Kitabı oku: «M o n d o r a», sayfa 6

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Carlas Signal zum Aufbruch wurde von den beiden Männern widerspruchslos akzeptiert. Der Apotheker versicherte Benjamin nochmals, dass er ihm sehr willkommen wäre, und dass er sich den Abend über gern mit ihm unterhalten habe. Dann ein kurzer Informationsaustausch zwischen Vater und Tochter zum morgigen Tag – meist Dinge die Apotheke betreffend – und de Pellegrino ging, noch vom Flur her „Angenehme Nachtruhe" wünschend, was von beiden mit „Gute Nacht" beantwortet wurde.

Und von nun an hatte es Carla gar nicht mehr so eilig. Sie saß da und freute sich, was sie mit den Worten „du scheinst ihm gefallen zu haben" zum Ausdruck brachte, und dann wurde noch eine ganze Zeitlang über Serge geredet – wie er wohl vom Berg herunter gekommen sei, und ob man ihm momentan in irgend einer Weise helfen könnte. „Ich meine, kaum – " sagte Benjamin, „er will jetzt, wie ich ihn einschätze, einfach nachdenken. Und wenn er Gesprächspartner braucht, wird er wiederkommen. Wir können ja auch gar nichts tun für ihn. Außerdem muss er sich um seine Tiere kümmern, und da kommt er bestimmt wieder auf andere Gedanken. Gespannt bin ich, wie der Fall von Seiten der Polizei behandelt wird. Aber das muss man abwarten." – „Ja, du wirst recht haben, Herr Doktor", pflichtete ihm Carla bei, “aber ich habe jetzt auch recht, wenn ich dich einfach rüber schiebe, weil du ins Bett musst."

Und so geschah es. Während sich Benjamin noch im Badezimmer aufhielt, richtete Carla ihm das Bett; helfen lassen wollte er sich nicht mehr. Deshalb nahm sie es auch für ganz selbstverständlich, dass er trotz des Gipsbeins in einem kurzen Sommer-Schlafanzug erschien – die Götter mögen wissen, wie er es angestellt hat, da hinein zu kommen. „Aber ins Bett helfen, lässt du dir hoffentlich noch – oder bin ich schon ganz und gar überflüssig?" – „Im Gegenteil, Schmetterling, du wirst mir mit jedem Augenblick unentbehrlicher", sagte Benjamin, schloss die Augen und spitzte die Lippen. Und nach gar nicht so langer Wartezeit hatte er, was er wollte – einen schüchternen Kuss zwar, aber auf den Mund, und Benjamin war's zufrieden.

Carla half ihm, das schwere Bein ins Bett zu heben, und als auch noch das Fiebermessen zu ihrer Zufriedenheit ausgefallen war, machte sie das Deckenlicht im Zimmer aus und winkte ihm noch einmal zu, ehe sie die Tür hinter sich schloss. Es ist anzunehmen, dass Benjamin noch einiges durch den Kopf ging, ehe ihn der Schlaf hinweg nahm. Auch von draußen, vom Platz her, war nichts mehr zu hören. Es war eben doch recht spät geworden an diesem Abend.

Am nächsten Morgen – Benjamin schlief immer noch – kam Carla nicht nur mit dem schon bekannten Frühstückstablett in sein Zimmer, sondern auch in Begleitung eines Fremden, der an der Tür stehen blieb. „Aufwachen", rief sie, „wir haben hohen Besuch." Benjamin rieb sich die Augen und sagte: „Guten Morgen", was von Carla mit den Worten „guten Morgen, Herr Doktor" und von dem Fremden mehr beiläufig mit einem fast schon geknurrten „Morgen" beantwortet wurde. Das Himmelbett schien ihn sehr zu interessieren.

„Da haben Herr Doktor aber sauber alles verschlafen", setzte Carla in ihrem gewohnt fröhlichen Ton fort, „hast du denn überhaupt nichts gehört gegen früh?" – „Was soll ich denn gehört haben?" antwortete Benjamin und richtete sich in seinem Bett auf. Carla stellte das Tablett auf den Frisiertisch und stopfte ihm zwei Kissen in den Rücken, dass er bequemer sitzen konnte. Dann holte sie den Stuhl ans Bett und fragte den Besucher, ob er sich setzen wollte. Der lehnte ab und sagte: „Ich will mich gar nicht erst lange aufhalten – ich hätte da nur ein paar kleine Fragen." Dabei holte er Notizbuch und Kugelschreiber aus der Brusttasche seines Jacketts, und Benjamin dämmerte es bei dieser ‚Amtshandlung', dass er es mit einem Polizisten zu tun hatte. So sah er auch aus – in Zivil zwar, aber unverkennbar amtlich, ein Mann mittleren Alters mit Bürstenhaarschnitt und Schnauzbart.

„Hauptkommissar Vesso", stellte er sich vor, „von der Bezirkspolizeidienststelle, Kriminalabteilung. Mehr nebenbei holte er aus der Hosentasche eine Plastikkarte und zeigte sie von fern; es hätte genau so gut eine Visacard sein können. „Ihr Name ist?" fragte er überaus dienstlich und kritzelte in sein Buch. „Benjamin Lhost, Doktor Benjamin Lhost", kam es vom Bett her. „Sie können nicht aufstehen?" Benjamin schlug die Bettdecke zur Seite und wies auf sein Gipsbein. „Wie Sie sehen, bin ich zurzeit etwas behindert." – „Und Sie haben die Nacht über hier geschlafen und gar nichts gehört?" – „Was um alles in der Welt hätte ich denn hören sollen?"

„Nun", kam Carla dem Kommissar zuvor, „zunächst ging gegen halb vier die Sirene auf dem Schloss, dann fuhr die Feuerwehr auf den Stadtplatz, dann versammelte sich halb Mondora vor der Kirche – das reinste Tohuwabohu!" – „Und weshalb?" fragte Benjamin in aller Unschuld. „Weil das Kirchenportal gebrannt hat", klinkte sich der Polizist jetzt wieder mit Nachdruck in das Gespräch ein. „Und Sie wollen von all dem nichts gehört haben?" – „Tut mir leid. Warum hat denn das Kirchenportal gebrannt? Das ist doch gar nicht so leicht, eine so große und glatte Holzfläche anzuzünden." – „Woher wissen Sie denn, dass sie angezündet wurde?" – „Na von allein entflammt doch nachts um halb vier kein Kirchenportal!" – „Da haben Sie recht; jemand hat einen Molotowcocktail dagegen geworfen. Auch das muss ganz schön gescheppert haben. Und Sie haben wirklich nichts gehört?" – „Nein." – „Da haben Sie aber einen gesegneten Schlaf", sagte der Kommissar und klappte vernehmlich sein Notizbuch wieder zu. „Dann bin ich hier auch schon wieder fertig und wünsche Ihnen gute Besserung." – „Soll ich Sie noch hinaus begleiten?" fragte Carla. Der Kommissar winkte ab und meinte, den Weg von allein zu finden. Schon an der Tür, drehte er sich aber noch einmal um und fragte: „Werden Sie länger in Mondora bleiben?" – „Ich meine vielleicht ja", sagte Benjamin und wies auf sein rechtes Bein, „das kann schon noch eine Weile dauern“. – „Na gut" murmelte Vesso, wünschte nochmals gute Besserung und einen angenehmen Aufenthalt.

Was Carla wirklich nett fand, wie sie sagte, als der Kommissar endgültig gegangen war. „Ein reizender Mensch", stellte sie fest, „und du – du bist ja nun schon fast das reinste Schlafwunder. Guten Morgen erst mal, Herr Doktor!" Damit stellte sie das Tablett auf die Bettdecke und setzte sich auf den Stuhl. Sie hatte diesmal keinen Kittel an, sondern eine weiße Caprihose und ein lockeres rotes T-Shirt. Benjamin sah sie mit schräg gehaltenem Kopf gründlich an, lächelte dabei und sagte dann: „Erstens brauche ich viel Schlaf, um schnell wieder gesund zu werden. Zweitens schlafe ich, wenn weniger, umso gründlicher, und drittens erinnere ich mich, gestern Nacht von meinem Schmetterling eine prima Medizin bekommen zu haben, die ich dringend auch heute früh brauche. Er schloss wieder die Augen und hielt ihr die Lippen entgegen. Eine Aufforderung, der Carla ohne zu zögern nachkam, wenngleich sein Versuch, die Hände um sie zu legen, von ihr dadurch unterbunden wurde, dass sie sich aufsetzte und ihm mit dem Finger drohte: „Zuviel Medizin auf einmal ist sehr, sehr schädlich", sagte sie, "und jetzt wird gefrühstückt, sonst wird der Kaffee kalt."

Natürlich war das Hauptthema während ihres gemeinsamen Frühstücks das spektakuläre Vorkommnis in der Nacht und der überraschende Besuch am Morgen. Und ebenso natürlich kamen sie auch sehr schnell zu der Ansicht, jemand aus der Stadt musste dahinter stecken, dass der Kommissar ausgerechnet Benjamin aufgesucht und befragt hatte. Dann das Portal – „glaubst du, dass es Serge war?" fragte Carla. „Nie und nimmer!" antwortete ihr Benjamin sehr spontan, „der war zu der Zeit längst wieder bei Beppo und bei seiner Herde. Und Serge ist bestimmt auch nicht der Mensch, der Molotowcocktails schmeißt. „Nein, das glaube ich auch nicht", musste ihm Carla sofort beipflichten. „Aber wer macht denn so was, und warum?" Eine Frage, die Benjamin zögernd zwar, aber durchaus logisch nur im Zusammenhang mit den Ausschreitungen bei Serge sah. „Da steckt doch System dahinter", überlegte er, „da will uns beiden – ich meine Serge und mir – doch jemand was am Zeug flicken. Sieht das nicht ganz nach einem Racheakt für den letzten Sonntag aus?"

Der Ansicht war auch Dr.Besan, der – nachdem er angeklopft hatte – zu seiner täglichen Visite ins Zimmer trat und sofort wissen wollte, warum sie denn heute wie zwei ausgesprochene Miesmuscheln hier herumsäßen. „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als die Köpfe hängen zu lassen?" fragte er, drosselte dann aber seinen Humor, als er von den beiden erfuhr, was sie beschäftigte. „Selbstverständlich muss man auch solche Zusammenhänge ins Auge fassen", meinte er, war aber im gleichen Zuge der Ansicht, dass sich das alles schnell aufklären würde. „Schließlich ist die Polizei von unten mit der Sache befasst, und nicht nur unsere zwei Deppen hier. Entschuldigung für das Wort zwei." Trotzdem stellte er die nahe liegende Frage, ob es für Benjamin nicht besser wäre, sich in einen Zug setzen zu lassen, um nach Hause zu fahren. Bei seinem erfreulichen Zustand könnte auch er, Dr.Besan, einer solchen Maßnahme – mit Zähneknirschen zwar, aber wegen der besonderen Umstände – durchaus zustimmen. Carla reagierte einigermaßen betroffen, weil ihr eine solche Idee überhaupt noch nicht gekommen war. Aber auch Benjamin schüttelte den Kopf. „Nein", sagte er, „weil es plausible und für mich absolut zwingende Gründe gibt, so einen Schritt nicht ins Auge zu fassen: Erstens werde ich nicht kneifen und den armen Serge die Suppe allein auslöffeln lassen, und zweitens habe ich daheim niemanden, der mich versorgen könnte." – „Na ja, und drittens liegen Sie ja hier ziemlich fest vor Anker, und der Anker heißt Carla, nehme ich mal an." Damit war auch Dr.Besan wieder in seinem gewohnten Fahrwasser und brauchte Carla nicht mal zuzuzwinkern – sie wurde sowieso rot und schaute sehr interessiert ihre Schuhe an.

An diesem Vormittag ereignete sich weiter nichts Bemerkenswertes mehr – außer, dass der Apotheker für ein paar Minuten zu Benjamin herein schaute. Auch er zeigte sich besorgt und teilte durchaus die Vermutung eines Rachefeldzuges von verwirrten Geistern. Interessant dabei ist die erstmalige Erwähnung der ‚Bruderschaft', obwohl de Pellegrino gleich wieder von diesem Zusammenhang abrückte. „Das schließe ich eigentlich doch aus", sagte er, „im Grunde sind das alles ehrenwerte Bürger unserer Gemeinde." Und noch etwas wurde in dem Zusammenhang von dem Apotheker erwähnt – er selber ist und war zu keiner Zeit Mitglied dieser Zipfelmützenvereinigung. Schon sein Beruf, der ihm rund um die Uhr Bereitschaft abforderte und jegliche Vereinsmeierei ausschloss, stünde dem entgegen. Man hätte halt abzuwarten, was die polizeilichen Ermittlungen zutage brächten, war auch seine Ansicht. De Pellegrino musste wieder in die Apotheke rüber, wo Carla um diese Zeit alle Hände voll zu tun hatte, kam jedoch nach kurzem noch einmal zurück, um Benjamin – auf dessen Bitte hin – etwas Lektüre zu bringen. Und so hatte der Patient das Vergnügen, sich für den Rest des Vormittags mit der ‚Geschichte der Pharmazie im mediterranen Raum' beschäftigen zu können.

Erst zur Mittagszeit kam wieder Leben in das Krankenzimmer. Es klopfte, und herein schwebte eine dralle und schon von der Bewegung her vergnügt-energisch wirkende Person von ungefähr sechzig Jahren. Sie trug ein Tablett – offensichtlich Benjamins Essen – mit beiden Armen vor der ansehnlichen Brust. Bis dahin alles wortlos. Auf halber Strecke zum Bett hielt sie inne und drehte sich zur Tür zurück. Nun erst erschien auch Carla und lachte amüsiert angesichts eines leicht entgeistert dasitzenden Benjamins. „Das ist unsere Maria", erklärte sie, „Maria ist früher zurückgekommen, weil die Buschtrommeln sie gerufen haben."

„Wie kann man denn faul in Heimaturlaub machen, wenn's hier an allen Ecken und Kanten brennt!" erklärte Maria mit einer auffallend dunklen Stimme und stellte ihr Tablett auch erst einmal auf den Frisiertisch. Dann schwenkte sie in Richtung Bett und gab Benjamin die Hand. „Das also ist der berühmte Heiland von Mondora", sagte sie – und zu Carla gewandt: „Sieht schon ein bisschen so aus, alles was recht ist." Und wieder zu Benjamin: „Aber auch der schönste Jesus muss bei Kräften sein, sonst können wir lange auf neue Wunder warten." Sie kicherte in sich hinein und holte in wohltuender Betriebsamkeit das Tablett, stellte es vor Benjamin und erläuterte: „Legierte Suppe aus Kraftbrühe und Gries, danach Kalbslendenbraten mit gemischtem Gemüse und Kartöffelchen provenzalischer Art. Zum Nachtisch dann eingemachte Birnen – ein Gruß aus meinem Heimatdorf – und zu trinken habe ich entschieden, gibt es den guten Roten hier aus unserer Gegend. Wohl bekomm's und guten Appetit!" Sie legte die Hände übereinander auf den Bauch und schien abwarten zu wollen, wie Benjamin die Suppe schmeckte. „Da lässt man sich natürlich nicht zweimal auffordern", sagte er, „das duftet ja alles miteinander, wie aus einer Vier-Sterne-Küche." Er hob kurz die Warmhalte-Glocke vom Teller mit dem Hauptgang, wedelte sich den Geruch zu und nickte dankbar zu Maria hin, die erleichtert durch die Anerkennung aufschnaufte, trotzdem aber noch wartete, bis er den ersten Löffel Suppe zu sich genommen und auch die als exzellent gelobt hatte. Erst dann ging sie befriedigt und mit einem strahlenden Lächeln zu Benjamin und auch zu Carla hin aus dem Zimmer.

„Das ist ja eine ganz Liebe", stellte Benjamin zwischen zwei Löffeln Suppe fest. Carla setzte sich zu ihm ans Bett und erzählte, dass Maria schon im Haus von Tante Lisa war, als sie, Carla, zur Welt kam. „Und wie hat sie so schnell von all dem hier in Mondora erfahren – sie war doch zu Hause, in ihrem Dorf?" – „Der Fahrer vom Postbus ist da unser Nachrichtendienst. Von wem der die Geschichte vom Brand heute Nacht gehört hat, weiß ich nicht. Jedenfalls, als er um neun Uhr früh dann hier herauf kam – weil unten in der Stadt Markttag ist – hatte er Maria schon an Bord. Sie muss sich Hals über Kopf entschlossen haben, zurück zu kommen." – „Wie hat eigentlich Tante Lisa hier all diese Schätze zusammen getragen?" fragte Benjamin und deutete dabei mit der Gabel im Zimmer herum und nach draußen, zum Salon. „Also, das Haus war ja schon lange im Familienbesitz, wenigstens hundert Jahre. Das hat schon mein Großvater erworben – er war auch Apotheker hier in Mondora. Als Tante Lisa, Vaters Schwester, dann heiratete – einen Antiquitätenhändler aus der Stadt unten – bekam sie das Haus als Mitgift. Es war aber auch zugleich ihr Erbteil. Ihr Mann -– er starb schon Anfang der siebziger Jahre – kam natürlich durch seinen Beruf an solche alten Stücke heran. Tante Lisa hatte eine Schwäche für so was." – „Und du, hast du auch eine Schwäche für so was?" – „Nicht unbedingt, aber es macht mich ganz schwach, wenn ich sehe, wie jemand sein gutes Essen kalt werden lässt." – „Habt ihr denn schon gegessen?" – „Nein, aber Vater wird schon warten. Zuerst kommen immer die Patienten dran, das ist eine Regel!"

Carla stand auf und nahm das bereits leere Geschirr vom Tablett. „Den Rest holt dann gleich Maria. Du kannst das Tablett, wenn du fertig bist, hier auf den Stuhl stellen, sagte sie und schob das Möbel mit ihrer freien Hand dicht ans Bett. Und wenn ich nachher komme, freue ich mich schon auf neue Kausalitäten und alte Philosophen; das könnte direkt mein Hobby werden." Sprach's, machte mit dem Geschirr in der Hand einen Knicks und verließ das Zimmer. „Komm bald wieder!" rief ihr Benjamin noch nach. „Mal sehen!" kam es bereits aus dem kleinen Flur zurück.

Von den eingemachten Birnen hätte Benjamin glatt die doppelte Portion vertragen, so gut schmeckten sie ihm. Irgendeine besondere Zutat – war es Anisschnaps oder dergleichen? – ließ sie ihm so köstlich munden, dass er nach draußen lauschte, ob nicht jemand käme, und dann trank er auch noch den Saft gleich aus der Kompottschale. Am Ende stellte er das Tablett auf den Stuhl und nahm sich wieder die 'Geschichte der Pharmazie' vor. Doch zum Lesen kam er nicht.

Es war Maria, deren eindrucksvoller Auftritt ihn davon abhielt. Sie stand mit gefalteten Händen in der Tür und bewegte ihre nicht gerade schmalen Hüften so, dass ihr voluminöser Rock samt Schürze nach links und nach rechts um ihre Beine schwang. „Darf man hereinkommen", fragte sie, „hat es geschmeckt?" – „Aber gern", antwortete Benjamin, „immer hereinspaziert, und geschmeckt hat es prima."

Maria zog den Stuhl samt Aufbau etwas vom Bett weg, und nahm das Tablett, sich setzend, auf ihren Schoß. „Jetzt muss ich mir unseren Gast doch ein bisschen genauer und in Ruhe anschauen", sagte sie, „so was sieht man ja hier bei uns nicht alle Tage." Benjamin grinste etwas verlegen, weil sie ihn so intensiv betrachtete, und legte das Buch aus der Hand. „Und, zu welchem Resultat führt die Musterung dann am Ende?" wollte er wissen. „Na also in so was hätte ich mich früher auch verliebt", war Marias Kommentar, „gab es aber leider nicht." Sie seufzte aus tiefem Bedauern und ordnete die Geschirr- und Besteckteile vor sich wie bei einem Legespiel. „Und da war niemand, der Ihnen damals gefallen konnte?" erkundigte sich Benjamin, froh, dass die Prüfung seines Aussehens beendet war. „Sie müssen nicht 'Ihnen' sagen", antwortete Maria lächelnd, „das tut niemand hier, und ich bin es auch gar nicht gewöhnt. – Einen gab es schon, für den haben alle geschwärmt, aber der schien von den Mädchen in Mondora nichts wissen zu wollen." Benjamin kam zwar sofort ein Gedanke, eine Vermutung in den Sinn, aber so direkt und plump wollte er danach nicht fragen. Deshalb sagte er zunächst: „Dann möchte ich aber auch, dass du Benjamin zu mir sagst. Soweit kommt es noch, dass du mich ‚siezt', und ich soll dich mit ‚du' anreden. So was mag ich nicht, also sagen wir beide du zueinander". Er reichte Maria die Hand, und sie schlug ohne Zögern ein. „Und jetzt musst du mir aber auch verraten, was für ein Typ das damals war". – „Ach, na ja – es war schon der Schäfer, war schon Serge, der in jungen Jahren wie ein David ausgesehen hat. Den Bart hat er sich erst viel später wachsen lassen. So ein richtiger Athlet - krauses dunkles Haar, braungebrannt und immer freundlich. Wenn der dann mit seinem Esel hier herauf nach Mondora kam, um den Käse beim Händler abzuliefern, blieben wir Mädchen schon mal stehen, um ihm nach- oder entgegen zu schauen." – „Und, wie reagierte er da?" – „Mehr so wie ein junger Priester, freundlich aber unnahbar. Der war halt zu der Zeit schon in seine Bücher verliebt, oder so was. Aber durch die Rippen schwitzen konnte er seine Männlichkeit doch auch nicht. - Was weiß man denn?!"

Maria schien das Thema etwas unangenehm zu sein, deshalb beließ es auch Benjamin dabei und fragte stattdessen: „Was war eigentlich in dem Birnenkompott, das hat ja einmalig geschmeckt, ist das Anis?" – „Hmhm", machte sie mit Kopfschütteln, „ganz daneben. Das ist Zimt mit einer winzigen Prise gemahlenem, wilden Kümmel. Freut mich, wenn du's gemocht hast. Ein kleines Gläschen Schnaps gehört auch noch dazu. Aber das bleibt erst mal unser Geheimnis, was für ein Schnaps das ist. Wir Frauen dürfen nicht immer gleich alles verraten. Ein bisschen Neugier soll bei euch Männern ja schon noch bleiben." Sie lachte und sah Benjamin wieder prüfend an. Da er in ihr Gelächter mit einstimmte, schien auch dieses Examen bestanden zu sein. Dann erhob sie sich. „Jetzt muss ich aber machen, dass ich in meine Küche komme", sagte sie, nahm ihr Tablett, stellte es aber erst noch einmal auf den Frisiertisch. „Hier habe ich was", war ihr eingefallen, und dabei holte sie eine kleine silberne Glocke aus der Schürzentasche. „Wenn's dir mal an irgendwas fehlt, brauchst du nur zu läuten. Ich hör das schon, spätestens beim dritten Mal. Vielleicht hört's aber auch Carla, und da bin ich mir fast sicher, das wäre dir noch lieber." Maria stellte das Glöckchen auf die Matratze neben Benjamins Kopfkissen-Stapel, nahm ihr Tablett und ging zur Tür, wo sie sich noch einmal umdrehte und sagte: „Sei lieb zu unserer Carla. Sie ist der allerbeste Mensch, den ich kenne." Und damit ging sie endgültig aus dem Zimmer.

‚Und du bist der allerbeste Hausgeist, der mir je begegnet ist', dachte Benjamin. Bezeichnend für ihn war auch der Entschluss, den er jetzt fasste, sich einfach 'pudelwohl' zu fühlen, obwohl sein Bein unter dem Gips schon seit dem frühen Morgen angefangen hatte, grässlich zu jucken. ‚Unangenehme Tatsachen muss man ignorieren lernen' war einer seiner Leitsätze, den er sich im Stillen sagte. Was blieb ihm auch anderes übrig – kratzen ging ja nicht. Folglich griff er wieder zu seinem Buch, um das Spannungsfeld der Pharmazie im mediterranen Raum gegen sein Jucken einzusetzen. Doch auch diesmal gelang es ihm nicht, mehr als zwei, drei Absätze zu lesen, und dann ist er eingeschlafen – immer noch das beste Gegenmittel, um Plagen aller Art zu vergessen.

Erst als Carla schon neben seinem Bett stand und versuchte, das Buch, das in seinen Händen auf die Bettdecke gesunken war, vorsichtig fort zu nehmen, wachte Benjamin wieder auf. „Da hast du aber mordsmäßig spannende Lektüre", sagte sie, als sie entdeckte, dass er sie ansah. „Das hat dir doch sicher ein ganz fanatischer Apotheker gebracht. Typisch mein Herr Vater! Also, wenn du Bücher haben willst, musst du es mir sagen, ich habe oben wenigstens zwanzig andere, die dem Gemütszustand eines Patienten angemessen sind." – „Und was wäre deiner Meinung nach meinem Gemütszustand angemessen?" – „Na, zum Beispiel ‚Werthers Leiden' oder ‚Das Neue Testament'."

Benjamin lachte und erklärte, dass seine Interessen zurzeit keineswegs zu Leiden oder Testamenten tendierten, sondern vielmehr zu herzhaft Erbaulichem á la ‚Schloss Gripsholm' oder ‚Don Camillo und Peppone'. Und außerdem habe er sowohl ‚Werthers Leiden', als auch das ‚Neue Testament' schon mehrfach gelesen. „Mehrfach?" staunte Carla und erkundigte sich etwas umständlich und mit erkennbarem Vorbehalt, ob er denn letzten Endes doch so eine Art frommer Mann wäre. Nachdem er ihr aber versicherte, er sei zwar fromm, aber nur in ihren Händen und insbesondere als Patient, lachte auch sie, setzte sich auf den Stuhl und nahm seinen Kopf mit beiden Händen. „Schön fromm bleiben!" sagte sie und führte ihre gespitzten Lippen, mehr in Andeutung eines Kusses, den seinen zu. Danach setzte sie sich wieder auf, sah ihn eine Weile an und fragte: „Hat denn eigentlich Philosophie auch etwas mit Religion zu tun, oder umgekehrt – Religion mit Philosophie?" Jetzt war es an Benjamin, nach den richtigen Worten zu suchen, und nach längerem Überlegen sagte er: „Philosophie heißt ja wörtlich aus dem Griechischen übersetzt ‚Weisheitsliebe'. Und Weisheit findet man bei jemandem, der bemüht ist, die Wahrheit zu erkennen. Da stellt sich also die Frage, was ist eine unumstößliche Wahrheit?" – „Vielleicht", dachte Carla laut nach, „die Tatsache, dass jeder Mensch einmal sterben muss?" – „Genau, vollkommen richtig! Jedes Leben hier auf unserer Erde ist der kosmischen Gesetzmäßigkeit des Werdens und Vergehens unterworfen. Und weil sich die Menschen kraft ihrer Erkenntnisfähigkeit nie damit abfinden konnten, dass auch ihr Leben vergänglich ist, dachten sie immer schon darüber nach, was mit ihnen nach dem Tod geschehen würde. Sie brauchten irgend so eine Verheißung, ihr Dasein – an dem sie ja hingen – nicht beenden zu müssen." – „Und deshalb haben sie sich die Religion ausgedacht?" – „Nicht nur deshalb, aber im Grunde hast du recht. Denn darüber hinaus hatte Religion auch immer einen Ordnungscharakter. Sie gab den Gemeinschaften Richtlinien und Gesetze. Denn nur, wer es sich im Sinne dieser Gesetze durch 'Rechtschaffenheit' hier auf Erden verdient hatte, dem wurde versprochen, dass seine Seele in den Himmel käme, um es mal so einfach auszudrücken. Religion hat also auch sehr viel mit Moral, mit dem was gut und der Gesellschaft dienlich ist, zu tun. Und genau in dem Punkt berühren sich Religion und Philosophie."

Carla stand unvermittelt auf und sagte: „Ich hole uns jetzt erst mal was zu trinken. Wenn man soviel redet, wie ich meine, dass wir jetzt reden müssen, bekommt man ja einen ganz trockenen Hals. Da habe ich sowieso was vergessen. Und du musst dir merken, wo wir stehen geblieben sind. Schwester Carla braucht dringend Informationen zum Thema 'Seele', die du gerade erwähnt hast. Darüber habe ich nämlich auch schon oft nachgedacht. Sie scheint ja so das Einzige zu sein, was vom Menschen nach seinem Tod übrig bleibt. Überleg dir mal, Herr Doktor, was dir dazu einfällt." Und damit ging sie aus dem Zimmer.

Benjamin atmete tief durch, schloss die Augen und legte sich zurück in seine Kissen. ‚Da hat man sein Leben lang immer in Abrede gestellt', überlegte er, dass Religion primär etwas mit Liebe zu tun hat, und schon ist man eines besseren belehrt. Was einem doch alles passieren kann, wenn unsereins von Schmetterlingen geküsst wird.' – Weiter wollte er sich aber nicht mit diesem Thema, sondern – wie ihm aufgetragen – mit der Seelenfrage auseinandersetzen. Und da gab es genug zu überlegen – allein schon, dass er tunlichst vermeiden musste, religiöse Überzeugungen, die mit Sicherheit auch Carlas Gedankenwelt bestimmten, zu verletzen. Nein, wehtun wollte er seiner Schwester Carla auf gar keinen Fall. Aber was sagen? Alles der momentanen Eingebung oder bestenfalls Carlas Fragen überlassen? Musste er denn nicht zu seinen eigenen Anschauungen stehen? Ja, aber immer eingedenk der Tatsache, wo er sich hier befand, und wie fein die Fäden noch waren, die ihn mit Carla verbanden. Weiter kam er, in den für ihn so typischen Erwägungen, aber nicht. Von draußen hörte er ein Geräusch sich nähern, das ihm bislang noch unbekannt war. Carla erschien in der offenen Tür und schob einen Teewagen vor sich her.

„So, und der bleibt jetzt hier neben deinem Bett", sagte sie, „du brauchst doch etwas zum Ablegen. Schau, was ich uns mitgebracht habe!" – Auf dem Teewagen befanden sich eine große Wasserkaraffe, zwei Gläser, eine Schale mit Weintrauben, und – drei Bände Tucholsky, einer davon ‚Schloss Gripsholm'. „Was sagst du nun?" fragte Carla und stellte das Glöckchen auch noch auf den Wagen. „Ich bin überwältigt", konnte Benjamin nur bekennen. Er nahm die Bücher, schaute sie sich an und strahlte. „Der reinste Zauber – wie bist du nur an die gekommen?" – „Ganz einfach, Schwester Carla kann nämlich auch lesen", war ihre lapidare Antwort. Sie goss Wasser in die beiden Gläser und bemerkte nur noch in gleicher Weise: „Auf das ‚Neue Testament' habe ich dann eben verzichtet. Weil wir ja sowieso schon bei der Seele waren, und weil du ja sowieso schon alles weißt." Sie setzte sich, wie in Erwartung der umgehenden Fortsetzung seiner Ausführungen und legte die Hände in den Schoß.

„Ich will mal so sagen", begann Benjamin nach kurzem Überlegen, „die Seele eines Menschen ist, so wie ich es sehe, die Summe seiner Wesensmerkmale, seiner geistigen und emotionalen Eigenschaften. Diese wiederum werden geprägt von seinem Intellekt – also von seinen individuellen Erfahrungen – und von den Erbfaktoren, die ihm von seinen Vorfahren mitgegeben wurden. Alles zusammen macht seine Intelligenz, sein Denken und Reden, aber auch seine Fähigkeit zu fühlen und mitzufühlen aus. Deshalb ist nach meiner Überzeugung die Seele eines Menschen nichts anderes als sein Wesen, so wie es in seiner Außenwirkung auch von anderen wahrgenommen werden kann."

Carla nickte zwei, dreimal mit dem Kopf, ohne Benjamin dabei anzusehen, ehe sie sagte: „Ja, aber es heißt doch, die Seele wurde dem Menschen von Gott verliehen und kehrt, wenn er gestorben ist, zu Gott zurück? Demnach müsste sie doch eigentlich – wie soll ich es ausdrücken? – noch eine andere Qualität – ja, das ist vielleicht das richtige Wort – eine ganz andere Qualität haben, als nur die Summe seines Wesens zu sein."

Da saß er nun, der arme Herr Doktor, und war genau bei dem Punkt gelandet, den er tunlichst vermeiden wollte. In der von ihm schon bekannten Manier kämmte er mit den Fingern einer Hand durch seine Haarfülle und verharrte mit der Hand im Nacken, um nachzudenken. „Kleiner Umweg gefällig?" meinte er endlich, „weil das gar nicht so leicht ist, mit wenigen Worten beschrieben zu werden." Carla nickte erneut. „Also", fuhr er fort, „da müssen wir uns schon sehr, sehr weit zurück an die Anfänge menschlicher Gesellschaftsbildung, noch zu den frühesten Horden begeben. Rangstreitigkeiten innerhalb der Horde, zunehmender Erfindungsreichtum bei der Nahrungsbeschaffung, die sich allmählich auch zur Jagd hin entwickelte, Kampf mit benachbarten Horden wegen Gebiets-Rivalitäten und schließlich der Umgang mit dem Feuer – all das führte im Laufe einer langen Entwicklungsphase zu dem, was man die Anfänge der menschlichen Intelligenz nennen kann. Das menschliche Gehirn begann durch permanente Anforderungen seine Fähigkeiten auszuprägen.

Das Ich rückte allmählich ins Zentrum des menschlichen Denkens – noch nicht als Begriff, immerhin aber schon als Empfindung der eigenen Individualität. Man nennt das inzwischen ‚Selbstbewusstsein' – die Eigenbetrachtung seiner selbst und der Rolle, die man als Einzelwesen in der Horde zu spielen hat. Die Erfahrung aus dem Umgang miteinander lehrte, dass auch die anderen Individualitäten waren, und dass man mit deren Reaktionen rechnen musste. Hau ich ihm auf die Nase, haut er mir auf die Nase. Der Mensch lernte, sein Gegenüber zu objektivieren – das heißt, als handelnde Person einzuschätzen. Und dieses Muster übertrug er auch auf andere Erscheinungen seiner Umwelt. Zunächst auf Bäume, Steine, Tiere und so weiter, dann auf Naturerscheinungen wie die Sonne, das Feuer, den Regen und was es so alles gibt. All dem billigte er dasselbe zu, was er bei sich kennen gelernt hat – Individualität, also Denken, Wollen und Handeln. Und damit sind wir bei der ersten menschlichen Großtat seines Denkvermögens – bei der Keimzelle der Abstrahierung: Der Mensch fasste die Fähigkeiten Denken, Wollen und Handeln im Begriff 'Geist' zusammen. Die Welt füllte sich mit Geistern, und man versuchte mit ihnen zu kommunizieren, sie zu beeinflussen, gnädig zu stimmen, zum Beispiel durch Geschenke, durch Opfergaben. Womit wir schon mittendrin im Werden der menschlichen Religiosität sind."

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