. Aber sie lassen nicht von ihm ab. Sein Vater wird im Ort angesprochen, sein siebenjähriger Bruder in der Moschee. Ehzanullah will das nicht. „Ich weiß, was gut und schlecht ist.“ Seine Eltern schicken ihn zu Verwandten nach Kabul. Aber dort kann er nicht bleiben. „Ich habe eine junge Tochter, du kannst nicht im selben Haus leben“, sagt der Onkel schon nach wenigen Tagen.
So verlässt Ehzanullah gemeinsam mit seinem Vater das Land. 10.000 Dollar kostet die Reise pro Kopf. Sie verkaufen dafür ihr Grundstück. Die Flucht soll über den Iran, die Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich nach Deutschland führen. Das Geld hinterlegt er am Flughafen in Teheran in einer Wechselstube. Er erhält dafür einen Code. Gelingt die Flucht, wird er dem Schlepper das Passwort übermitteln. Dieser kann dann das Geld auslösen. Das System wird „Hawala“ genannt. Es ist ein auf Vertrauen basierendes Geldtransfersystem, das auch beim Schmuggel von Menschen verwendet wird. Die Methode hinterlässt kaum Spuren und kann deshalb von Ermittlern und Bankaufsichten nicht zurückverfolgt werden. Flüchtlingen gibt sie ein wenig Sicherheit, damit die von Schleppern versprochene Leistung auch tatsächlich erbracht wird. Das System aber ist entsprechend teuer und nur wenige können es sich leisten.
Wofür kein Schlepper garantieren kann, ist die sichere Ankunft. Ehzanullahs Vater wird auf der Flucht im Iran festgenommen und abgeschoben. Ehzanullah reist allein weiter. In der Türkei hält man ihn bei der Einreise fest. Er verbringt 29 Tage im Gefängnis, dann überquert er mit zwölf anderen die Grenze nach Bulgarien. Zwei Tage lang versteckt er sich mit der Gruppe im Wald, sie haben ein GPS-Gerät dabei und Handys. Aber irgendwann ist die Batterie des GPS-Gerätes leer. Wieder werden sie festgehalten, diesmal von der bulgarischen Grenzpolizei. Die Beamten speichern seine Fingerabdrücke.
Diese Geschichte, die nicht überprüfbar ist, erzählt uns Ehzanullah in der Moschee von Sofia. Inzwischen ist er seit sechs Monaten unterwegs. In dem Apartment des Schleppers in Sofia hat er einen Cousin aus Afghanistan wiedergetroffen. Sein Cousin kämpfte für die Taliban. Es ist eine bizarre Situation. Ausgerechnet einer, der dafür verantwortlich sein soll, dass Ehzanullah das Land verlassen musste, wird nun zu seinem Fluchtgefährten. „Wir sind Freunde geworden“, sagt er. Es gibt nicht viele Menschen, die Ehzanullah noch an seiner Seite hat. Er hat sich einen großen Teil der Reise allein durchgekämpft. Von der Gruppe, mit der er über die Berge des Irans flüchtete, hat er keinen mehr gesehen. Er weiß von einem, der es in die Schweiz geschafft hat, zwei sind in London, einer landete im Gefängnis von Athen.
Es gibt Tage, da denkt Ehzanullah an die Zeit, die er in seinem Land verbracht hat, und an die vielen Jahre, die die Religion das Leben dort bestimmte. „Ich wünsche mir dann, dass ich besser nie geboren worden wäre.“ Ehzanullah kann eine Kalaschnikow in drei, vier Minuten auseinandernehmen und reinigen, sagt er. „Aber warum kann ich nicht einen Computer reparieren? Warum habe ich nichts gelernt, das Gutes bringt?“ Er träumt von Deutschland und davon, dort Geld zu verdienen, um in Afghanistan einen Fernsehsender aufzubauen. Er würde den Menschen erklären, dass sie nicht in der Vergangenheit verharren sollten. „Ich würde ihnen sagen: Kommt in dieses Leben!“ Ehzanullah ist in den nächsten Tagen immer wieder in der Nähe der Moschee anzutreffen. Dann taucht er plötzlich nicht mehr auf. Niemand in der Moschee weiß, was aus ihm geworden ist. Aber man hört, dass er das Land verlassen habe.
Wir wollen mit Nikolai Alexandrov Tchirpanliev darüber sprechen, warum die Menschen dieses Land, das Mitglied der EU ist, so schnell wieder hinter sich lassen wollen. Wir möchten wissen, wie das Land versucht, Flüchtlinge zu schützen. Tchirpanliev leitet die Staatliche Flüchtlingsagentur Bulgariens. Flüchtlinge, die die EU-Außengrenze überwunden haben, werden in der Regel mit seiner Behörde konfrontiert. Sie ist oft die erste Anlaufstelle in der EU. Und sie ist, so finden viele, kein besonders ehrenwertes Aushängeschild für Europa.
Staatliche Flüchtlingsagentur von Bulgarien, Sofia
Die beiden Vertreter von „Amnesty International“ haben sich für heute beim Direktor der Staatlichen Flüchtlingsagentur, Nikolai Alexandrov Tchirpanliev, angekündigt. Tchirpanliev weiß, dass ihm dieser Termin wieder Ärger bringen wird. Er hat ihren Bericht gelesen, auch den davor, und es ist wahrscheinlich, dass sie auch nach diesem Besuch wenig Nettes über seine Behörde schreiben werden. Wieder wird es heißen, dass sein Amt mit der Flüchtlingssituation überfordert sei, dass es nicht in der Lage sei, würdevolle Unterkünfte bereitzustellen, überhaupt, dass die Bedingungen in Bulgarien für Menschen auf der Flucht nicht zumutbar seien. Tchirpanliev weiß, sie sind hier, um noch mehr Schwachstellen in seinem System zu finden.
Nikolai Alexandrov Tchirpanliev ist ein Bär von einem Mann. 57 Jahre alt, hemdsärmelig und jovial, einer, der nie zu lange nachdenkt, bevor er spricht. Er hat Psychologie und Soziologie studiert, lange in der Armee gedient. Zuletzt war er im Verteidigungsministerium beschäftigt. Auch als Leiter der Flüchtlingsbehörde versteckt er seine Vergangenheit nicht und setzt auf militärische Strenge. Er ist stolz, dass jeder Vierte seiner Heimleiter aus der Armee kommt. „Das sind die richtigen Leute für diesen harten Job, nur sie können mit diesem Stress umgehen.“ „Soldaten“, sagt er uns einmal, „sind einfacher zu führen als Migranten.“
Die Amnesty-Delegation hat einen Dolmetscher mitgebracht. Auch Tchirpanlievs Übersetzerin sitzt mit am Tisch, als würden sie nicht einmal den Dolmetschern trauen. Der Amnesty-Programmleiter für Europa und Zentralasien, John Dalhuisen, zitiert zum Gesprächsauftakt eine veraltete Statistik und wird sofort von Tchirpanliev korrigiert. Dalhuisens Kollegin lässt ein Exemplar des neuen Reports über den Tisch rutschen. Sie hat dem Bericht versehentlich etwas zu viel Schwung gegeben. Viel zu schnell schlittert er über die Tischplatte auf Tchirpanliev zu. Als wolle sie ihn provozieren. Es ist ein denkbar schlechter Beginn für das Gespräch.
„Ich kenne den Bericht“, sagt Tchirpanliev und lässt ihn wie ein schmutziges Tuch vor sich liegen. „Wir haben uns bereits einmal getroffen, wir haben viele Dokumente übergeben“, sagt er, „wir machen das auch gern weiterhin.“ Es ist ein höflicher Satz, aber er spricht ihn in einem Tonfall aus, als meine er das Gegenteil, als habe er die Geduld verloren. Tchirpanliev ist zurückhaltend, er lächelt nicht, er ist jetzt ungewöhnlich schmallippig.
Jede Frage der Amnesty-Referentin ist ein charmant verkleideter Vorwurf, den sie mit einem unschuldigen „just for clarification“ einleitet. „Just for clarification: Wie viele Asylanträge wurden bisher von Ihrer Behörde bearbeitet? Just for clarification: Welche Möglichkeiten haben Flüchtlingskinder, um am Schulunterricht teilzunehmen? Just for clarification: Wie viele Sozialarbeiter sind in den Flüchtlingsunterkünften beschäftigt?“ Tchirpanliev lässt dann seine Kollegen aus der Statistikabteilung rufen. Sie notieren die Fragen wie Kellner, die eine Bestellung aufnehmen, und verlassen den Raum wieder. Tchirpanlievs Antworten selbst sind allgemein und ungenau. Alle dürfen zur Schule gehen, sagt er, es gebe genug Sozialarbeiter. Und einmal: „Glauben Sie doch nicht alles, was Ihnen Migranten erzählen.“
Zum Abschied sagt er: „Unsere Flüchtlingszentren sind offen, ich würde mich freuen, wenn Sie eines besuchen.“ Es hört sich wie ein Rausschmiss an. Er meint eigentlich, sie sollten sich das nächste Mal besser informieren. Erst als John Dalhuisen noch einmal mahnt und dabei auch über Europa und dessen verfehlte Migrationspolitik sinniert, finden sie überraschend doch eine Gemeinsamkeit. Nachdem Dalhuisen die Dublin-Regeln kritisiert hat, die weder den Flüchtlingen noch den Ländern nützten, hebt Tchirpanliev zustimmend den Daumen.
Der schlechte Ruf von Tchirpanlievs Behörde kommt nicht von ungefähr. Als die Zahl der Asylbewerber 2013 erstmals sprunghaft anstieg, war das Land nicht vorbereitet. Die wenigen Flüchtlingsunterkünfte waren schnell belegt, die Zimmer verdreckt, die Bäder und Toiletten in beschämendem Zustand. Viele campierten in Zelten und warteten auf die Bearbeitung ihrer Anträge. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Gleichzeitig erschütterten Massenproteste das Land und lähmten die Regierung. Zehntausende Menschen zogen Tag für Tag durch Sofias Innenstadt. Sie forderten eine Reform des politischen Systems und kritisierten die ausufernde Korruption. Mit den steigenden Flüchtlingszahlen trat auch die Fremdenfeindlichkeit offen zutage, islamophobe Ressentiments sind in Bulgarien nach der jahrhundertelangen osmanischen Herrschaft noch heute tief verankert, die Medien heizen die Stimmung weiter auf. Ein Dorf wehrte sich gemeinsam gegen die Aufnahme syrischer Familien, in Sofia patrouillierten Anhänger rechtsextremer Parteien und schikanierten Einwanderer und Flüchtlinge.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR gab Anfang 2014 eine seltene Empfehlung an EU-Länder aus. In ein Land mit solchen Zuständen sollten Dublin-Fälle – also Asylbewerber, die dort registriert wurden – von anderen Ländern nicht zurückgeführt werden. Die UN-Behörde sprach von systematischen Mängeln bei den Asylverfahren und der Aufnahme von Asylbewerbern sowie von „unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung“. Danach reagierte die Regierung: Die Unterkünfte wurden saniert, Tchirpanliev erhielt deutlich mehr Personal. Statt 80 Mitarbeiter arbeiten im Sommer 2014 mehr als 300 in der Flüchtlingsagentur. Die Regierung kündigte ein Integrationsprogramm in Zusammenarbeit mit den Kommunen an. Asylbewerber erhielten besseren Zugang zu medizinscher Versorgung, und Anträge wurden zügiger bearbeitet. Selbst Flüchtlingsorganisationen lobten verhalten die Fortschritte. Der UNHCR rückte im April 2014 von seiner Januar-Position ab26 und formulierte deutlich zurückhaltender: Es könne notwendig sein, bestimme Gruppen oder Personen, vor allem jene mit besonderen Bedürfnissen und Vulnerabilität, von einer Rücküberstellung auszunehmen.27
Wir werden Tchirpanliev wenige Tage nach dem Termin mit „Amnesty International“ noch einmal besuchen. Eine Vertreterin des UNHCR ist diesmal zu Gast. Sie waren einige Tage zuvor gemeinsam auf einem Kongress in Schweden und wollen nun ihr Treffen nachbesprechen. Tchirpanliev ist jetzt nicht mehr wiederzuerkennen und zeigt sich mehr als kooperativ. Er lobt die „konstruktive Partnerschaft“ mit dem UNHCR und die produktive Zusammenarbeit mit dem Flüchtlingshilfswerk, nicht zu vergleichen sei das Flüchtlingshilfswerk mit Organisationen wie „Amnesty International“ und „Human Rights Watch“. „Wir wollen jetzt schnell ein Integrationsprogramm umsetzen“, meint Tchirpanliev.
Am Rande sprechen wir noch einmal über die Situation in den Flüchtlingsunterkünften. Die UNHCR-Vertreterin ist nicht mehr in der Nähe, er redet jetzt Klartext. Ungebildet seien die Flüchtlinge, nichts als Lügner die NGOs wie „Amnesty International“, einzig interessiert am Fördergeld, das sie durch kritische Berichte erhielten.
Tchirpanliev wird am 29. Dezember 2014 entlassen. Die Integrationsstrategie ist auch Anfang 2016 noch nicht umgesetzt. Die Integration von Flüchtlingen hat in Bulgarien weiterhin wenig Priorität. Der Spiegel zitiert einen Regierungsbericht aus Sofia, wonach in den vergangenen zehn Jahren die Sicherung der Grenzen in Bulgarien mit 300 Millionen Euro durch die EU finanziert wurde, für die Integration von Flüchtlingen wurden aus Brüssel gerade einmal 5 Millionen Euro überwiesen.28 Allein im Jahr 2013 unterstützte die EU die Grenzsicherung in Bulgarien mit mehr als 13 Millionen Euro. In die Verbesserung der Aufnahmebedingungen und des Asylverfahrens wurden weniger als 750.000 Euro investiert.29
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